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Leuchttürme des Denkens

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SOKRATES UND DER TODESBEWEIS

 

Ganz am Anfang war Sokrates. Natürlich, es hatte schon vor ihm den einen oder anderen gegeben, der sich Philosoph genannt hatte, Liebhaber der sophia, der Weisheit; aber wenig war von diesen Früheren überliefert, seltsame, beinahe unverständliche Bruchstücke. Sokrates aber war die Hebamme der philosophia im eigentlichen Sinne, er selbst hat seine Lehre so bezeichnet: Maieutik, Hebammenkunst, und das war durchaus wörtlich zu nehmen (seine Mutter war Hebamme gewesen, er wusste immer genau und sachkundig, wovon er sprach). Denn lange bevor die Pythia in Delphi es in alle Welt hinausgeposaunt hatte, wusste er selbst, dass er der weiseste aller Menschen war: Weil er eines mit Sicherheit wusste, nämlich, dass er nicht wusste, mehr noch: niemals etwas mit Sicherheit würde wissen können – weil er ein Mensch war (nicht im Sinne des alles rechtfertigenden modernen I’m only human! jedoch). Aber er hörte nie auf zu fragen und weiterzufragen. Er fragte den Leuten Löchern in den Bauch, nahm das, was zum Vorschein kam, wendete es einige Mal und füllte dann ihre Köpfe damit (wo meist ziemlich viel Platz war); und es ist ein Wunder, dass die Athener ihn nicht schon lange vorher zum Schweigen brachten, einfach, damit endlich Ruhe war auf dem Marktplatz! Selbst wenn die Dialoge, die sein etwas übereifriger Schüler Platon überlieferte, nicht ganz der historischen Wahrheit entsprechen, sondern ein in Inhalt und Form sehr freies Referat dessen waren, was tatsächlich Tag für Tag auf dem Athener Marktplatz stattfand, oder neulich beim Symposion der schönen Diotima, so zeigen sie doch den Hebammen-Meister in Hochform: Das Gespräch startet harmlos, bei irgendeiner beliebigen Kleinigkeit, die man so dahinsagt, wenn man sich auf der Straße trifft oder beim Symposion zu viel von den sehr kleinen, aber dafür umso häufiger gefüllten Bechern Weines getrunken hat: Also, ich meine ja, Sokrates, die Liebe ist – naja, eine Himmelsmacht, oder so ähnlich, wer hat das noch mal gesagt? Und mit einem Ruck wacht Sokrates auf – er hatte auch schon einige Becher intus –, zieht sich an seinem langen Bart, kraust die Philosophenstirn und sagt verdächtig freundlich: Ach so, das meinst du, die Liebe sei eine Himmelsmacht, habe ich dich da richtig verstanden? Aber was meinst du eigentlich genau mit ‚Himmel‘, wenn ich fragen darf? Der jugendliche Sprecher gerät ins Stottern, der Gedanke will nicht recht heraus, es kreist im Bauch und im Kopf, aber die eifrige Hebamme hat schon ausgeholt: Du meinst vielleicht mit Himmel – die Götter, den großen Zeus und seine Ehefrau, die liebreizende, wenn auch manchmal meiner Gattin Xanthippe etwas ähnliche Juno? Äh ja, wahrscheinlich, murmelt der junge Mann, aber Sokrates kommt jetzt erst richtig in Fahrt, und es macht auch gar nichts, dass der überforderte Gesprächspartner von nun an auf Sätze wie „Ja, das hört sich richtig an“ oder „Ich denke, darauf können wir uns einigen“ oder „Keine Ahnung, aber wenn du es sagst, wird es wohl richtig sein, es erscheint mir auf einmal auch ganz einleuchtend“ eingeschränkt wird. Denn hier hat die philosophia ihr sehr ernsthaftes Geschäft begonnen, das darin besteht, einen konkreten Einzelnen, hier und jetzt, von der Ebene des unsicheren Meinens zu einem bessern Wissen hinzuführen; indem man sich nämlich über die Wörter verständigt und ihren genauen Sinn, und wie sie zusammenhängen mit der Welt und unserer Erfahrung in ihr, und wie man beides, Wörter und Welt, gemeinsam im schrittweisen Zurückgehen auf den Grund unserer Urteile zu einem temporär gültigen Gebilde namens ‚Wissen‘ zusammenfügen kann – ohne zu vergessen dabei, dass man genau und für immer natürlich nicht wissen kann. Aber man kann zusammen, in gemeinsamer Anstrengung, eine kleine Wahrheit zur Welt bringen; noch etwas erschöpft von der schweren Geburt, ein wenig nach Wein riechend, aber beseelt von der großen Weisheit des Sokrates und der Jugend und vielleicht sogar Schönheit des Schülers blinzelt sie ihre Eltern an: Liebt mich, pflegt mich! Ich bin ein Keim des Wissens in einer Welt des Meinens! Auf mich könnt ihr bauen!

Es gehört zur besonderen Ironie der philosophia, dass ausgerechnet der Mann, der mehr für die Erziehung der Jugend getan hatte als jemals einer vor ihm oder jemals einer nach ihm in all den kommenden Jahrhunderten, ausgerechnet wegen der Verführung der Jugend zum Atheismus zum Tode verurteilt wurde (aber natürlich war das nur ein Vorwand; er wurde verurteilt, weil er die Jugend zum Denken verführt hatte, und das kann kein Staat dulden, noch nicht einmal eine Demokratie). Und Sokrates, so überliefern es seine Anhänger jedenfalls, nahm das Urteil an, obwohl er selbst seine lebenslange Speisung durch die Stadt Athen für gerechter gehalten hätte. Und er schickte seine weinende Frau und die Kinder nach Hause, er schlug die Fluchtpläne seiner Schüler in den Wind, und dann trank er wahrscheinlich noch einige kleine Becher Wein, bevor er den Schierlingsbecher leerte. Denn die philosophia ist die wahre Himmelsmacht und die einzige Göttin, und wer nur von ihr redet, aber ihr in seinem Handeln nicht folgen kann bis in den Tod, der hat sie nicht verstanden. Sokrates‘ Tod war kein Opfer, es war sein letzter und stärkster Beweis, und er führte ihn bis zum Grunde durch.


ROUSSEAU, DER PARADOXENMACHER

Sie nannten ihn Paradoxenmacher. Das war natürlich abwertend gemeint, es bedeutete: Dieser wirre Kopf versteht noch nicht mal sich selbst; all seine kruden Theorien, über den edlen Wilden, über die Rückkehr zur Natur, über das Eigentum als Quelle allen Übels im Zusammenleben der Menschen, das ist doch nur in der Einsamkeit – und was ist schon jemals gutes aus der Einsamkeit gekommen, nur der Böse ist einsam! – zusammengesponnenes Zeug, um sich wichtig zu machen, um sich an seinen ehemaligen Pariser Freunden zu rächen, um die Frauen zu beeindrucken, um die Philosophen zu kränken. Sprang sie einem nicht geradezu in die Augen, diese fatale Paradoxenmacherei, in seinem Leben: Predigt das völlig weltferne Ideal einer sog. ‚natürlichen Erziehung‘ und gibt seine Kinder ins Findelhaus, eines nach dem anderen, und rechtfertigt sich dafür sogar noch! Predigt die vollkommene Liebe, die reine platonische Seelenfreundschaft, unabhängig von gesellschaftlichem Stand und Konvention und Sitte – und unterhält ein Verhältnis mit einer Wäscherin, wenn er sich nicht gerade von einer seiner adligen Gönnerinnen aushalten lässt! Und preist er nicht am Ende, in seinen skandalösen Memoiren, die er sehr zu Recht „Bekenntnisse“ nennt, denn sie bekennen alle möglichen Missetaten, Diebstahl, Lüge, abwegige sexuelle Phantasien, Betrug – preist er nicht, ausgerechnet, seine absolute Redlichkeit: Er, Rousseau, werde in diesem Buch etwas vorlegen, was die Welt noch nie gesehen habe; er werde einen Menschen zeigen in seiner ganzen Wahrheit, so wie die Natur ihn geschaffen habe, er werde nichts verschweigen, nichts verschönern, nicht auslassen – und dieser Mensch werde er selbst sein. Und niemand, der seine eigenen Taten und Worte, seine verdeckten und seine öffentlichen, mit der gleichen Wahrhaftigkeit prüfen würde, wie er, Rousseau, werde es dann noch im Angesicht Gottes wagen zu sagen: Ich war besser als dieser Mensch!

Nun, das war alles tatsächlich reichlich paradox; aber vielleicht ist ja die Wahrheit, zumindest die menschliche, wenn man ihr einmal unter den Schleier schaut, genau so: schockierend und erhebend, beschämend und großartig, mal dies, mal jenes, und noch viel häufiger beides zusammen und durcheinander? Rousseau hätte sich ja auch durchaus verteidigen können, er hätte an unser allzu menschliches Mitleid appellieren und sich selbst als missbrauchte, verlorene Seele darstellen können. Er war krank, von Jugend an; er litt an einer Missbildung der Harndrüse, und die Not und die Peinlichkeit, die damit verbunden waren, waren nicht eingebildet, sondern sehr real. Seine Mutter starb bei seiner Geburt. Sein Vater, ein gebildeter Uhrmacher, kümmerte sich zwar vorbildlich um ihn und machte ihn zu einem begeisterten und unermüdlichen Leser, er musste jedoch eines Ehrenhändels wegen aus Genf fliehen und ließ seinen Sohn bei einem Pfarrer in der Obhut. Der junge Rousseau wurde geschlagen und misshandelt, wahrscheinlich seelisch und körperlich und wiederholt. Er wurde herumgereicht, nirgends ging es ihm besser, bis er schließlich das tat, was er sein ganzes Leben lang immer wieder tun wird: Er ergreift die Flucht. Er durchlebt Abenteuer, aus denen man einen eigenen Roman machen könnte, er fällt auf Betrüger herein und wird selbst einer, er konvertiert zum Katholizismus (und später wieder zurück), er wird Bestandteil einer seltsamen ménage à trois bei einer Adligen, die er als „maman“ verehrt, und die Seltsamkeiten hören und hören nicht auf. Trotz alledem findet er Zeit, an seiner Bildung zu arbeiten: Er ist musikalisch begabt und erfindet ein neues Notensystem; und er bewirbt sich mehr oder weniger zufällig bei einer Preisaufgabe der berühmten Akademie in Dijon und wird mit einem Schlag berühmt, in ganz Europa. „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaft und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu verbessern?“, hatte die ehrwürdige Akademie gefragt – und dabei wahrscheinlich auf Antworten gerechnet, die das enthusiastisch bejahen würden: Schließlich hatte man endlich, endlich die Antike mit ihrer ganzen lästigen Vorbildlichkeit überwunden, man war modern, man hatte ganz neue Wissenschaften und ganz neue Künste entdeckt – und war nicht die Aufklärung auf dem besten Wege, die Moral neu zu begründen, ganz ohne die Rückendeckung der Kirche, und ihr Licht bis in die letzten Winkel zu verbreiten, auf dass noch der letzte kleine Uhr- oder Schuhmacher von ihr erleuchtet und fortan moralisch und glückselig in gleichem Maße werden würde? Aber das, so antwortete Rousseau, stimmte doch gar nicht, oh wie sehr es nicht stimmte! Nein, frei war der Mensch nur so, wie ihn die Natur geschaffen hatte, als freien Wilden, der allein seiner Selbstliebe folgte – und das war ganz recht so, denn ohne Selbstliebe würde niemand überleben, ob Tier oder Mensch. Das war jenseits von Gut und Böse, es war mehr als Gute und Böse, es war die Wahrheit der Natur. Aber sobald die Menschen damit begannen, sich zu Gemeinschaften zusammenzuschließen – was irgendwann nicht mehr zu vermeiden war, die kulturelle Evolution hatte einfach zu große Vorteile im ewigen Überlebenskampf –, entsprangen die eigentlichen apokalyptischen Reiter der Zivilisation: Vergleich und daraus resultierender Neid; Eigentum und daraus resultierende Ungleichheit. An die Stelle der natürlichen Selbstliebe trat ihre degenerierte Zwillingsschwester, die Eigenliebe, und von da an ging es bergab mit den Menschen, so sehr sie auch meinten, sich in einem immerwährenden Aufstieg zu befinden.

Immerhin, der Gedanke war neu und originell, und die Akademie hatte genug Größe, dafür einen Preis zu geben. Vielleicht wäre es aber besser gewesen, wenn Rousseau ihn nicht bekommen hätte, auch wenn das wieder einmal paradox klingt; denn die Berühmtheit bekam ihm nicht. Sofort begann er sich zu streiten, mit den etablierten Philosophen, den großen Pariser Enzyklopädisten, seinen ehemaligen besten Freunden – das Theater sei eine moralische Anstalt? Oh nein, das Gegenteil sei der Fall, unsittlich sei es und gefährlich. Natürlich hatte er selbst kurz zuvor sogar eine Oper geschrieben, sie war ein Erfolg, und es war ein Paradox mehr. Weiterhin gab er seine Kinder, trotz seiner wirtschaftlich deutlich gebesserten Situation, ins Findelhaus; in seinem Erziehungsroman Emile aber imaginierte er einen Erzieher, der geradezu symbiotisch mit seinem Zögling verschmilzt und alles tut, um ihn vor den verderblichen Wirkungen der Zivilisation zu beschützen. ‚Negative Erziehung‘ nannte er das, und meinte: Man solle der Natur möglichst wenig im Weg stehen, auch bei der Erziehung nicht. Die Zeitgenossen spöttelten bereits über seinen vermeintlichen Kampfruf ‚Zurück zur Natur!‘, der bis heute wie ein schlechtsitzendes Etikett an ihm kleben geblieben ist: Nein, Rousseau meinte nicht, der Mensch sollte, wie ihm Voltaire vorwarf, zurück in die Wälder gehen und auf allen Vieren kriechen und sich von Eicheln ernähren, wie die Schweine. Aber er sollte wenigstens versuchen, sich möglichst weitgehend von den schädlichen Einflüssen der Gesellschaft, ihren Künsten der Verstellung und des schönen Scheins, ihrem Prahl- und Imponiergehabe fernzuhalten, es korrumpiere nicht nur die Sitten, sondern letztlich auch den Staat. Denn dieser gründe, so beschrieb es Rousseau nun in seinem contrat social, der später für die Französische Revolution mit verantwortlich gemacht wurde, auf dem gemeinsamen Willen aller, die sich zu einem Vertrag zusammengeschlossen hätte und freiwillig ihre natürlichen Rechte einschränkten, um sie so zu stärken: Alle Macht solle künftighin vom Volk ausgehen – aber von einem Volk vernünftiger und aufgeklärter Individuen, die selbstbewusst ihren natürlichen Rechten entsagten, ohne sie jemals ganz zu vergessen, und dafür Pflichten auf sich nahmen. Das war ausnahmsweise nicht besonders paradox, aber dafür leider, wie schon bald die historische Erfahrung zeigte, vollständig unrealistisch, von geradezu platonisch inspirierter Naivität; und vielleicht war es das gerade deshalb, weil es einmal nicht paradox war.

Rousseau aber blieb sich treu und ging zurück in die Wälder. Nach einer Odyssee durch die Güter des französischen Hochadels und einer panischen Flucht nach dem Verbot des Gesellschaftsvertrags durch die Zensur, die ihn sogar nach England führte, fand er zwischendurch für kurze Zeit seinen Frieden auf einer Insel im Bieler See. Er kleidete sich als Armenier, in einem langen schlafrockartigen Gewand, das durch eine imposante Pelzmütze gekrönt wurde, streifte durch die Wälder, botanisierte und klöppelte; bis sie (das Volk, das unzivilisierte) kamen und Steine nach ihm warfen jedenfalls. Danach war die Ausweisung nur noch eine Frage der Zeit. Rousseau schrieb weiter, und jetzt schrieb er nicht mehr über Philosophie oder Politik oder Musik, er schrieb seine Autobiographie, die lang erwarteten Bekenntnisse, in denen es heißt: Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die leben. Ich bin der erste Mensch, der seine ganze Natur zeigt, der den Schleier hebt und zeigt, wie unter dem von der Gesellschaft und von der Erziehung, von den Eltern und von den Erziehern, von den Autoritäten und den Freunden verformten Maske, der natürliche Mensch aussieht, der kein edler Wilder mehr ist, oh nein! Eines jedoch ist mir geblieben, und ich halte es heilig: Es ist die Wahrheit. Vitam impondere vero – ich habe mein Leben der Wahrheit geweiht, es ist meine eigene Wahrheit, und keiner kann sie mir nehmen. Und ist sie nicht das Einzige, was wir bewahren können, in dieser Welt der Täuschung und des Betrugs, in der wir von anderen genauso verraten werden wie von unserer eigenen fatalen Eigenliebe? Kann man also nicht der wahrste Mensch sein, und gleichzeitig der verworfenste – und damit eben nicht mehr der verworfenste, weil der allerverworfenste doch derjenige wäre, der noch nicht einmal seine eigene Verworfenheit anerkennte und offenlegte? Sind meine Paradoxien als schwacher Mensch nicht aufschlussreicher, wichtiger und belehrender als die große Philosophie mit ihrer künstlich erzwungenen Eindeutigkeit und ihrem logischen Hochmut?

Rousseau, der Paradoxenmacher, starb im Frieden mit sich und der Welt, nachdem er seine Bekenntnisse abgelegt hatte. Es ist überliefert, dass er vor seinem Tod noch in den Park hineinsah, in zwar künstlich-gebändigte, aber immerhin doch ein wenig Natur gebliebene Natur, und mehr konnte man nicht erwarten im Zeitalter der Zivilisation, und er war es zufrieden. Dass man seine sterblichen Überreste sechszehn Jahre nach seinem Tod, der terreur in Paris stand in der schönsten Blüte, ausgrub und ins Nationalheiligtum, das Panthéon nach Paris, überführte – vielleicht hätte er das Paradox geschätzt, das ihn am Ende zu einem Nachbarn Voltaires werden ließ, der so höhnisch die Nase über seinen Wilden gerümpft hatte. Aber es ist wahrscheinlicher, dass er lieber auf seiner Insel geblieben wäre, wo die Natur das Grab erobern kann und die Schmetterlinge in voller Freiheit über seine unsterbliche Seele flattern. 

 

KANT, ODER: KOPERNIKUS IN KÖNIGSBERG

Natürlich hat die Geschichte eine Witzfigur aus ihm gemacht, wie noch aus jedem wirklich großen Mann. Man sieht ihn förmlich vor sich, den sorgfältig frisierten und etwas geckenhaft gekleideten, auf den Porträts langsam vor sich hin alternden Mann, wie ihn morgens sein Diener weckt, Lampe heißt er, pünktlich um 4.45 Uhr; wie er seinen Tagesplan pünktlich absolviert, jeden Tag genauso, wie er seine Spaziergänge unternimmt, nach denen die Königsberger angeblich ihre Uhr gestellt haben sollen. Zwischendurch aber, wenn er nicht an seinen monumentalen Werken arbeitet, darf er ein wenig Mensch sein: darf Gäste empfangen zu einem ausgiebigen Mittagtisch, plaudern und sie mit Anekdoten unterhalten. Allerdings soll er nie selbst gelacht haben über seine Anekdoten, und das kennzeichnet ihn vielleicht besser als all die anderen Legenden und Mythen, die sich längst verselbständigt haben: Er hatte Pflichten als Gastgeber, die Gäste mussten unterhalten werden, und war das nicht ein Fall für den Kategorischen Imperativ? Wollte man nicht selbst gut unterhalten sein, wenn man seine Freunde aufsuchte und das Mittagessen sich wieder einmal in die Länge zog? Der Erfolg dieses Unternehmens jedoch lag außerhalb dessen, was noch der Moralischste in seinem Pflichteifer leisten konnte; und niemand konnte einen verpflichten, die eigenen Scherze komisch zu finden! Dann aber kehrte man zurück in sein Studierzimmer, während Lampe vielleicht abräumte, und man revolutionierte die Philosophie, so wie damals Nikolaus Kopernikus, ein anderer Ostpreuße, der die Weltsicht seiner Zeitgenossen auf den Kopf gestellt hatte. So wie sich nämlich die Erde um die Sonne drehte, und nicht etwa umgekehrt, so waren es nicht die Dinge, die unser Verstand erkannte; es war vielmehr ganz umgekehrt, der Verstand gab den Dingen ihre Erscheinungsweise, und immer nur spiegelte der Verstand selbst sich in der Welt; die Welt aber war unberührbar, rein, ein Ding an sich, von dem der Mensch nichts wissen konnte. Um das jedoch zu zeigen, musste Kant Königsberg nicht verlassen, und er hat es auch nie getan: Rufe ergingen an ihn, ruhmvolle, an große Universitäten, er lehnte sie ab und blieb mit Lampe in Königsberg. Er wurde zum Mitglied der berühmtesten Akademien ernannt und blieb in Königsberg. Er wurde von der Zensur verfolgt und blieb in Königsberg. Seine Lehre verbreitete sich nach gewissen Anlaufschwierigkeiten geradezu rasend, man war Kantianer oder man war nichts mehr in der Philosophie; er hatte Jünger und Gegner, mit beiden korrespondierte er – und blieb in Königsberg.

Dort jedoch, in Königsberg, baute er immer weiter an seinem Werk, und das ist ein Bild, das er selbst immer wieder benutzt hat: Er errichtete einen architektonisch wohlgegliederten philosophischen Palast, mit endlich gesicherten und soliden Fundamenten, seinen drei Kritiken nämlich. Denn wäre er nicht selbst beinahe, als junger Mensch, den Verführungen eines haltlosen Skeptizismus anheimgefallen, nachdem er David Hume gelesen und verstanden hatte? Hatte der Schotte nicht demonstriert, dass all unsere Erkenntnis auf Wahrnehmung und Beobachtung beruht, und dass man niemals, kategorisch: niemals, auf dieser Basis eine strenge Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, genannt Kausalität, herstellen könne? Denn woher sollte man wissen, ob ein oft beobachteter Wirkungszusammenhang nicht doch nur eine Häufung von Zufällen, eine zeitliche Gleichzeitigkeit war, oder ob die Beobachtung mangelhaft war? Kausalität jedoch war nicht irgendetwas; Kausalität, die eindeutige Beziehung von Ursache und Wirkung, war die Basis der Philosophie seit der Antike, und ohne sie würde der ganze Bau der Metaphysik in sich zusammenbrechen, das Denken hätte keine Gesetze, mehr und Anarchie wäre die Folge.

Das konnte und das durfte nicht sein, fand Kant. Und er machte sich an die Arbeit, indem er ein neues Fundament suchte, es sollte die Zeit überstehen und ein- für allemal zeigen, dass Philosophie als ernsthafte Wissenschaft möglich sei! Und so entwarf Kant seine Kritiken (in denen nicht gemäkelt, sondern Aufbauleistung erbracht wird!). Er arbeitete eine Architektonik aus, indem er einen Stein auf den anderen setzte und jeden auf seine Tragfähigkeit prüfte, und dann noch einmal prüfte, und wenn er nicht tragfähig war, weil er in Antinomien, Paralogien und andere Sackgassen führte, verwarf er ihn und suchte einen neuen. Er erfand dabei eine neue Sprache, es war notwendig, weil er sonst all die alten Missverständnisse mit eingebaut hätte, und sie hätten das Fundament unnötig geschwächt. Der Bau wuchs und wuchs, er war nicht schön, aber wohlgegliedert; er hatte viele Verstrebungen zwischen den einzelnen Teilen, die sich gegenseitig stützten, er war unglaublich kompliziert konstruiert, ganze Generationen von Nachfolgern sollten sich in ihm verlaufen; aber er war, im Großen und Ganzen, folgerichtig, und schließlich hatte keiner behauptet, Philosophie sei etwas, was das Denken leicht machte, im Gegenteil: Aber er machte es durchsichtig.

Aber noch nicht einmal darum ging es ihm in erster Linie, wenn auch ganz bestimmt in zweiter. Denn Kant war nicht nur ein guter Aufklärer, der mit dem sapere aude! – wage zu denken, und zwar selbst und ohne Autoritäten und ohne Risiko-Lebensversicherung – der Aufklärung ihr Motto gegeben hatte. Er war zudem ein religiöser Mensch, wenn auch nicht im kirchlichen Sinne; er glaubte an die Vernünftigkeit der Welt, an ihre zweckmäßige Konstruktion, an einen großen übergeordneten logos, ob er nun Gott oder wie auch immer hieße; und nichts wäre schlimmer für ihn gewesen, als mit dem Beweis, dass wir die Welt niemals an sich selbst erkennen würden, auch Gott abzuschaffen. Aber leider wurden, als er sich der Spitze seines Palastes näherte, einige Tricks nötig, kleine kopernikanische Wenden sozusagen. So führte die Kritik der reinen Vernunft notwendig, über viele Stufen und verschlungene Wege, leider zu der Schlussfolgerung, dass eine spekulative Erkenntnis allein mit Mitteln der reinen Vernunft unmöglich, mithin kategorisch: unmöglich sei. Mit ihr konnte man nicht Gott beweisen, nicht die Unsterblichkeit der Seele, ohne die doch alles Leben in dieser Welt des Scheins und der Täuschung sinnlos war; nicht die Freiheit des menschlichen Willens, das, was den Menschen aus der Masse der Schöpfung hervorhob, ihn einzigartig, der Erlösung würdig machte, weil er ein Bürger zweier Reiche war, nicht nur der unfreien Natur, sondern auch des freien Geistes. Aber leider, leider würde man das alles niemals mittels spekulativer Philosophie beweisen können, und das wenigstens war nun völlig gesichert.

Aber könnte man nicht vielleicht – und jetzt kommt der kleine Salto – könnte, nein, müsste man nicht die Ideen der Vernunft als ‚regulative Prinzipien‘ benützen? Man musste dafür nur ein kleines, unschuldiges ‚als ob‘ einsetzen. Es würde also niemals erweisbar sein, dass Gott die Welt vernünftig erschaffen hatte und den freien Menschen mit seiner unsterblichen Seele in ihr; aber unser Denken tut zwingend so, als ob dies alles der Fall wäre. Denn ohne diese Annahme würde alles Denken keinen Sinn machen. Alle drei Prinzipien waren, wie er es dann in der Kritik der praktischen Vernunft nennen würde, ‚Postulate‘: unbedingte Forderungen, die sich absolut zwingend daraus ergeben, dass es eine intelligible Welt, eine Welt des Geistes, eine Welt der Vernunft, eine Welt der Zwecke gab, die kategorisch und denk-notwendig unterschieden war von der Welt der Natur, der Empirie, der Sinnlichkeit und Täuschung. Denn wenn es sie nicht gab – dann war sowieso alles vergebens, dann würde es keine Philosophie mehr geben und keine Hoffnung. Der Bau der kritischen Vernunft würde zerfallen, wie noch alle Systeme vor ihm. Und als der Palast der Kritiken fertig war, als die Konstruktion stand, war Kant nicht etwa zufrieden, nein, er schrieb vielmehr unermüdlich weiter: Denn nun konnte er daran gehen, die Räume zu beziehen, sie auszustatten mit Inhalten, mit Rechts- und Religionsphilosophie, mit Anthropologie und Geschichtsphilosophie, mit dem, was er in einer eigentlich in ihrer Paradoxie originellen Formel die Metaphysik der Sitten nannte. All das aber hat die Philosophiegeschichte, die ihn schon zu Lebzeiten in ihr Pantheon erhob, nicht so sehr interessiert: Berühmt wird man als Baumeister, nicht als Innenausstatter.

Mit 84 Jahren, gut zwanzig Jahre nach seiner ersten Kritik, starb Kant in Königsberg, wo sonst, wahrscheinlich an Altersschwäche; er war schon seit längerem kränklich gewesen und hatte seine tägliche Routine aufgegeben, auch seine geistigen Fähigkeiten verließen ihn nach und nach. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: Es ist gut so (ein letztes Postulat angesichts der letzten Notwendigkeit: dem Tod). Die Gedenktafel, die die Stadt Königsberg wenig später für ihren berühmtesten Sohn anbrachte, zitiert diejenigen Worte, die auch all die verstehen konnten, die sich in Kants philosophischen Palästen verlaufen hatten oder gleich an der Pforte wieder verschreckt umdrehten: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Sie gehen ein wenig ans Herz, zumindest was den Blick in die Sterne betrifft, während die Berufung auf das moralische Gesetz wohl heute in den meisten allenfalls ein Gefühl der Leere hervorruft; Kant halt. Man versteht Kant aber nur wirklich, wenn man diese beiden Gefühle versteht. Denn beide bezeugen sich bei Kant gegenseitig, das unendliche Universum und das ewige moralische Gesetz, und mit dem einen fällt das andere. Und natürlich kann man Moralität auch ohne Vernunft denken, ohne einen Weltenschöpfer, ohne einen bis heute immer noch nicht recht nachweisbaren freien Willen und ohne die Aussicht auf Unsterblichkeit; aber es ist gefährlicher (und man bleibt damit nicht in Königsberg).


FRIEDRICH NIETZSCHE UND DER EWIGE MITTAG

Unsterblich sollte er werden mit dem Satz, das Gott tot sei. Dabei war das nun wirklich nicht sonderlich neu; längst hatte sich der Glauben aus der Welt sehr vieler Menschen verabschiedet, und die neuen Götter hießen ‚Wissenschaft‘ oder ‚Technik‘ oder ‚Krieg‘ oder, der größte von ihnen allen, ‚Geld‘. Aber das war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass ausgerechnet dieser Satz an ihm hängen blieb: Die meisten seiner anderen Sätze, die wirklich neu und revolutionär waren, waren viel zu schlimm zu denken, und sie hätten noch viel weitreichendere Konsequenzen gehabt, wenn man sie ernst genommen hätte. Denn hatte Nietzsche nicht auch die Moral für tot erklärt, die religiös unverdächtige Schwester der in Verruf geratenen Religionen? „Jenseits von Gute und Böse“ erst finde das eigentliche Leben statt, so hatte er geschrieben; Moral sei für Schwächlinge, sie sei, wie auch das Christentum, Ressentiment – ein schwieriges Wort, so sperrig wie der Gedanke, den es transportiert: Es drückt das unangenehm-peinlich Gefühl von Zu-Kurz-Gekommenheit aus, dass nun in Rache an den Besserverdienenden, Besserdenkenden, Besserhabenden, Besserkönnenden umschlägt, indem es die eigene Schwäche verherrlicht, die ererbte Unfähigkeit übertüncht, die menschlichen Mängel zu Vorzügen erklärt; und der Heiland der christlichen Religion, der Sohn eines soeben für tot erklärten Vaters, ist nur derjenige, der diese neue Sklavenmoral am erfolgreichsten propagierte. In Zeiten politischer Korrektheit hätte Nietzsche nicht fünf Minuten überlebt, obwohl er wahrscheinlich ein begabter Twitterer gewesen wäre: Die kurze Form war seine Stärke, er schrieb keine gelehrten Abhandlungen oder dicken Bücher, noch nicht mal in seiner Frühzeit als hochbegabter Wunderkind-Altphilologe. Schon damals, als er noch Förderer und Freunde hatte, war er entschieden eigensinnig und unversöhnlich; er verehrte seine großen Vorbilder wie Helden – Schopenhauer gehörte dazu und Richard Wagner – und dann verachtete er sie, zutiefst. Der Ausgleich war seine Sache nicht, sondern das Extrem, die Zuspitzung des Gedankens in der auf tödlichen Hochglanz polierten Form seiner Sätze und Absätze, die keinerlei Rücksicht nahmen, auf niemand, sondern in ihrem erbarmungslosen Glanz ebenso erschreckten wie faszinierten. Nahm er dann Rücksicht auf sich selbst? Nein, er hat seine Freundschaften dem Werk und den riesenhaften Fortschritten seiner Erkenntnis geopfert, wenn sie nicht mehr mithalten konnten oder wollen. Er hat nur einmal um eine starke Frau gefreit, sie hat ihn abgelehnt, und fortan verachtete er die Frauen; schwache Wesen, auch sie. Seine Familie, die ihn später, als er endgültig verrückt geworden war, pflegte und unterstützte – sie war ein Quell des Zornes und der Peinlichkeit. Sogar die Wissenschaft hatte er geopfert, weil sie sich vom Leben verabschiedet hatte; er macht Sokrates dafür verantwortlich und seine fatale Fixierung auf das Wissenwollen, wo es doch nun wirklich Wichtigeres gab: Lebenwollen zum Beispiel; später wird er es ‚Wille zur Macht‘ nennen. Aber bevor er seinen Abschied aus der Wissenschaft nahm, malte er ein ganz neues Bild der griechischen Antike, die er so intensiv studiert hatte wie kaum jemand zuvor: Es war ein zwiespältiges Bild, eine Maske mit zwei Seiten, eine lachenden und einer weinenden; denn zwischen Apollo, dem jugendlichen Gott der Schönheit und des Lichts und des wachen Traumes, und seinem Widersacher Dionysos, dem bocksbeinigen Gott der Ekstase und des Rausches, fand ein ewiger Kampf statt. Und der Mensch war dabei nicht etwa ein unbeteiligter Zuschauer, sondern in ihm selbst tobte dieser Konflikt, mit Apollo wollte er erkennen, wollte er unterscheiden, wollte Individuum sein, unverwechselbar und einzigartig, und ewig leben; und mit Dionysos wollte er alle Unterschiede und sich selbst vergessen, wollte Eins werden in einem großen Rausch und vergehen, immer wieder lustvoll vergehen.
Heute würden all die Hobby-Psychologen wohl sagen, dass Nietzsche an diesem Konflikt zugrunde ging; aber Nietzsche war kein Freund der Psychologen, dieser Alles-Erklärer und -Versteher, obwohl er selbst einer der größten und erbarmungslosesten war. Zwei Dinge hingegen liebte er wirklich und grenzenlos, sie allein schienen seiner immer noch weiter wachsenden Zerstörungskraft gewachsen, mit der er weiter einschlug auf die unterschiedlichen Scheinwelten, in denen sich die Menschheit wohnlich eingerichtet hatte, um dem dionysischen Grauen des Lebens nicht mehr ungeschützt ins Auge sehen zu müssen: Das Hochgebirge, wo er auf endlosen Spaziergängen sein Werk heraufbeschwor; im Gehen, nur so konnte man denken, was bildeten sich all diese Stubenphilosophen eigentlich ein auf ihre künstlichen Konstrukte aus Stubenluft? Und das zweite war das Meer, das endlose, mal spiegelglatte, mal aufgewühlte Meer, der einzige Ort, wo er sich der Unendlichkeit Aug in Auge gegenübersah. Es war der endlose Mittag der Erkenntnis, wo eine glühende Sonne schonungslos alles erhellte, und wo der Philosoph auf die härteste Probe gestellt wurde: Was bleibt im Angesicht der Unendlichkeit des Meers, des Weltraums, der Sterne, was in der unendlichen Wiederholung der Weltzeit, der immerwährenden Wiederkehr des Gleichen? Und Nietzsche kam, nachdem er alles zerstört hatte, woran er sich selbst hätte halten können, auf die verwegenste Lösung von allen: Nur dasjenige Leben sei es wert gelebt zu werden, dass auch noch zu dieser ewigen Wiederholung des Immergleichen in jedem Moment ja, ja, ja! sagen konnte. Es war nun nicht etwa so, dass Nietzsche ein Hedonist war, im Gegenteil: Er hatte lebenslang schwere Krankheiten, physische und psychische, erlitten; er war nicht etwa reich, er lebte nicht im Luxus, der einzige Luxus, den er sich gönnte, waren eben das Hochgebirge und das Meer. An ihnen konnte man wachsen, nicht an dem, was Stubenphilosophen auf akademisch gepolsterten Lehrstühlen absonderten. Und so rang Nietzsche mit dem Leben, so erfand er den Übermenschen: nicht die simple blonde Bestie, die die Nazis aus ihm machten, sondern ein freier Mensch, der tanzen konnte, oh, wie Zarathustra tanzen konnte! Und er machte Gedichte und sang, er lebte mit den freien Tieren in der freien Natur, abseits der Gesellschaft, und er hatte nur ein einziges Ziel: Das Leben zu steigern, immerfort zu steigern, es schöner zu machen und stärker und am Ende so groß, dass er der Wiederholung in der Unendlichkeit ins Auge blicken konnte mit der Gewissheit: Du machst mich nicht klein! Ecce homo, hier siehst du einen Menschen! – so nannte er eines seiner letzten Werke, mit dem er sich endgültig an die Stelle von Christus setzte.

Aber es ist nicht leicht, ein freier Philosoph und Weltenzertrümmerer zu sein, wenn man in dieser Welt der Kleingeister und Moralisten lebt. Man erntet zwar erste Zustimmung hier und da, in Kopenhagen soll sogar einer eine Vorlesung über das Werk halten! Man hat zwar keine Freunde, aber Kontakte, neue, vielversprechende. Es könnte alles noch gut werden, vielleicht ist die Zeit ja doch inzwischen reif für das, was man ihr vor die Füße geworfen hat und was sie mit Füßen getreten hat, anstelle es aufzuheben, mit freiem Geist zu betrachten und nicht nur seine Zerstörungskraft zu sehen, sondern seine befreiende Kraft, seinen Aufruf, das Leben zu steigern, seine ganze neue ‚fröhliche Wissenschaft‘! Aber vielleicht hatte er doch das Universum beleidigt, vielleicht sah irgendwo ein düsterer Schicksalsgott auf ihn hernieder und beschloss, dass es genug sei. Und so begab es sich, dass einer der freiesten und mutigsten Lebensphilosophen aller Zeiten, nachdem er Gott für tot erklärt hatte und den Menschen im Allgemeinen für ein unbedeutendes Insekt in einem abgelegenen Winkel des Universums und allein dasjenige Leben für lebenswert, dass sich selbst feiern und steigern und ewig wiederholen will – es begab sich also, dass dieser Friedrich Nietzsche am 3. Januar 1889 in Turin einem von seinem Herrn geschundenen Kutschpferd weinend um den Hals fiel. Man sagt, dass er danach endgültig wahnsinnig wurde, aber zu vermuten ist, dass er in diesem einen Moment hellsichtig wurde und sein eigenes Leiden als das erkannte, was es war: ein Opfer für eine bis in alle Ewigkeit uneinsichtige und undankbare Menschheit, die lieber auf vermeintlich gefühllose Kreaturen eindrischt, als sich einmal nur am Riemen zu reißen und den Karren selbst aus dem Dreck zu ziehen, in den sie ihn aus Gedankenlosigkeit und Selbstsucht und Schwäche versenkt hat. Vielleicht ist er dionysisch geworden, und sein Wahnsinn war nur die zweite, rauschhafte Hälfte eines Lebens, das sich bis zu diesem Zeitpunkt in außerordentlicher apollinischer Hellsichtigkeit vollzog. Es wäre schön zu denken – aber wahrscheinlich dann doch zu versöhnlich. Lassen wir ihm seine Tragik.


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