Das sei auch alles „nur gedacht“! Das haben sie tatsächlich Lessing vorgeworfen, und danach so ziemlich jedem Dichter, der kein Hehl daraus gemacht hatte, dass er ein intelligenter Mensch war, belesen und gebildet obendrein, vor allem aber: klug. Und dass er nicht nur denken konnte, sondern Dinge so konstruieren, dass sie funktionieren; ein guter Dichter ist in bestimmter Hinsicht auch nur ein begnadeter Ingenieur. Aber dichterische Werke kommen ohne Bedienungsanleitung; was eigentlich bedauerlich ist und zu vielen Missverständnissen, ja sogar zu den gröbsten Fehlbedienungen führen kann; ein Kühlschrank ist nun mal keine Klimaanlage, und mit einem Auto kann man nicht Fahrradfahren. Aber jeder darf mit einem Kunstwerk machen, was er will, und wäre das nicht so, so mancher Künstler hätte nicht in Armut sterben müssen; reich wäre er geworden, über alles Ermessen reich von den Schmerzensgeldern aus böswilligem wie aus fahrlässigem Missverstehen und schuldhafter falscher Verwendung, aber wahrscheinlich auch nicht glücklicher.
Zu klug also, ein Bildungsspiel für die Besserwissenden, Artistik für Gedankenkünstler, Glasperlenspiele: Dieser Vorwurf trifft nicht viele, aber einige der größten, der (wenn man denn daran glaubt): klassischen Autoren und das, was man Hochliteratur nennt. Das sei alles nur gefühlt, diesen Vorwurf hingegen hört man selten (und wenn, dann tatsächlich gegen Trivialliteratur); Gefühle sind offenbar immer gut, wenn es um Literatur geht, große Gefühle am besten, auch verwirrte Gefühle, unterdrückte Gefühle, verbotene Gefühle werden gern genommen – hier sei die Literatur auf ihrem ureigenen Gebiet, ihrer Kernkompetenz, wie man heute sagen würde. Und zum Glück kann man über Gefühle nicht urteilen; sollte man kritisieren, etwas sei schlecht gefühlt, falsch gefühlt, inkonsequent oder übertrieben? Nein, Gefühle haben immer Recht. Gedanken hingegen –
Nur gedacht: Wie so häufig, beruht das Urteil auf einem ihm vorgelagerten Vorurteil, das sicherheitshalber nicht thematisiert wird, nämlich: Denken und Fühlen seien zweierlei, und zwar von Grund auf. Im Gehirn gibt es, sozusagen, zwei Schubladen, das illustrieren ja schon die beiden Hälften, und in der einen liegen lauter kleine Gefühlsschablonen, aus denen dann je nach Situation Liebe aufsteigt oder Hass, Ärger oder Freude, Neid oder Großmut, und manchmal auch eine undefinierbare Mischung aus alldem. In der anderen Schublade aber, sie ist im Übrigen meist deutlich kleiner, liegen schön ordentlich sortiert die Gedanken, große und kleine, weise und dumme, korrekte und unkorrekte. Und der erfolgsbewusste literarische Autor greift vor allem in die Gefühlskiste, wenn er schreibt, die Gedankenkiste aber lässt er besser zu, oder er überlässt sie seinen unkünstlerischen Kollegen, den Philosophen, Essayisten und Alltagsschreibern. Die dürfen klug sein ohne Ende, aber deshalb liebt sie auch niemand: Wer klug ist, wird nicht geliebt. Er könnte ja klüger sein als wir. Wer fühlt, wird immer geliebt: Er ist einer von uns. Wir fühlen gern mit. Im Dunkeln lässt sich gut munkeln, und Literatur ist immer ein wenig Munkelei. Denken hingegen meint jeder für sich allein zu können. Mit-denken: ausgeschlossen!
Nachts jedoch öffnen sich die beiden Schubladen, heimlich, ganz heimlich, wenn das Bewusstsein nicht schaut, dieser Oberschulmeister, oder die allgemeine Meinung, der allgegenwärtige Zensurmeister. Und es begeben sich die unglaublichsten Dinge im Dämmerlicht: Nicht nur paaren sich Gedanken und Gefühle, nein, sie bekommen sogar Kinder! Die traumhaftesten Gestalten sind es, und manchmal erschrecken wir dann vor einer Idee oder erkennen ein Gefühl. Aus Träumen steigen die größten Erkenntnisse auf und die tiefsten Schrecken; es ist Chemie, Alchemie, die die Stoffe mischt, sie alle sind nämlich, wenn man genau schaut, aus den gleichen Bausteinen gemacht, es sind die unseres Universums, und die stärksten Antagonisten entwickeln die größten Anziehungskräfte aufeinander. Hellsichtig, das ist man im Traum, gelegentlich; wacht man jedoch auf, ist alle Klarheit dahin, die Schubladen haben sich wieder fest verschlossen, und wir fühlen uns, bestenfalls, halb; erkennen uns, bestenfalls, verschwommen.
Literatur aber, also: die Form, die wir Dichtung nennen (und auch das ist schon ziemlich schwierig mit den Schubladen, zu viele Texte tanzen in den Zwischenräumen zu ihrer eigenen Musik), könnte man geradezu definieren als diejenige Praxis, die aus Gefühlen Gedanken macht – und umgekehrt natürlich. Sie kann das, weil es die beiden Schubladen sowieso nur im Denken gibt, nicht aber im Kopf selbst; weil ein Gedanke, der ganz nackt ohne ein Begleitgefühl daherkommt, ebenso langweilig ist wie ein Gefühl, das einfach nur verworren, dunkel, ungeklärt ist, vollständig überflüssig. Es lohnt sich nicht, über ‚reine‘ Gedanken zu schreiben, und es lohnt sich nicht, über ‚reine‘ Gefühle zu schreiben – ganz abgesehen davon, ob es so etwas überhaupt gibt und nicht beides nur durch eine Großreinigungsmaschine gejagte Vorstellungsaggregate sind: Einmal poliert sie alles Weiche und Wuschelige weg und beim umgekehrten Waschgang alles Allgemeine und Abstrakte, und schon stehen sie da, jeder für sich, auf Hochglanz gebürstet, Gefühle und Gedanken. Leider neigen sie jetzt zum Inzest, mit den bekannten Folgen; und nur gelegentlich schlüpft ein Maulesel durch und sucht sich anderswo eine grüne Weide.
Wenn jedoch ein Autor sehr viel gelesen und sehr viel darüber nachgedacht hat; wenn er viele schöne Sprachformen betrachtet hat, und das meint tatsächlich: empfunden und gedacht, sie als gesetzlich und frei wahrgenommen; wenn er dazu noch klug ist und ein wenig professioneller Munkeler und ein wenig ingeniöser Ingenieur – dann wird sein Werk, vielleicht, einigen „nur gedacht“ erscheinen. Vielleicht ist gelegentlich zu viel von einer Hilfskonstruktion stehen geblieben, das kann durchaus sein; vielleicht hat er eine Klarheit, die ihn ganz erfüllt hat, nicht genug verdunkelt, damit sie für andere wahrnehmbar wird; vielleicht sind seine Gefühle ein wenig zu durchgeistigt, um noch den dunklen Schlamm durchfühlen zu lassen, aus dem wir alle kommen und in dem wir uns gelegentlich gern suhlen. Häufig hilft dagegen schon ein bizarres Detail, das in den allermeisten Fällen noch nicht einmal ausgedacht ist: Die Realität gibt den letzten Schuss Dunkelheit hinzu, durch ihre bizarre Neigung zum Unsystematischen und Unerwartbaren.
Es wäre denkbar, dass Gott im letzten Moment der Schöpfung, aus reinem Mitgefühl mit seinen begrenzten Geschöpfen, etwas völlig Unsinniges erschaffen hat: Monster, die am Boden der Tiefsee augenlos hausen, Eintagsfliegen, Albino-Pfauen. Die Dichtung hingegen wäre gern eine klare Göttin, die ihre Geschichten spinnt, damit wir verstehen; so, wie Athene dem Haupt ihres Vaters entsprang, glasklar, ohne jegliche Spuren von den Mühen der Geburt, aber auch: kampfbereit, wach, energisch. Venus hingegen ist dem Meer entstiegen und tropft noch ein wenig, die langen Haare sind um den weichen Körper geschlungen, nicht unter einem Medusenhelm versteckt; und wir lieben sie. Athene aber: nur gedacht.
Es gibt Metaphern, die so allgemein sind, dass man sie als eine Art Ur-Bilder der Sprache bezeichnen kann. Häufig gehen sie aus von ganz grundlegenden menschlichen Existenzerfahrungen: Natürlich ist der Verstand ‚kalt‘ und das Herz ‚warm‘, und wer sonnt sich nicht lieber im ‚hellen‘ Licht als in der ‚dunklen‘ Kälte zu frieren? Und da haben wir schon das nächste Paar: Die ‚Aufklärung‘ ernannte sich nicht zufällig zur Verteidigerin des hellen Lichts, als ‚Verdunklung‘ wäre ihr ein vergleichbarer intellektueller Triumph wohl kaum gelungen. Und auch wer von ‚Hochkultur‘ oder ‚Hochliteratur‘ spricht, verbindet damit selbstverständlich eine intuitiv positive Wertung: ‚Hoch‘, oben im hellen Licht, da ist der Himmel, und tief ‚unten‘, im düsteren Dunkel, die Hölle. Es sind Ur-Polaritäten der Empfindung, die in unsere Sprache eingewandert sind, und alle Sprachkritik und -politik hat ihnen nicht den Garaus machen können. Erstaunlich ist es jedoch, im Blick auf die Literatur, dass das Gegenteil der Hochliteratur ja nicht die – Tiefliteratur? Niederliteratur? Bodenliteratur? ist. Zwar haben sich die Verteidiger der Hochliteratur durchaus einige recht wirksame Kampfbegriffe ausgedacht im Verlauf der Zeit: Man sprach von ‚Trivialliteratur‘, ‚Massenliteratur‘, ‚Schundliteratur‘ oder überhaupt von ‚Kitsch‘, und die Trennung in eine E- (für ernsthafte) und U- (für unterhaltende) Literatur ist gegenüber diesen hochtoxischen Begriffswaffen noch die harmloseste Variante. Die Hochliteratur selbst jedoch bleibt von dieser Ausdifferenzierung der Gegner seltsam unberührt: Über allem residiert sie auf den Höhenkämmen des Geistes, der Zeitgeist flattert nur wie ein mildes Lüftchen über sie hinweg, und der Zahn der Zeit kann ihrer ewigen Klassizität nichts anhaben.
Was jedoch ist eigentlich genau Hochliteratur? Interessanterweise erbringt eine Recherche bei Wikipedia für den Begriff ‚Hochliteratur‘ exakt einen Satz, der ziemlich nichtssagend ist: „Unter Höhenkammliteratur, auch Hochliteratur genannt, versteht man die anerkannte, in Schule und Wissenschaft als hochstehend.“ Hingegen gibt es ausführliche Artikel zu Trivial- oder Unterhaltungsliteratur, gute Artikel sogar. Was schlecht ist, ist leicht zu sagen, so zeigt sich einmal mehr, wir alle sind geborene Kritiker; was jedoch gut ist, ja vielleicht sogar: sehr gut, überdurchschnittlich gut, exzellent – da schweigt die Weisheit des Schwarmes wie die der Experten schamhaft. Denn: Um zu antworten, müsste man eine Wertung nicht nur vornehmen, sondern Werte benennen. Eine Skala erfinden. Kategorien benennen. Schulnoten verteilen. Zwar wird gerade in letzter Zeit allenthalben sehr gern über die Wichtigkeit von Werten gepredigt, wenig jedoch wird gesagt, um welche es sich eigentlich im Einzelnen handelt (außer natürlich, im Negativen). Ein ganzes literaturwissenschaftliches Handbuch zum Thema ‚Kanon und Wertung‘ schafft es auf mehreren hundert Seiten nicht, einen einzigen konkreten Wert zu benennen; es geht um die Entstehung von Werten, die Relativität von Werten, um Wertungsverfahren und -institutionen, natürlich auch um die Kritik von Werten – aber welche? Fehlanzeige. ‚Hoch‘ erkennt man offenbar – mit dem Bauch (respektlose Spötter hingegen würden sagen: daran, dass man es nicht versteht. Ist auch was dran).
Das einzige Synonym zu Hochliteratur, das es in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch geschafft hat, ist die ‚Höhenkammliteratur‘, und wie bei so vielen wirklich guten Metaphern weiß man gar nicht so genau, wer sie erfunden hat (wer hat wohl zum ersten Mal „Wolkenkratzer“ gesagt?) – aber als sie da war, war sie plötzlich in aller Munde. Wahrscheinlich war es kein Literaturwissenschaftler, sondern ein Historiker, genauer: ein Begriffshistoriker. Begriffsgeschichte tut genau das, was das Wort sagt, sie erforscht nämlich die Geschichte von Begriffen, vorzugsweise Allgemeinbegriffen – großen Wörtern so-zusagen, man könnte auch sagen: hohen Wörtern. Begriffe sind nämlich auch nur Menschen, und deshalb verändern sie sich, sie haben eine Kindheit in kurzen Hosen und wechseln dann mehrmals die Kleider, bevor sie endlich so alt und abgetragen werden, dass man noch nicht einmal die ursprüngliche Farbe mehr erkennt. Aber gerade bei hohen Wörtern kann man diese Geschichte gut rekonstruieren, indem man schaut, wie sie zu unterschiedlichen Zeiten in schriftlichen Texten gebraucht wurden; und da es hohe Wörter sind, treiben sie sich gern, hohe Wörter sind nämlich auch nur Menschen, in hohen Texten herum. Hochliteratur strotzt von hohen Wörtern (vielleicht könnte man sie daran sogar erkennen?). Weshalb Begriffsgeschichtler sich gern auf dem Höhenkamm bewegen. Aus dem Tal kamen natürlich bald Anwürfe, man möge sich vielleicht doch auch mal in die Untiefen der Alltagssprache oder wenigstens die mittlere Höhe von Gebrauchstexten begeben; was gelegentlich geschah, nicht allzu häufig. Die Höhenkammliteratur jedoch ist seitdem aus dem Wissenschaftsdiskurs nicht mehr wegzudenken, sie ist noch eine Zuspitzung von Hochliteratur: ein schmaler Weg, von einsamem Gipfel zu einsamem Gipfel, und nur ein Schritt daneben kann den Absturz bewirken, in die mittleren Höhen der Unterhaltungs- oder, Schrecken der Schrecken, gar die dumpfen Sümpfe der Trivialliteratur!
Aber wenden wir den Blick vorerst ab von diesem schauerlichen Szenario und schauen ein wenig in die Geschichte der Wertung von Texten. Die Antike, das kann nur schwach verallgemeinernd gesagt werden, hatte keine Trivialliteratur. Oder sie hatte zumindest keinen Begriff davon, was ja nicht immer dasselbe ist. Was sie jedoch hatte, war die Rhetorik, die damals noch eine echte Grundlagenwissenschaft war (wenn ein Staat in öffentlicher Rede regiert wird und nicht in Medienspektakeln, macht das einen Unterschied). Und die Rhetorik hatte eine sehr grundlegende Unterscheidung, nämlich die der drei verschiedenen Stilebenen (das lateinische Wort ist genus, und schon, wenn man das als ‚Stilhöhe‘ und nicht als ‚Stilebene‘ übersetzt, hat man sich den Höhen-Virus eingefangen). Es gab das genus humile oder subtile (humile: niedrig): einfacher Stil, nahe an der Alltagssprache, einfache Argumente, kein Schnick und kein Schnack – für den Alltagsgebrauch, auf dem Markt, mit einfachen Leuten. Darüber kam das genus medium oder mixtum: der mittlere bzw. gemischte Stil, ein wenig hoch, ein wenig tief, geeignet beispielsweise für den wissenschaftlichen Vortrag; und darüber das genus grande oder sublime, den großen oder erhabenen Stil, der tief in die Pathoskiste greift, oder in die enthusiastische Dichtersprache und dadurch den großen Effekt durch Affekt erzeugt (in Dichtung oder Politik, also da, wo am meisten mit Emotionen gearbeitet und professionell manipuliert wird). Natürlich hat das jetzt schon eine ganze Menge Höhenschichtung, aber was man sich vor Augen halten muss, ist: Der subtile, einfache Stil ist nicht einfach schlechter als der sublime, komplizierte: Er ist nur für eine andere Anwendung gedacht! Das, woraufhin es hingegen ankommt, ist das aptum, die Angemessenheit: Sie ist der zentrale Wert, sie stellt ein Verhältnis her und fest: Die Rede hat einen Zweck; und um diesen Zweck zu bestmöglich erreichen, sind geeignete Mittel zu verwenden. Dichtung ist nicht prinzipiell besser als Gerichtsrede oder der Streit im Symposion; sie ist nur anders. Aptum heißt: Es gibt Höhenunterschiede, und oben wird die Luft dünner. Aber Anpassung ist alles!
Als die europäischen Gelehrten dann, gut tausend gemeinhin als ‚dunkel‘ betrachtete Jahre später, daran gingen, das Wissen der Alten wieder hervorzukramen und etwas aufzufrischen, war die Situation auf dem literarischen Markt noch ziemlich entspannt. Genauer gesagt, gab es ihn nicht. Lesen konnte, bis weit ins Mittelalter und darüber hinaus, nur ein Bruchteil der Bevölkerung; selbst wenn mehr Menschen es gekonnt hätten, hätten sie die meisten Bücher nicht lesen können, die waren nämlich, beispielsweise in Deutschland (das es damals politisch noch nicht gab), auf Latein geschrieben, von gelehrten Männern für ihresgleichen (nein, keine gelehrten Frauen. Noch lange nicht, und das Lateinlernen blieb bis weit ins 18. Jahrhundert hinein eine der Haupthürden für die literarische und wissenschaftliche Betätigung von Frauen). Immerhin, man konnte bald schon Bücher drucken. Es wurden auch immer mehr gedruckt, und es wurden langsam, viel langsamer als man sich das heute vorstellen kann in unseren beschleunigten Zeiten, auch andere Bücher gedruckt: Nicht mehr nur wissenschaftliche Texte, nicht mehr nur Erbauungsbücher und Bibeln (die Bibel war das ABC-Buch fürs Volk über Jahrhunderte hinweg); nein, irgendwann tauchten auch Romane auf, eine völlig neue, unerhörte Gattung, die Antike kannte sie nicht, und was am allerschlimmsten war: Man hatte deshalb auch keine Regeln dafür! Für alle anderen literarischen Gattungen gab es Regeln ohne Ende, man wusste, wie ein regelmäßiges fünfaktiges Drama auszusehen hatte oder welches antike Versmaß man für welche Art von Gelegenheitsdichtung zu verwenden hatte. Ein Roman? Eine Geschichte, einfach so erzählt, in volkssprachlicher Prosa, der verachteten einfachen Alltagssprache, die doch eigentlich überhaupt nichts mit Dichtung zu tun hatte? Dichtung war gebundene Sprache, das wusste jeder; also geformte, sorgfältig mit rhetorischem Schmuck ausgestattete, in schöne, gleichmäßig hüpfende Versfüße gebändigte Sprache. Eine Geschichte in Prosa, das sollte jetzt Literatur sein, und zwar: schöne Literatur, wie man nun anfing zu sagen, um sie von der traditionellen, gelehrten Literatur abzusetzen? Ein Spalt war in die literarische Welt gekommen, und er begann sich schnell zu einem Abgrund auszuwachsen (man könnte auch sagen: der literarische Dilettantismus war geboren!).
Und das Schlimmste daran war: Die Leute begannen, dieses Zeug zu lesen, und sie hörten gar nicht mehr damit auf! Sogar Frauen, halbe Kinder noch, Ungebildete, Ungelehrte, das Kammermädchen wie die Herzogin, der kleine Hofbeamte wie der Prinz selbst! Wenn sie nicht Geld genug hatten, um Bücher zu kaufen (immer noch eine Sache ausschließlich der Bildungselite), gingen sie in Lesebibliotheken. Gründeten Lesekreise. Bücher wanderten von Hand zu Hand, man unterhielt sich über sie, die ersten Skandale kamen auf (junge Männer hatten sich umgebracht, weil sie Goethes Die Leiden des jungen Werthers gelesen hatten, wo sich der jugendliche Held aus unglücklicher Liebe erschießt!). Komischerweise war es genau die Zeit, wo die deutsche ‚hohe‘ Literatur endlich den Eindruck hatte, sie habe mit Goethe und Schiller zur europäischen Literatur aufgeschlossen: Man hatte jetzt eine eigene Klassik, sie residierte in Weimar (na gut, das war weder Paris noch London, aber immerhin ein selbsternannter ‚Musenhof‘) und wenn es die Metapher schon gegeben hätte, hätte bestimmt jemand gesagt: endlich auf Augenhöhe! (als ob Lessing ein Dackel gewesen wäre, der sich nur an den Unterschenkeln der französischen Klassiker reiben konnte und gelegentlich zubiss ...). Und ausgerechnet, genau zu dieser Zeit erreichte der neue Virus der ‚Lesesucht‘ in Deutschland seinen Höhepunkt erreicht, man sprach auch gern von einer ‚Romanenschwemme‘! Aber das, was die Deutschen lasen, als ihre Klassiker zweifellos hohe Literatur schrieben und sich von Gipfel zu Gipfel gern zuwinkten und gelegentlich besuchten – das waren Ritterromane, Schauerromane, Liebesromane, Gespenstergeschichten!
Wenn es eine Geburtsstunde der Trennung von E- und U gab, eine historischen Trennscheide, an der sich die Hochliteratur für immer trennte von der Unterhaltungs- oder gar der Trivialliteratur, dann liegt sie um 1800. Vielleicht kann man sie sogar noch genauer datieren: 1798 erschien Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann. Eine romantische Geschichte unseres Jahrhunderts von Christian Vulpius, Bibliothekar im klassischen Weimar, ausgerechnet, und späterer Schwager Goethes, der Christians Schwester Christiane irgendwann endlich heiratete, als sich die Weimarer genug das Maul über das uneheliche Verhältnis zerrissen hatten. August von Kotzebue, ebenfalls ein Weimarer Nicht-Klassiker und der Renner auf allen zeitgenössischen Bühnen, machte ein vielgespieltes Theaterstück daraus, es erschienen Übersetzungen in beinahe alle europäischen Sprachen, Neuauflagen über Neuauflagen, Nachfolgerromane; bis heute weiß jedes Kind, dass Rinaldo Rinaldini ein großer Räuber war.
Mit Rinardo Rinaldini betritt gleichzeitig der Antichrist der Hochliteratur die Bühne: Es ist der Bestseller, geliebt von den ‚Massen‘ (deshalb auch: Massenliteratur), verschmäht von den Hohepriestern der Hochkultur, den Literaturkritikern. Und es ist auch kein Zufall, dass sich mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die Literaturkritik als Profession (nicht als Nebenerwerbszweig der akademischen Veröffentlichungswelt wie bisher) entwickelte: Denn um künftig sauber unterscheiden zu können, was gediegene, klassische Hochkultur war und was Ramsch und Schund, den die Massen leider verschlungen, brauchte es offensichtlich einen Experten, Aufritt: der Literaturkritiker! Die Literaturkritik bildete sich parallel zum Aufstieg der Massenliteratur, die man aber noch nicht trivial nannte, das Wort hatte man noch nicht gefunden. Andere Begriffe kursierten in der Diskussion, noch erfreulich unbelastet: Selbst Schiller gab zu, dass der Mensch im Theater vor allem unterhalten werden möchte nach seinem langen, zunehmend entfremdeten Arbeitstag (denn auch das war durchaus eine Neuheit: die Entstehung von bürgerlicher Arbeit und ihrem Komplementär, der bürgerlichen Freizeit), und bereits der antike Poetiker Horaz hatte die Dichtung auf prodesse et delectare (eine bittere Pille, in Honig verpackt, das ist das klassische Bild dafür, und welche Menschenkenntnis sieht man hier am Werke!) verpflichtet – und wenn man schon das prodesse, das Nützen, Verbessern, Aufklären, die bittere Pille dahinschwinden sah, konnte man ja wenigstens am Deliziösen der Literatur festhalten, ihrem Honigcharakter. Auch Popularität wurde gelegentlich gefordert, schon im 18. Jahrhundert: Es könne doch nicht sein, dass die schöne Literatur weiter eine Angelegenheit der Gelehrten bleibe in einer Zeit, die gerade die Menschenrechte und die Selbstbestimmung des Individuums erfand und die Bildung als Kernkompetenz des Bürgertums etablieren wollte (der Adel war schon immer gebildet, außerdem las er französische Literatur)! Populär sein, das war zu dieser Zeit kein Schimpfwort; es war ein durchaus emanzipatorisches und aufklärerisches Anliegen für jeden, der nicht nur gelesen, sondern: verstanden werden wollte.
Und auch in der Ästhetik bewegt sich etwas, genau zu dieser Zeit: Sollte denn immer nur das ‚Schöne‘, das ‚Vollkommene‘ (man könnte auch sagen: das Hohe, das Große) Gegenstand der Kunst sein? War denn nicht vielleicht viel interessanter – das ‚Interessante‘? Der Unterschied zwischen dem ‚Schönen‘ und dem ‚Interessanten‘ jedoch ist: Inter-esse, das „Dabeisein“, ist immer individuell (deshalb ist Englisch „interest“ zum Beispiel ein Wort für Zinsen, ein sehr persönliches und handfestes Interesse), jeder entscheidet für sich, was er interessant findet. Aber wenn er etwas interessant findet, richtet er seine konzentrierte Aufmerksamkeit darauf und nimmt nun ganz neu daran teil. Interesse, ästhetisches Interesse, ist etwas anderes, es ist vielleicht sogar das genaue Gegenteil von Kants Konzept des „interesselosen Wohlgefallens“, das eben nur das schöne Kunstwerk auslöst: Es gefällt um seiner selbst willen, wir wollen es nicht kaufen, essen, verführen, sondern nur: es anschauen und genießen, und zwar jeder und jede. Nicht so das Interessante. Es nimmt uns mit. Es ist, so Friedrich Schlegel (romantischer Chef-Ästhetiker), in einer seltsam ungelenken, aber sehr passenden Wendung, ein „provisorischer“ ästhetischer Wert (man könnte auch sagen: Die Zeiten der Klassik als ewiger Kunstwert sind vorbei).
Im gesamten 19. Jahrhundert floriert die Unterhaltungsliteratur, sei es auf der Bühne, sei es im Roman. Da passt es gut, dass die Literaturtheorie der Zeit sich sowieso den ‚Realismus‘ auf die Fahnen geschrieben hatte. Nachdem man die Weimarer Klassik, die Französische Revolution und die Philosophie des deutschen Idealismus von Fichte bis Hegel halbwegs überstanden hatte, hatte man eine gewisse Idealismus-Vergiftung, und die Wirklichkeit, die sich zudem in einem geradezu rasenden Tempo zu verändern begann, hatte einen ganzen neuen Glanz. Beinahe sah es so aus, als könnte die Einheit der Literatur – in einem gewissen Maße gerettet werden; so weit waren die sentimentalen Fortsetzungsgeschichten in den Familienzeitschriften dann doch nicht entfernt von der realistischen ‚Hochliteratur‘ eines Gottfried Keller oder Theodor Storm, Balzacs Comédie Humaine gab ein genaueres Zeitbild, als es irgendein Historiker je geben könnte, und von Autoren wie Charles Dickens oder den neuen Detektivgeschichten Arthur Canon Doyles war die ganze Welt begeistert. Man hat das Gefühl, dass sich hier die Linien von E- und U ein letztes Mal annähern, sich vielleicht sogar ein wenig überschneiden – um dann, um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert hin, umso energischer wieder auseinanderzustreben: Die literarische Avantgarde bringt sich selbst zur Welt (sie hat natürlich keine Väter oder gar Mütter!), und sie setzt sich von Anfang an als Widerspruch – zur Popularität, zur Masse, zum leichten Konsum, zur affirmativen Unterhaltung, zum „Warencharakter der Kunst“, wie man bald sagen wird.
Avantgarde ist: Hochkultur als Speerspitze im ästhetischen Kampfsport! (daher kommt auch tatsächlich das Wort: Avantgarde, die Vorhut) Und sie setzte sich ab, mit komplizierten Manifesten, mit immer unverständlicheren Werken, mit einer prinzipiellen Absage an alle bisherigen ästhetischen Werte und Vorzüge! Schönheit, Wahrheit, Interessantheit – Pustekuchen! Die zurückgelassene U-Literatur, die nun auch endlich das Attribut des ‚Trivialen‘ umgehängt bekam, rächte sich auf ihre subtile Weise: Sie wurde immer erfolgreicher, und daran konnten auch die mächtigsten Kritiker und die Flut an Literaturpreisen nichts ändern. Derweil wurden die sich ständig gegenseitig vorantreibenden Avantgarden von ihrer eigenen Dialektik eingeholt: Das ewig Neue hat keinen anderen Feind als – das noch Neuere von morgen und übermorgen. Der schönste Protest nützt sich in der Wiederholung ab, die ästhetische Provokation wird zum Standardmodell und der Tabubruch evoziert nur noch seinen eigenen Widerspruch (das letzte Tabu ist, keinen Tabubruch zu begehen). Irgendwann im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird man das Gefühl, dass die Avantgarde den Kontakt zur Truppe leider vollständig verloren hat, nicht mehr los: Die eigentlichen Schlachten werden schon lange woanders geschlagen, in den neuen Medien beispielsweise, und wer braucht noch ein Epos, wenn er DVD-Serienklassiker hat?
Aber immerhin ist der Hoch- und Avantgardeliteratur des 20. Jahrhunderts eines gründlich gelungen, nämlich die durchaus generalstabsmäßige Vernichtung ihrer Gegner durch die wirksamste aller Waffen: Propaganda! Trivial, von lat. trivialis, ist eigentlich nur das Gewöhnliche, das leicht Ersichtliche, das nicht-Komplizierte. Als solches hat es seinen eigenen Reiz – jedenfalls wenn man noch nicht mit dem Moderne-Virus identifiziert ist, für den das Leichte, Verständliche, Gewöhnliche immer das Bürgerliche, Schlechte, Philisterhafte (noch so ein Kampfbegriff, erfunden schon von den Romantikern!) und mit allen Mitteln zu Bekämpfende ist. Das Leichte wird jedoch durchaus geliebt vom Publikum; weshalb noch ein wenig mehr propagandistische Anstrengung nötig war und man das ‚Triviale‘ mit dem dazu eigens erfundenen Vorwurf des ‚Kitsches‘ paarte (die Wortherkunft ist völlig unklar, möglicherweise „kitschen“ wie Müll zusammenkehren, oder jiddisch verkitschen, jemand etwas andrehen), also der ultimativen Steigerung des Ästhetisch-Wertlosen. Trivialliteratur war eine Literatur, die nach festen Schemata funktionierte: Die Welt ist schwarz-weiß, die Guten siegen immer, es gibt ein happy end; es herrschen schamlose Sentimentalität und hohles Pathos; es werden – und das ist der allerschlimmste Vorwurf für einen ordentlichen Avantgardisten! – die Erwartungen der Leser gnadenlos übererfüllt, und jeder weiß ganz genau, was ihn erwartet, wenn er einen Liebesroman oder ein Landserheftchen, einen Krimi oder einen Heimatroman, eine Vampirgeschichte oder einen Historienschmöker kauft. Niemand muss geistige Klimmzüge machen müssen, um solche Texte zu lesen; es schmökert sich halt so auf dem Sofa weg. Und wer gewinnt? Der kapitalistische Markt natürlich. Wir alle sind nur noch Lesevieh, manipulierbar, gefüttert mit wenig wertstoffhaltigem Kunstfutter, süchtig nach immer mehr erfüllten trivialen Leserträumen.
Offensichtlich ist die Welt der Kritiker der Trivialen jedoch mindestens ebenso schwarz-weiß gemalt wie die ihrer Opfer; mit nur leichter Verkehrung ist dann eben alles werthaltig, was kritisch, schwerverständlich, unerhört, enttabuisierend, irgendwie ‚gegen den Strom‘, völlig klischeefern und – nun ja, anstrengend zu konsumieren ist. Ebenso leicht kann man sehen, dass die Diffamierung der Leser von Trivialliteratur ein Schutzreflex sich bedroht fühlender Eliten und Experten ist. Sie folgt dem beliebten ‚Wir-da-oben-Ihr-da-unten‘-Muster und behandelt den anspruchslosen Leser als eine Art schwer erziehbares Lesekind, das partout nicht erwachsen werden will – und immer liest es das Falsche, obwohl man es ihm doch schon so oft erklärt hat!
Zwischen diesen beiden Polen jedoch tummelt sich eine immer vielfältigere reale Lesewelt, die sich zwar häufig die ‚Unterhaltung‘ auf ihre bunten Schutzumschläge geschrieben hat, aber damit durchaus nicht jeden Anspruch auf inneren Gehalt an der Bibliothekstheke abgibt. Intelligente Unterhaltung, so stellt sich heraus, könnte eine mittlere Lösung sein, die weder die Leserinnen unterschätzt noch die Autorinnen auf die Widerständigkeit als Pflichtübung verpflichtet. Eine gute Lektüre sollte einfach – manchmal sind die antiken Ideen halt doch die besten: aptum sein, dem eigenen Interesse, der jeweiligen Situation, den sich ändernden Vorliegen angepasst sein. Und manchmal macht man halt gern geistige Klimmzüge, und manchmal verkriecht man sich lieber auf dem Sofa.
Im Übrigen ist es interessant, einmal einen Blick auf die anderen literarischen Großgattungen zu werfen, die von der Diskussion um E- und U– seltsam unberührt scheinen: Was ist mit der Dramatik? Gibt es auch hohe und triviale Gedichte? Man sieht dann, dass deren Immunität gegen den Trivialitätsvorwurf durchaus unterschiedlich ausgeprägt ist und dass das auch verschiedene Gründe hat. Die Dramatik lebt, trotz aller stolzen Lesedramen der Literaturgeschichte, von der Aufführung: Sie wird sozusagen von Natur aus populär, indem sie in einem öffentlichen Raum inszeniert wird. Und trotz aller avantgardistischen Pirouetten des Regietheaters kann man vielen Stücken ihre Substanz nicht nehmen: Es stehen handelnde Menschen auf einer Bühne und sprechen zu denen, die beinahe auf gleicher Höhe mit ihnen sitzen. Natürlich gibt es Boulevard-Komödien, die ‚Bestseller‘ des Theaterbetriebes; und natürlich war das Musiktheater schon immer große Show, weit vor der Erfindung des Musicals als eine Art Trivialisierung der Oper (die aber schon mit der Operette eingesetzt hatte). Aber die Grenzen neigen sehr dazu zu verschwimmen: Auch ein Klassiker der E-Literatur kann durch eine entsprechende Inszenierung entweder modernisiert oder durchaus auch trivialisiert werden; genauso kann umgekehrt eine entsprechende Inszenierung auch aus einer relativ platten Vorlage ein Theatererlebnis machen. Dramatik ist inszenierte Literatur, ist Sprache in Aktion – und dafür gelten teilweise andere Kriterien als für das stille Leseerlebnis der Romanlektüre.
Bei der Lyrik ist es eher anders herum: Sie ist ein noch stilleres Leseerlebnis (obwohl Gedichte eigentlich ja vorgelesen werden sollten, aber wer tut das schon?), und wer ein Gedicht zur Hand nimmt, dem geht es meistens nicht in erster Linie um leichte Unterhaltung (na gut, ein wenig Seelenstreicheln, vielleicht). Lyrikliebhaber sind sozusagen schon eine fortgeschrittene Klasse von Literaturliebhabern. Zwar mag es durchaus den einen oder die andere geben, die Gedichte vor allem ihres Ausdrucksgehaltes willen lesen (Liebesgedichte zum Beispiel), aber ohne jedes Ohr für die sprachliche Besonderheit, ohne ein minimal geschultes Sprachempfinden wird das auf die Dauer leerer Gefühlskitzel bleiben. Lyrik ist, auch von ihrer Geschichte her, Dichtung in Reinform, und nicht umsonst heißt das ‚Poesie‘--Album so: Wenn sich schöne Literatur von anderen Formen des Sprechens und Schreibens unterscheidet, dann am reinsten und deutlichsten in der Art, wie sie mit ihrem Material, mit der Sprache umgeht: bewusst nämlich, gestaltend, ein wenig selbstverliebt und ein wenig verspielt. Natürlich gibt es einfachere und anspruchsvolle Gedichte; natürlich gibt gerade in der Lyrik avantgardistische, verwegene Experimente; und natürlich gibt es auf Popularität angelegte Formen wie das Lied oder die Ballade. Aber das sind, ganz wie in der Dramatik, Übergangsbereiche zu anderen Kunstformen; und wenn ein Schlager ein Ohrwurm wird, dann trägt die Musik mindestens genauso viel, wenn nicht mehr als der Text dazu bei. Lyrik als Dichtung jedoch – wohnt jenseits von E- und U, nämlich da, wo die Sprache noch ganz bei sich ist.
Es ist also vor allem die Erzählliteratur, durch die der tiefe Graben zwischen E- und U verläuft und die zu sich stark voneinander abgrenzenden Stilhöhen neigt. Das hat die eben erwähnten strukturellen Gründe – Dramatik ist Handlung, Lyrik ist Sprachverdichtung –, aber auch ein paar ganz pragmatische: Mit Erzählliteratur wird Geld verdient auf dem Literaturmarkt. Die Konkurrenz wird größer, die Korruptionsgefahr auch. Romane sind ein Massenmarkt, an dem viele verdienen wollen; und sie sind, man kann es nicht anders sagen: mitten im Leben. Menschen sind Wesen, die sich selbst und anderen Geschichten erzählen; das scheint ein Naturgesetz zu sein, und wie dieses Gesetz heutzutage als ‚Narrativ‘ in der Politik instrumentalisiert wird, ist ein Lehrstück für die Manipulierbarkeit nicht nur der Massen, sondern jedes Einzelnen von uns. Wenn dem aber so ist, wenn wir uns selbst, unser eigenes Leben, nur als Geschichten erfahren können – dann sind wir alle Geschichtenexperten, so sehr sich auch die selbsternannten Experten dagegen wehren, die für uns gern andere Geschichten erfinden würden: weil man mit anderen Geschichten zum Beispiel mehr Geld verdienen kann. Das und nichts anderes tut die Werbung, der am stärksten kommerzialisierte Erzählzweig der Menschheitsgeschichte, und er erzählt uns immer die gleichen Geschichten, Urtypen von Geschichten sozusagen, Märchen des Erfolgs und des Beliebtseins, und wenn sie nicht gestorben sind, konsumieren sie noch heute täglich Coca-Cola.
Aber wir alle sind Geschichtenerzähler, in jedem Tagtraum und jedem Nachttraum, im Gespräch mit Freunden und im Gespräch mit Fremden und im Gespräch mit uns selbst. Deshalb lassen wir uns auch immer weniger vorschreiben, welche Geschichten wir gut finden sollen, wertvoll, anspruchsvoll, von hohem, von höchstem literarischen Rang. Internationale Bestseller können heute ebenso literarisch experimentell und komplex sein (sagen wir: die Werke des magischen Realismus, Gabriel Garcia Marquez ebenso wie Salman Rushdie), solideste Unterhaltungskunst (J.K. Rowling, sehr viele anspruchsvolle Krimi-Autoren, gut gemachte Fantasy) oder – na gut, trivial, ein wenig Schund, ein wenig Klischee, sehr viel Manipulation (der breite Rest, und kein Grund sich zu schämen). Heute sucht sich jedes Buch seine Leserin, und je vielfältiger die Leserinnen werden, desto vielfältiger werden die Bücher werden. Die Kritiker, die uralten Hausmeister des Literaturbetriebs, mögen derweil schelten, Lesehausordnungen erlassen und die Trivialliteratur des Hauses verweisen („wir müssen leider draußen bleiben!“). Derweil herrscht im Internet das fröhlichste Leseleben, viele bunte Blogs blühen auf und vergehen wieder, und keiner weiß, ob der nächste Bestseller noch im Selbstverlag schlummert oder von einer You-Tuberin gehypt werden wird. So what? Jeder und jedem bleibt es unbenommen, weiterhin die Höhenkämme zu erklimmen, es ist ein mühsames Geschäft, angeblich lohnt der Ausblick, aber oft ist auch Nebel und man sieht: nur die eigenen Wanderstiefel. Man sollte aber nicht herabschauen auf jene, die fröhlich die blühenden Täler durchschlendern und sich am Ende auf ein schönes Gasthaus freuen.
Am Anfang war ….
Am Anfang war das Erzählen. Oder waren es eher die große Geste, die Intrige, das öffentliche Drama auf der Bühne des Lebens? Das private Klagen, über die Liebe und das Leid und den Tod, aber auch der Freudengesang zum fröhlichen Tanz? Mussten zuerst die Götter beschworen oder die Frauen erobert oder die Herrschenden versöhnt werden? Ach, die Literatur hatte so viele Aufgaben schon ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte, große Aufgaben, wichtige Aufgaben! Sie hieß aber noch nicht Literatur (so nannten sie erst zeichen- und buchstabenfixierte Zeiten), sie hieß Poesie, oder Dichtung, oder Gesang, und sie verschwendete nicht den geringsten Gedanken daran, man könne sie einmal autonom nennen: einen Zweck in sich selbst, l’art pour l’art, ein ganzes sorgfältig umhütetes Reservat nur zum Spielen nach ganz eigenen Gesetzen. Hätte sie es überhaupt gewollt? Zum Glück hat niemand sie gefragt, am Anfang. Wahrscheinlich war sie auch die letzte der Künste, die der Mensch erfand, nachdem er sesshaft geworden war und mühsam im Schweiße seines Angesichts die Felder bestellte. Gerade eben erst hatte man überhaupt verstanden, dass die Kinder, die die Frauen unter großen Nöten und Wehen zur Welt brachte, die eigenen waren. Mann selbst hatte sie gezeugt, sie waren nicht vom Himmel gefallen als Geschenk oder Strafe eines fernen Gottes, sie waren das eigene Fleisch und Blut, und das hatte alles geändert, alles; es hatte eine Gemeinschaft gestiftet, die vorher nicht denkbar war. Seit langem schon hatte man Bilder in die Felsen geritzt, von der Jagd oder von rätselhaften Fruchtbarkeitsgöttinnen; vielleicht hatte man gelegentlich in eine Art Gesang eingestimmt, bei der Jagd oder beim Kampf, wenn alle grölten, aus Angst mindestens genauso viel wie aus Überschwang. Irgendjemand hatte dann später, als man die ersten Geräte töpferte, Tonfigürchen geformt. Richtige kleine Menschen waren das, und es war wahrscheinlich höchst erschreckend, sich plötzlich selbst so gegenüber zu stehen (denn es gab keine Spiegel, man muss sich mühsam klarmachen, was das bedeutet: es gab keine Spiegel, außer dem gelegentlichen narzisstischen Blick ins klare Wasser). Aber sicher kam die Sprache als letztes. Vielleicht war es anfangs nur ein Spiel mit einzelnen Silben, sie waren kurz und klangen schön und weich im Mund, man konnte sie wiederholen und aneinanderhängen, so wie man eine Kette flocht oder einen Korb: „ma-ma“, klingt das nicht auch beinahe schon magisch? Beruhigt es die Kinder nicht, wenn man es ihnen vorsummt? Stand ein Schlummergesang am Anfang dessen, was viel spätere Nachfahren etwas hochtrabend: ‚Literatur‘ nennen würden – Literatur, kein besonders schönes Wort, mit seinen harten t‘s und r’s. Aber immerhin, am Anfang steht ein weicher Anlaut, Li-La-Lu könnte man daraus machen, und der Mann im Mond sieht wohlwollend zu.
Und so wurde die Literatur, die Dichtung, die Poesie geboren: aus Singsang und Schlachtgeschrei, aus Wehklagen und Lobpreis, schließlich: aus dem Bedürfnis nach erlebter, erinnerter Gemeinschaft in Geschichten. Denn die ersten Geschichten waren nicht Geschichten vom unersättlichen Ich; sie waren Geschichten von Gemeinschaften, und wenn einzelne Gestalten daraus herausragen - Odysseus, der Listige, Achilles, der Kämpfer -, dann sind sie trotzdem kein Ich: Sie sind Halbgötter, Ideale, Menschen, in denen eine Eigenschaft so groß wurde, dass sie für immer mit ihrem vergänglichen Namen verbunden sein wird. Und dass der erste große Erzähler der Menschheitsgeschichte ein blinder alter Mann gewesen sein soll, von dem man noch nicht einmal mehr den Namen weiß, ist das nicht wirklich – wahr in einem tieferen Sinne als alle beglaubigten Namensgeschichten jemals reichen werden? Homer, was immer sich hinter diesem mythischen Phantom des Epos verbirgt, war ganz sicher kein Originalgenie. Er war auch kein gelehrter Mann, der die Regeln kannte, er wollte nicht die ‚Gesellschaft‘ kritisieren, die Welt zu einem besseren Ort machen, berühmt werden und reich; er wollte auch nicht die Sprache reformieren, die Literatur revolutionieren, ästhetisch experimentieren; er wollte wahrscheinlich noch nicht einmal erfinden. Viele seiner berühmten und namentlich sehr wohl bekannten Nachfahren sind ihm darin gefolgt und haben immer wieder gesagt, sie hätten ihre Geschichte gefunden, nicht erfunden – aber Literaturwissenschaftler hören nie zu, weil sie ja klüger sind als ihr ‚Gegenstand‘, und Leute glauben sowieso lieber Wundergeschichten. Aber ist es nicht wirklich schöner, dass man Geschichten einfach finden kann, anstatt mühsam sich Dinge aus den Fingern zu saugen, sich den Kopf zu zermartern und haltlose Luftschlösser aus Worten zu bauen? Beim kleinsten Stoß zerplatzen sie, in Schäume, die Worte zerstieben in alle Himmelsrichtungen, sie haben keinen Halt aneinander gefunden, sie waren nie zu einem Ganzen geworden, sondern nur zu einem Phantasma. Homer aber wusste, wovon er sprach, auch wenn wir nicht mehr wissen, wer er war. Er sprach von Kampf und Begehren, den beiden großen Urtrieben des Menschen, sich töten und sich fortpflanzen und vom Sterbenmüssen. Alles andere ist Beiwerk, nützliches Beiwerk, nötiges Beiwerk, durchaus auch: phantastisches Beiwerk, das die unversöhnliche Gewaltsamkeit und Unentrinnbarkeit des Menschseins umschlingt, mildert, für einen Moment zu versöhnen scheint. Doch alles ist ein Kampf, auch und insbesondere das, was spätere Generationen mit einem unendlich dehnbaren Wort ‚Liebe‘ nennen. Und jede Geschichte läuft auf den Tod hin, wenn auch gelegentlich in unendlichen Umwegen, denn sie alle sind gestorben und leben nicht mehr heute. Aber jeder der Zuhörer merkte sich die Geschichte und trug sie weiter und änderte möglichst wenig an ihr; denn Geschichten sollen wahr sein und nicht erfunden, phantastisch oder beliebig.
Derweilen trugen die Dramatiker ihre öffentlichen Wettbewerbe aus und errangen Preise, genau wie die Läufer und Ringer und Wagenlenker im Stadion; und die Lyriker besangen sie, die Olympioniken, und verewigten die Namen der Sieger samt mit dem ihrer Pferde und vor allem ihrer Herkunftsstädte: angewandte Heldendichtung, aber mehr noch Propaganda. Die Tragödien erzählten staatstragende Geschichten aus den Königshäusern, gespeist aus alten Mythen; sie wurden immer vielstimmiger, einzelne Stimmen traten hervor vor dem Hintergrund eines Chores, der namenlos war, dunkle Schwarmintelligenz mit Masken, drohend, klagend, bewegend. Dramatik war Politik und Religion zugleich, Lyrik war öffentliche Heldenverehrung oder Wehklage oder Trinkgesang. Sogar die Komödianten, die nun erschienen, respektlose Gesellen, die Satiriker mit ihrem bissigen, verletzenden Scherz, sie alle waren Berufsdichter: Sie hatten eine Funktion für die polis und den Staat, sie lebten mit ihm und von ihm – und die nun langsam sich formierenden Massen wollten zudem nicht nur Brot; sie wollten Spiele, Unterhaltung, Ablenkung. Und als Aristoteles, der über so viele Dinge zum ersten Mal systematisch nachdachte, seinen ganzen analytischen Verstand auf die Poetik warf, das Handwerk der Wortschmiede (poiesis ist: machen), da beschrieb er nicht etwa das einsame Ringen eines Originalgenies, sondern eine Art kollektive Psychotherapie: Indem die Menschen schauerliche Geschichten sahen, die anderen Menschen passierten (am besten: berühmten Menschen, großen Menschen, Königen und Halbgöttern); Menschen, die – nicht ganz unverdient, so klug waren die Dichter schon! – töteten, liebten, verzweifelten, in unvorstellbarem Maße litten; indem die Zuschauer all das sahen, auf einer Bühne, mit einem dunklen Chor im Hintergrund, der drohte und klagte; indem sie mitlitten, sich selbst die Haare rauften, mit dem Füssen trampelten, schrien und jammerten (und nicht etwa ein wenig sentimentalisch mitfühlten, weil sie sich dann als bessere Menschen fühlen konnten!) - waren sie auf einmal, hinterher, auf eine etwas mysteriöse Weise befreit, entspannt und im Einklang mit sich selbst. Es war wie eine Wundermedizin, sie löste die Glieder und machte das Herz frei. Handfeste Medizin, das war es, was einen ins Theater trieb; eine kleine, übersichtliche Massenhysterie zu therapeutischen Zwecken, professionell gelenkt und gesteuert vom Medizinmann mit seinen Puppen auf den Schuhen mit den hohen Absätzen und den grellen Masken!
Bei den Römern wird die Literatur endgültig zivilisiert und zivilisierend, herrschaftsbegründend und staatstragend; aber gleichzeitig, die Dekadenz folgt dem Höhepunkt bekanntlich auf dem allzu raschen Fuße, wird sie auch gefährlich, sittenverderbend, respektlos und übermütig. Das, was sie eigentlich sein sollte, hat Horaz in einer der ästhetischen Grundformeln für mehrere Jahrhunderte, ja mindestens ein Jahrtausend festgelegt: prodesse et delectare, ein Freuen und ein Nutzen, und nicht eines gegen das andere, sondern eines durch das andere, in enger Verschlingung und unlösbarer Verbindung. Denn natürlich braucht der Mensch ein wenig Honig um das Maul geschmiert, wenn er wieder einmal eine bittere Medizin schlucken soll, das weiß ein jeder und eine jede; und irgendwann muss jeder einmal eine bittere Medizin schlucken, der ein Mensch ist und deshalb, wie bis heute gern und etwas zu viel betont wird, fehlbar, ein wandelnder Irrtum auf schwankendem Grund, machtversessen und allzu leicht korrumpierbar, um Liebe bettelnd und sie wegwerfend, wenn er sie gefunden hat (Kampf und Liebe, immer wieder). Verwandlungen, das ist das Einzige, was den Menschen ausmacht: dass er sich niemals gleichbleibt, dass er ein Spielball der Evolution und seines inzwischen allzu klugen Gehirns ist (ein Spezialistenorgan, gefährlich, wie alle allzu weit getriebenen Spezialfähigkeiten), dass er den Lügnern ebenso auf den Leim geht wie den großen Erzählern, weil sie ihm die Geschichten erzählen, die er so gern hören möchte. Verwandlungen, so heißt auch das Grundwerk der abendländischen Literatur, das nun um die Zeitenwende entsteht. In ihm werden Menschen zu Pflanzen oder Götter zu Tieren, was macht das schon für einen Unterschied? Denn überall regiert die Liebe, die Götter verfolgen die Menschen, die Menschen die Götter, es gibt hoffnungslose Liebe, unerfüllte Liebe und, ziemlich reichlich: Vergewaltigung; Gewalt in jeglicher Form regiert in dieser Welt, in der jede Form belebt ist und belebt werden kann und nichts für immer verloren geht. Generationen von Dichtern werden die Verwandlungen aufnehmen und das Spiel weiter treiben; für sie alle steht Orpheus, der Sänger, der so schön sang, dass sogar die Pflanzen und Tiere, ja gar das wüste Meer im Hören erstarrte vor lauter Bezauberung – aber am Ende hatte er zu schön gesungen, er wurde von wilden Frauen zerrissen, der Grund ist nicht ganz klar, aber letztlich auch unwichtig: Seitdem ist die Kunst magisch und unsterblich, auch wenn der Dichter gelegentlich, wie der der Verwandlungen, einsam im Exil sterben muss, weil er dem Kaiser zu nahe gekommen war. Ovid hatte auch eine Liebeskunst geschrieben, in der er die Liebe als Spiel lehrte und als Technik. Vielleicht wäre Orpheus den Mänaden entkommen, wenn er sie nur besser betört hätte? Und hatte es nicht sogar eine gewisse poetische Gerechtigkeit, dass es die Frauen waren, die die Männer zerrissen, die ihre sehr realen Vergewaltigungen in zierliche Verwandlungen umgedichtet hatten?
Am Ausgang des dunklen Mittelalters, von dem nur wenig Dichter gesungen haben (die Religion hatte die Bühne erobert, und sie machte eine gute Show, wie alle Propaganda), begann der bis heute anhaltende Siegeszug der romantischen Liebe. Ziemlich sicher hatte es damit zu tun, dass es weiterhin nur die Männer waren, die dichteten; nun dichteten sie an Höfen, in neuen Sängerwettbewerben, um die Gunst – der großen Dame, der Einen, der Heldin ihres Herzens, der unendlich schönen und vor allem reinen Rose! Der Minnesang war geboren, die Aventüre, das große Abenteuer des Herzens nahm seinen Anfang. Natürlich war die mittelalterliche Gesellschaft nichts weniger als schön und rein; Kampf und Begehren, darum ging es immer noch, wie ganz am Anfang, und gerade indem man die Eine, die Erwählte, die Rose zum unerreichbaren Ideal machte, konnte man in der Realität fröhlich weiter huren, vergewaltigen, ungewollte Kinder zeugen: Es war ja nur ein Abklatsch, eben die dumme Wirklichkeit, die nichts vom Ideal wusste – das natürlich niemals erreicht werden durfte, um Gottes willen! Dann hätte man ja die Dornen an der Rose entdeckt, das Abenteuer hätte ein Ende gehabt, alle Drachen hätten sich schlafen legen können und die Liebe wäre in der Ehe gestorben (bestenfalls). Natürlich gab es neben der ‚hohen Minne‘ im Übrigen auch Schelmen- und Schauergeschichten, die davon erzählten, wie gehurt und vergewaltigt wurden, was sehr viel unterhaltsamer war als der hohe Roman mit seinen unendlichen Schiffbrüchen und Entführungen, Liebesschwüren und Treueproben, Trennungen und mysteriösen Widerbegegnungen. Aber das eine war die hohe Kunst der Meister, sie kam in wohlgesetzten Worten und zierlich gedrechselten Bildern; und das andere war ein Bastard, ein verworfener Heide, der noch nicht einmal eine Ahnung von Versmaßen hatte und eine Allegorie für eine Art von Wirtshäusern hielt. Beides aber war, sieht man durch das hohe oder niedere Kleid hindurch auf den Leib der Dichtung, Männerliteratur: Wunschdenken, gegossen in regelmäßige oder unregelmäßige Textformen. Würden sich die Frauen betrügen lassen? Ach, sie hatten doch niemals eine Chance! Seitdem man ihnen die erste Liebesgeschichte erzählt hatte (nicht die von Adam und Eva, oh nein, denn daraus hätte man ja durchaus etwas lernen können!), seitdem man ihnen schmeichlerisch wie noch jede Schlange eingeflüstert hatte, sie seien die Schönsten und Reinsten und Tugendhaftesten, und jeder Ritter würde ihnen ganze Reiche zu Füssen legen – was sollten sie denn machen? Weghören? Eine kalte Dusche nehmen? Nein, sie wurden verführt, verführt von Männern mit Schlangenzungen, die ihnen die Liebe malten wie das zurückgewonnene Paradies: Dort und nur dort würde ihr weiblich-begrenztes, umzäuntes, beherrschtes Leben endlich seinen ewigen Zweck und Preis bekommen. Liebt, und ihr werdet herrschen! Liebt so, wie wir es euch vorgezeichnet haben, wie die hohen, reinen Damen, die Unberührbaren, setzt den höchsten Wert in eure weibliche Tugend (sagt das der Pfarrer nicht auch ungefähr so?)! Aber vergesst all das im richtigen Moment, wenn endlich der Richtige vor der Tür steht und euer Herz bricht (weil das nämlich dazu gehört, die wahre Liebe ist unglücklich) und wieder davonreitet; ihr aber bleibt zurück und lest weiter in den Büchern von der großen überwältigenden Liebe! Und irgendwann werdet ihr selbst eine mittelgroße, gar nicht unattraktive Liebelei nicht mehr erkennen, weil sie nicht dem Phantom entspricht, das wir in eure weichen, formbaren Köpfe gesetzt haben, die so leicht den schönen Worten der Männer glauben (denn das haben sie in der Kirche gelernt).
Seitdem gibt es keine Geschichte mehr, die nicht von der (meist: romantischen) Liebe handelt. Natürlich gab es daneben, weiterhin, durchaus noch Literatur mit Zwecken: Die Fürsten wollten immer noch und immer mehr gelobt werden, Hochzeiten und Begräbnisse wollten besungen werden, gelegentlich wurde sogar einmal noch ein Nationalepos in Auftrag gegeben, und auch die Kirche hatte einen bleibenden Bedarf an besinnlichen Liedern und dem einen oder anderen Lehrstück; aber die Dichter waren nicht mehr mit dem Herzen dabei. Gelegenheitsdichtung, so sollte man all dies später nennen; und nur der Größten einer, Goethe selbst, durfte frech sagen, noch jedes seiner hochgelobten Werke sei eine Gelegenheitsdichtung gewesen, es komme eben darauf an – war es nicht immer schon so gewesen? – die Gelegenheit zu finden, nicht zu erfinden! Erfinden war für Dilettanten, und Gelegenheitsdichter waren immerhin häufig Leute, die eine ordentliche rhetorische Ausbildung erhalten hatten, die Klassiker kannten und Allegorien zum Frühstück entwarfen, ganze Emblembücher voll. Aber das Handwerk war in Verruf geraten, da hatten alle Sprachgesellschaften und Akademien nichts genützt; und Goethe selbst war es gewesen, der im jugendlichen Übermut alle Regeln und jedes gelernte Können in den Wind geschrieben hatte: Er hatte, gemeinsam mit Herder, das ‚Originalgenie‘ erfunden (nicht gefunden!), Shakespeare war eines gewesen, zweifellos, Goethe natürlich auch, man hätte sehr gern Homer reklamiert, das hatte aber einige Probleme, deshalb erfand man schnell noch einige dazu. Das Original-Genie aber war – nun, man konnte eigentlich nicht so genau sagen, was das Originalgenie war, aber auf Genauigkeit kam es ja zum Glück nicht an. Es kam an auf Genie, und das Wort wurde flugs ein wenig umgedeutet, so wie das noch jede neue Ideologie getan hat: Genie war nicht mehr eine ausgezeichnete geistige Fähigkeit, die einem ein Genius verliehen haben mochte, die aber dann mühsam ausgebildet und geübt wurde; nein, der Genius wurde – etwas irgendwie Göttliches, Übermenschliches, ein Hauch, ein Zauber, eine Gnade! Und wenn man es hatte, sprudelten aus einem die göttlichsten Einfälle heraus, einfach so, aber auf jeden Fall unverwechselbar, einmalig, regellos und unnachahmlich! Ach, was war es eine Erleichterung! Weg mit den Regeln und Schulen, weg mit den lästigen Versmaßen und Reimformen, jeder geformte Vers ist ein Verrat an der Freiheit der Sprache, jeder Reim ein Knebel für den Geist, eine Allegorie gar – nichts als ein Bildungs-Fetisch, den die Philister umtanzten, um ihre Deutungsmacht zu demonstrieren!
Man hätte misstrauisch werden können, als man sah, dass die Werke dieser Stürmer und Dränger gerne Kindsmörderinnen zeigten; dass sie überhaupt relativ häufig in Blut und Gewalt und Wahnsinn endeten. Für die Frauen unter den Leserinnen – und sie bildeten inzwischen die große Mehrheit der Lesenden überhaupt – war das kein besonders angenehmes Szenario und ganz sicherlich kein Fortschritt gegenüber dem Modell der einen Rose. Nun sollte man also seine Tugend verlieren und gleich noch die Leibesfrucht und, wahrscheinlich, das eigene Leben dazu, nur damit die Männer endlich einmal richtig revolutionär Literatur machen konnten und das Original-Genie seinen gigantischen Spielplatz bekam? Kampf und Begehren, nichts Neues unter der Sonne; außer dass der Preis, den die Frauen dafür bezahlten verführt zu werden, gerade ziemlich angestiegen war. Goethe hatte sehr schnell erkannt, dass er diesen Weg nicht gehen wollte, und als starkes Gegengift die Weimarer Klassik erfunden: die Erziehung und Mäßigung des Menschen durch die Kunst. Und die Literatur wurde, nach einer sehr kurzen und heftigen Pubertät, erstaunlich schnell erwachsen; sie wurde es, indem sie die Spuren dieses mühsamen Prozesses, dieser Kultivierung des Menschen durch den Menschen, diese Heranzüchtung eines Hochleistungsmodells menschlicher Bestheit aufzeichnete: Der Bildungsroman war geboren.
Wie erstaunlich und ungewöhnlich das war, kann man sich heute kaum noch klar machen. Aber für Jahrhunderte war es unvorstellbar gewesen, dass der Mensch sich erst langsam, mühevoll, mit vielen Fort- und Rückschritten, entwickelte; dass etwas in ihm war, angelegt, verschüttet sozusagen, das erst durch einen langsamen und mühevollen Ent-Wickelungsprozess hervorgeholt werden musste, geformt, trainiert, poliert, bis am Ende das neue Leitbild, nennen wir es ruhig: das Idol einer Zeit stand, die sich (kaum war es ihr selbst schon bewusst) von Gott verabschiedet hatte. Wusste man etwas über die Erziehung des Odysseus? Hat Homer überliefert, ob Achill schon in seiner Jugend ein begnadeter Läufer und Fechter war? Hatte ein Minnesänger eine Vergangenheit, eine Mutter, vielleicht einen Vater, der ihn geschlagen hat? Noch Don Quijote, mit dem zum ersten Mal ein Held aufgetaucht war, der tragisch nicht an äußerlichen Widerlichkeiten scheitert, sondern an seinem eigenen Inneren, an einer schleichenden Vergiftung seines Realitätssinns durch die Phantasmen der Literatur, an einem Überhandnehmen eines süßlich-honigartigen Wunschdenkens über die Weltklugheit – was wissen wir von ihm als Person? Dünn und klapprig reitet er auf Rosinante durch die Weltgeschichte, noch die Windmühlen im Hintergrund sehen stabiler aus als er, und selbst sein sidekick, der lebenstüchtige Sancho Pansa auf seinem Esel, kann ihn nicht retten vor sich selbst. Mit Don Quijote hält das Wunschdenken Einzug in die Literatur der Neuzeit; aber es ist noch nicht das Wunschdenken eines, nennen wir das schlimme Wort endlich: Individuums, es ist das Wunschdenken eines Typus, einer Karikatur seiner selbst. Mit ihrem Anfang hat die neuzeitliche Erzählliteratur ihr eigenes Ende prophezeit: Wer zu viel liest, hat sich von der Welt verabschiedet. Sie wird sich rächen.
Das Gleiche passiert mehr oder weniger allen Helden des Bildungsromans, die knapp zweihundert Jahre später die Literatur erobern. Natürlich erobern sie dabei auch, wie könnte es anders sein, die Herzen einer Liebsten, natürlich kämpfen sie ein wenig in einer schon sehr zivilisierten, bürgerlichen Art und Weise, denn Liebe und Begehren sind immer noch die unentbehrlichen Triebkräfte der Literatur. Aber Narziss hat endlich gesiegt, denn im Zentrum steht nun, umgeben von Spiegeln von allen Seiten, allein und siegreich: das Ich, das Individuum, seine Bildung, seine Entwicklung, seine Zivilisation, wie immer man den Prozess nennen mag, in dem aus einem Häufchen Mensch mit unbestimmten Anlagen ein Weltbürger geknetet wird. Meist hat es keine Eltern mehr, das arme Häufchen (das macht es knetbarer); meist hat es aber, zum Glück, Begabungen und Talente (das macht das Kneten einfacher und erfolgversprechender). Und selbstverständlich interessiert es sich vor allem für die Künste, das Schöne, Theater und Literatur (schließlich sind seine geistigen Väter Literaten, nicht Ingenieure; vielleicht hätten wir sonst einmal einen Bildungsroman über die Entwicklung zum Ingenieur, und das wäre wirklich eine Abwechslung!) Am Ende ist es gebildet, das Häufchen Mensch, und der Leser, mit Glück, ein wenig mit. Denn der Leser, vor allem: die Leserin, sie leiden mit, sie fühlen mit, wie damals in der griechischen Tragödie; die Helden mögen sich geändert haben, die Gefühle verfeinert, die Aufnahmefähigkeit für schriftliche Texte (keine kleine kulturelle Kompetenz!) unendlich vermehrt – aber am Grunde des Lesens liegt weiterhin das Mitleiden, vor allem aber, nun immer stärker: das Mitfreuen. Ein Bildungsroman, eine Geschichte vom Ich, die darin enthaltene Liebesgeschichte – das alles verlangt deshalb energisch nach einem happy end. Natürlich war auch Odysseus am Ende heimgekommen; aber war seine Geschichte nicht eigentlich nur die Erzählung eines „there and back again“ gewesen, der Grundformel des vor-individuellen, vor-bürgerlichen Epos, das nichts wissen wollte von weichlicher Versöhnung oder dem Erreichen eingebildeter Entwicklungsziele? Ein glückliches Ende wird nun aber, daran können auch alle bürgerlichen Trauerspiele nichts ändern, mit aller Gewalt nötig: Reicht es denn nicht, dass wir alle sterben müssen? Ist es nicht schlimm genug, dass die Erlösung, das ewige Leben immer unsicherer werden? Nein, wenigstens in der Literatur, dieser immer professioneller werdenden Wunscherfüllungsmaschine, soll es Erlösung geben. Der Held leidet, er wird geformt, und er obsiegt, oder, wie es Hegel einmal unübertrefflich ausgedrückt hat: Am Ende hat sich das Subjekt die Hörner abgelaufen und wird ein Philister wie alle anderen auch. Amen to that.
Doch der Bildungsroman ist nur die Spitze eines Eisbergs, seine viel größeren Teile liegen unter Wasser, sie sind unendlich viel gefährlicher, und sie heißen: Unterhaltungsliteratur! Mit der Erfindung des Romans ist die Entstehung eines Massenpublikums so eng verbunden, dass man im Rückblick nicht genau mehr unterscheiden kann, wer nun was bedingt hat (aber wie immer wird es ein unentwirrbares Gemisch von Ursachen und Wirkungen gewesen sein, nicht eine schöne einsinnige Kausalität, wie sie die Philosophen und die Bildungsromanschreiber lieben): Lesen nun immer mehr Menschen, weil die neuen Romane so mitreißend sind und wirklich keinen Wunsch mehr unbeschrieben lassen – oder werden die neuen Romane so perfekte Wunscherfüllungsmaschinen, weil sie sich an immer mehr Menschen richten, ihr Publikum immer besser kennen, seine unerfüllten Wünsche, seine Projektionen, seine Sehnsüchte und Begierden? Wurde Don Quijote ein Ritter von der traurigen Gestalt, weil er zu viele romantische Ritterromane gelesen hatte, oder erzeugten allzu viele don-quijote-haften Leser die Unzahl von Ritterromanen? Wer war zuerst da, die Schlange am Baum im Paradies oder zwei verführbare Minderjährige unterschiedlichen Geschlechts mit einer unbestimmbaren Sehnsucht? Die Romantiker versuchten noch eine Weile, mit Don Quijote auf dem hohen Ross zu bleiben, indem sie die Sehnsucht zur wichtigsten menschlichen Fähigkeit, seine Phantasie zum Heiligen Gral und – natürlich! – die Liebe zum alleinseligmachenden Allheilmittel erklärten. Aber sie konnten sich nicht einmal selbst auf die Dauer damit täuschen; jeder schrieb seinen eigenen Roman auf, wie noch jeder halbbegabte Jüngling, und damit war in den meisten Fällen alles gesagt, man konnte, getreu Hegel folgend, endlich heiraten und zum Katholizismus konvertieren (sicherheitshalber, falls es mit der literarischen Erlösung doch nicht klappte; Gott war ganz sicher noch nicht tot, aber er war zu einer Art Lebensversicherung geworden, auf Abruf). Derweil aber war die Menge der Leserinnen ohne auch nur eine sentimentale Träne zu weinen, zur Unterhaltungsliteratur gewechselt: Schauerromane, Kriminalromane, Geschichtsromane, auch gern Anekdoten, Kalendergeschichten, die ganze Palette der kleinen Erzählung für den Hausgebrauch – ach, es war ein wahres Wunderhorn, was die Autoren über die endlich lesereif gewordene Menschheit ausschütteten!
Und das Beste daran war: Jeder konnte selbst einen Roman schreiben! Einfache, prosaische Sprache, Reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist, keine Eintrittsgebühren in Form von Bildung, Wissen, Gelehrsamkeit – mit dem Unterhaltungsroman wird die Literatur demokratisch. Prosa, die Alten hätten den Kopf geschüttelt; Prosa, das war doch diese mindere Gattung von Rede, mit der die Advokaten die Leute über den Tisch zogen und die Demagogen die Massen aufwiegelten? Und wenn man von ‚ungebundener Rede‘ sprach, meinte das nicht: endlich Freiheit für die Sprache! – es meinte: Willkür. Abwesenheit von Form. Dichtung aber ist gebundene Rede, die Worte haben sich eng aneinandergeschlossen, sie arbeiten gemeinsam, Hand in Hand, Silbe an Silbe, an einer Bedeutung, die eben nicht auf der Straße liegt, zum Aufheben für jedermann, der Straßenschmutz klebt noch an ihr und sie ist mit Füßen getreten worden; nein, sie verlangt Aufhorchen und Zuhören und Mitklingen und selbst-Form-Werden! Und Narziss wendet sich ab, angewidert: Sieht er in dieser Art von Dichtung doch nicht sein eigenes Spiegelbild, die Erfüllung all seiner Wünsche und Träume, sondern: eine andere Form von Wirklichkeit. Eigenständig. Zu Sinn geformt. Auf Mitarbeit angewiesen, aber nicht auf: Konsum. Narziss will Selfies, von morgens bei abends, keine kalten Marmorbilder oder Figuren, die klüger sind als er selbst!
Während der Roman seinen triumphalen Siegeszug um die westliche Welt machte, darbten die anderen Gattungen. Goethe hatte, beinahe in einem Atemzug mit dem Bildungsroman, auch die Lyrik auf ein neues Muster umgestellt: Erlebnisdichtung sollte sie nun sein, eine Art lyrisches Befindlichkeitsprotokoll, das alle anderen Arten von lyrischer Selbstaussage auf einen Schlag unnötig und unmöglich machte (Naturdichtung? Lehrdichtung? Rollendichtung? Gelegenheitsdichtung? Ausgestorbene Arten, ein Verlust nur für Literatur-Paläontologen). Erlebnislyrik war das ins Unermessliche gesteigerte Mitfühlen; Narziss, der sich in einem unendlichen Teich dabei spiegelt, wie er sich spiegelt. Die Welt war sowieso inzwischen in einem Zustand geraten, dem wohlklingende Verse nicht mehr gerecht werden konnten; welche Wehklage könnte noch die Schrecken eines Weltkrieges oder allgegenwärtiger Armut besingen? In den Theatern spielte man derweil Historienstücke, sie handelten von – Kampf und Begehren, was sonst, aber in historisch korrekten Gewändern und in fürstlichen Häusern. Das Geld machte man derweil natürlich mit Unterhaltungsdramatik, Komödien, Singspielen, Rührstücken, und wo früher eine griechische polis im Schauern vereint sich die Haare raufte, gab es Verbrüderung nur noch im gemeinsamen Verlachen. Seelenhygiene? Oh ja, wahrscheinlich immer noch; aber die Schrecken der modernen Arbeitswelt und die Feinheiten der modernen Psyche verlangten eine andere Medizin als die starken Hausmittel der Alten, die im Großen und Ganzen kaum mehr als Abführmittel waren; starke Abführmittel, physisch und psychisch. Doch erst den modernen Medien war es vorbehalten, die Gefühlsmechanik des Menschen bis ins Feinste zu analysieren – und dann die große Symphonie darauf anzusetzen, den Rausch der Bilder und Bewegungen, den Aufstieg und Fall ganzer Welten. There and back again – Star Wars ist nichts Anderes; aber Kampf und Begehren haben nun kosmische Dimensionen, und die Computer simulieren jede nur denkbare Wirklichkeit als reale. Wozu noch Kunst? Wir sind doch überall schon gewesen. Nichts Neues unter der Sonne, und unter allen Millionen anderen wahrscheinlich auch nicht. Gehen wir zurück in unsere Höhle. Dort ist es dunkel, und die Schatten huschen über eine Leinwand. Es gibt auch Popcorn. (prodesse et delectare?)
Es könnte also sein, dass das Erfolgsmodell des Romans im 21. Jahrhundert an sein Ende gekommen ist; die Evolution braucht in Zeiten der Echtzeitsimulation von Realität kein Tagebuch mehr. Alle Geschichten sind erzählt, längst und unwiederbringlich zu Ende erzählt, und man kann die Muster nur noch ins Unendliche wiederholen, ein wenig abwandeln, ein wenig ironisieren, zwischendurch für tot erklären, dann mit großem Getöse wiedererwecken, ein wenig abwandeln, ein wenig ironisieren. Zudem hat die Literatur, im Bunde mit ihrer neuen Konkurrentin, dem Film und vor allem den Groß-Epen der Erfolgsserien, sowieso längst die Herrschaft über das Leben übernommen: Niemand kann sein Leben mehr abseits literarischer Muster leben, und selbst wenn sich jede erste Liebe für den erstmals von ihr Befallenen wie ganz neu und eben erfunden anfühlt – ist doch schon eben dieses Gefühl von Neuheit, Originalität und Unwiederholbarkeit selbst schon implantiert. Man wartet doch schon darauf, dass sich eben dieses Weltbewegend-Neue auch bei einem selbst ereignet, man hat genaue Vorstellungen davon, wie es sich anfühlen soll, die Realität hat längst keine Chance mehr gegen das Überhandnehmen des Phantastischen über das Wirkliche. Wir alle leben in der Pippi-Langstrumpf-Welt, die wir uns so machen, wie sie uns gefällt; nur leider haben wir keine übermenschlichen Kräfte und keinen Koffer mit Goldstücken, und wir können uns zwar selbst ohne Ende zum Affen machen, aber davon bekommen wir auch keinen.
Am Anfang war das Erzählen. Am Ende denkt man, vielleicht wäre es eine Möglichkeit, das Erzählen rückwirkend wieder abzuwickeln, zu seinem Ursprung zurückzukehren. Vielleicht, wenn man das Leben wiederentdecken könnte, das unter all den Geschichten verschwunden ist, die man uns von ihm erzählt hat, gäbe das die eine oder andere Geschichte. Es wäre, als würde man eine Schicht nach der anderen abnehmen, als würde man jedes Erlebnis, jeden Gedanken, jeden Irrtum und jede Erkenntnis neu untersuchen, unter dem Mikroskop der eigenen Erfahrung, auf der Suche nach ihrem wahren Kern. Und wahrscheinlich müsste man eine Zeitlang aufhören, von der Liebe zu erzählen, die man vielleicht am besten als das Gefühls-Äquivalent zum Wunschdenken beschreiben könnte: ein Bedürfnis, das so stark ist, dass es jede Realität übersteuern und zunichte machen kann. Schließlich gibt es ja Alternativen.
Wäre es möglich, dass die Geschichte eine andere gewesen wäre? Es muss möglich gewesen sein, die Evolution treibt immer neue Arme aus, sie experimentiert gern, um dann aber, the winner takes it all, die beste (und das heißt nicht die stärkste, nicht die moralisch empfehlenswerte, nicht die schönste, sondern nur: die am besten angepasste, und sei es eine an sich eine ziemlich verfahrene Situation) voranzutreiben. Und war nicht die gesamte Weltliteratur, von Homer (und seinen noch unbekannteren Höhlenvorfahren an) über die Minnesänger und Don Quijote und Wilhelm Meister bis hin zu Frodo Beutlin und Star Wars – Literatur von Männern gewesen? Nun spricht das, auch wenn Feministinnen das gelegentlich zu verdrängen scheinen, noch nicht gegen die Weltliteratur, die eine Zivilisationsleistung höchsten Ranges ist, über weite Strecken geprägt von erstaunlichen Virtuosen der Sprache und – auch das wird gelegentlich im Sinne des Weltfern-Schöngeistigen verdrängt – des Denkens; eine Kette von Überlieferung und Neuformung, auch wenn es gelegentlich scheint, dass die Zwerge auf den Schultern immer kleiner werden und die Riesen unter den Schultern immer größer? Aber kaum jemals, Jahrtausende lang, stand eine Frau dabei, eine Riesin schon gar nicht, und auch kaum ein Zwergenmädel. Waren sie nicht da, oder waren sie nur – nicht sichtbar, weil die Riesen sie nicht auf die Schultern ließen, sie spielten derweil zu ihren Füßen und ernährten sich von den gelegentlich herabfallenden Brosamen?
Dass Sappho, die Urmutter aller schreibenden Frauen, von der Liebe schrieb, nur von der Liebe und nichts anderen als von der Liebe, war das wirklich erstaunlich? Worüber hätte sie denn schreiben sollen! Immerhin, es ging nun um die Liebe einer Frau, es ging sogar um die Liebe einer Frau zu anderen Frauen, wie genau das gemeint war, ist anhand der wenigen überlieferten und gelegentlich auch entstellten Fragmente nicht mehr feststellbar. Lassen wir es also ein wenig freischweben, stellen wir es nicht fest, so wenig wir die Figur der Sappho wirklich fassen können. Aber es war wichtig, dass es eine Urahnin gab, jahrhundertelang sollten sich die ihre geistigen Töchter an sie klammern: Seht doch, sogar in der hoch gelobten Antike, gab es eine von uns, Platon hat sie gepriesen, sie ist sogar in einen Kanon aufgenommen worden, acht Lyriker der Antike und eine Frau. Geht doch, wäre man heute geneigt lässig zu sagen. Und wir lassen einmal die Gründe außer Acht, warum es so lange dauerte, bis sich neue Sapphos zu Wort meldeten; überspringen wir die Mystikerinnen des Mittelalters, die – von was sonst? – von der Liebe singen, ekstatisch wie Sappho, aber es war nicht die Liebe zu einem sterblichen Mann oder einer sterblichen Frau, nicht die zur einen reinen Rose, es war natürlich die Liebe zu Gott, und sie waren seine Himmelsbräute, die glühten, schmachteten, sich verzehrten nach ihm! Insofern ist Gott auch nur ein anderer Name für die eine Rose, für das Unerreichbare, Erträumte, aber vielleicht noch nicht einmal mit ganzem Herzen – Er-wünschte? Als dann das ‚dunkle‘ Mittelalter vorbei war (war es nicht doch nur die große Mischmaschine der Evolution gewesen, die, ein zweites Babel, die Stämme über die Welt verwürfelte, den Osten mit dem Westen mischte; der Norden und der Süden waren noch nicht entdeckt, auf das endlich das große Menschheitsprojekt beginnen konnte, von dem die Antike nur die Speerspitze, ein Versuchslabor auf äußerst begrenztem Raum gewesen war?) – als also all das vorbei war und die Renaissance und der Humanismus die Menschlichkeit (wieder)entdeckten, baute sich eine neue Schranke vor den Frauen auf: Denn gelehrt musste der Dichter nun sein, ein gebildeter Mann, des Lateinischen mächtig natürlich, ein Magister zumindest der freien Künste und all dessen, was Faust in seinem dramatischen Eingangsmonolog so herz- und gedankenlos hinwegwischen sollte, typisch privilegierter weißer Mann: „Habe nun ach, Philosophie, Juristerei und Medizin / und leider auch Theologie studiert“. Wie gern hätten einige Frauen das getan! Aber nein, es blieb bei Brosamen; dem, was Väter und Brüder gelegentlich abfallen ließen vom reich gedeckten Bildungstisch, erhaschtem Wissen, verheimlichten Lesen, atemlosen Schreibversuchen.
Am wichtigsten war es im Übrigen, der größten Falle zu entgehen, in die man als Frau mit einem kleinen Selbständigkeitsdrang und einem unstillbaren Lernbedürfnis gelockt wurde: der Heirat natürlich. Das ganze Leben einer Frau bestand darin, geheiratet zu werden; ihre ganze Jugend (von Kindheit sprach man noch nicht, Kindheit war ein Versehen der Natur, das überwunden werden musste) war eine einzige Vorbereitung auf diesen Endzweck (leider nicht besonders zielgerichtet, das Wesentliche blieb ausgespart, und was eine in der Hochzeitsnacht erwartete, musste ein dunkler Schrecken sein). Väter, Brüder, Onkel, Vormünder, alle waren nur darauf aus, eine endlich zu verheiraten; es war gut, wenn sie schön war, Schönheit ging immer gut auf dem Heiratsmarkt, notfalls konnte sie auch reich sein, es gab genug Männer, die darauf aus waren Geld zu heiraten. War sie aber weder-noch, sondern eben – mittelmäßig gutaussehend, mittelmäßig begütert, vielleicht von freundlichem Gemüt, vielleicht mit einem kleinen Bildungstrieb – ach, es wird ein Geschacher gewesen sein! Und dann begann der zweite Lebensteil, das Verheiratetsein; und das hieß für die allermeisten auch und vor allem: Kinder gebären, eins nach dem anderen, ohne Rücksicht auf die Gesundheit oder gar das eigene Leben; und, zwischen den Schwangerschaften, Kinder begraben, denn die Zeiten waren hart und die Kindersterblichkeit ebenso hoch wie die Todesrate bei den Geburten. Wann hätte man denn zur Feder greifen sollen? Man war verheiratet, das war ein Vollzeitjob (und gar nicht so ungerecht, wie es heute klingt, wenn man nicht darüber nachdenkt: denn der Mann hatte auch einen Vollzeitjob, er musste eine ständig wachsende Familie ernähren, und das war eben so wenig ein piece of cake oder die große Freiheit der Lebenswahl).
Zwei Chancen also hatte die schreibende Frau: nicht verheiratet zu werden – und trotzdem zu überleben. Das war ein außerordentliches Kunststück und fast nur im Kloster möglich, weshalb es für unsere neuzeitliche Sappho unter Umständen ein außerordentlich kluger Schritt gewesen wäre, ins Kloster zu gehen: Freiheit war hinter den Klostermauern mehr als davor. Oder, und das kam häufiger vor: Witwe zu werden; seine Freiheit wiederzubekommen zu einem Zeitpunkt, wo der Heiratsmarkt bereits für einen verschlossen war, und möglichst ein nettes Erbe dazu. Die Literaturgeschichte der schreibenden Frauen, ein schmales Buch insgesamt, kennt außerordentlich viele Witwen: Oft aus der Not heraus begannen sie mit dem Schreiben – und es stellte sich heraus, dass sie es konnten! Man konnte sogar irgendwann aufhören, immer nur von der Liebe zu schreiben und richtige Bücher schreiben, kluge Bücher, in denen es um Dinge ging, Philosophie, Weisheit, den Staat! Als Christine de Pisan, eine junge Witwe von außerordentlichen Gaben, eine etablierte Autorin geworden ist, beginnt sie, allegorische Bücher zu schreiben. Sie denkt sich eine „Stadt der Frauen“ aus, eine Art – weltliches Weisheitskloster, rein weiblich, unter dem Patronat der Jungfrau Maria und aller großen Frauen aus Geschichte und Literatur. Sollte es einen nicht zum Nachdenken bringen, dass eine der ersten Autorinnen der westlichen Welt – zuerst das Frauenhaus erfindet? Über die Liebe war Christine ebenso hinaus wie über den Kampf; als sie später über Politik zu schreiben begann, pries sie mit all ihrer Energie den Frieden. Wenn mehr Frauen, wenn Frauen früher geschrieben hätten – hätten wir mehr Friedensliteratur und nicht immer nur Kriege, Kriege, Kriege? (natürlich ist der Krieg der Vater aller Dinge, und man soll nicht die Zivilisationsleistung unterschätzen, die von Kriegen ausging, sowohl in technischer Hinsicht als auch in politischer, ironischerweise; aber die Mutter aller Dinge ist der Frieden).
Tatsächlich gab es noch eine dritte Chance für schreibende Frauen, jenseits der Klöster und des Witwentums; die Frauen des Adels entdeckten sie, ausgerechnet in Frankreich, wo der Absolutismus seine größten Triumphe feierten und die Sonnenkönige sich als Götter inszenierten: Es war der Salon, wo sich gebildete Männer und kultivierte Damen trafen. Natürlich, das muss man einschränkend dazu sagen, waren beide Teile von adliger Geburt, heute würde man sagen: definitiv überprivilegiert, vermögend, weltkundig und souverän. Und wie der König seine Untertanen gnädig beim morgendlichen Lever empfing und sie seiner Morgentoilette, einem veritablen Staatsakt, beiwohnen durften, empfing die Salondame ihre Gäste formlos im Schlafgemach – natürlich nicht zerzaust oder ungeschminkt, sondern zierlich, charmant und ungezwungen (jedenfalls insofern man in gepuderter Perücke und Korsett jemals ungezwungen sein konnte). Das neue Gesellschaftsspiel hieß – Konversation, und man betrieb es mit leidenschaftlicher Heiterkeit und unbekümmerten Ernst. Die Herren waren immer noch ein wenig die Ritter, die die eine Rose suchten, besangen und verehrten; aber die Rosen waren inzwischen anspruchsvoll geworden, sie verlangten nicht nur schöne Verse, sondern literarischen Geist ebenso wie zarte Empfindung oder geschmackvolle Geschenke. Man wechselte Liebesbriefchen, wohlriechende Billets; man las sich gegenseitig stimmungsvolle Gedichte vor, ja häufig dichtete man sogar gemeinsam – und schrieb es hinterher auf. Der Salon wurde immer größer, der Platz im Schlafzimmer war längst zu klein geworden. Aber immer noch empfing die Salondame, die absolutistische Herrscherin in ihrem Bereich, die Verehrer und Verehrerinnen formlos, an einem bestimmten Wochentag, ohne große Einladung; es gab auch keine festlichen Menüs, sondern Imbisse, bei denen sich weiter flirten, dichten, lachen, singen ließ. Und schließlich erwuchsen, man wusste kaum wie, aus all dem sogar ganze Romane: Sie hatten Frauen als Autorinnen, und in ihnen feierte der Salon sich selbst, die leidenschaftliche Heiterkeit und den unbekümmerten Ernst. Natürlich ging es darin um die Liebe, um nichts sonst sogar; aber sie war eine ebenso empfindsame wie verspielte Angelegenheit, nicht vom existentiellen Ernst der Ehegeschäfte (verheiratet war man in der Welt, nicht im Salon) oder der Ausschließlichkeit der einen Rose. Ein Thema mit Variationen eher, und ein Spiel, das die Frauen ebenso gut, ja vielleicht sogar: besser als die Männer beherrschten. Die Leserinnen liebten es jedenfalls. Die männlichen Konkurrenten allerdings nicht so; Kunst war schließlich nichts zum Spielen, es ging um Staatsaufträge, um kulturelle Reputation, um symbolisches Kapital! Und so startete eine der erfolgreicheren Verleumdungskampagnen in der Literaturgeschichte. Sie machte aus der verfeinerten Salonkultur (nun gut, man mag es gelegentlich übertrieben haben mit der Affektation…) eine Lächerlichkeit: ‚Preziös‘, so nannte man die Damen jetzt, und man meinte: gespreizt, albern, überheblich, so falsch wie ein falsches Schmuckstück, Talmi, Scheinglanz. Nichts von Substanz, von Wert, von Tiefe. Waren sie nicht wirklich lächerlich, diese Damen? Es war so einfach mitzulachen. Das ist es immer. Lachen ist eine unterschätzte Waffe der Evolution, und wer es für eine Entspannungsübung hält, ist noch nie zum Objekt eines homerischen Gelächters geworden.
Und so war es vorbei mit der Salonliteratur. Aber die Evolution ist erfinderisch, und nach dem Kloster und dem semi-öffentlichen Salon fand die schreibende Frau ihre dritte Heimat: Es war – das eigene Wohnzimmer, es war die beschränkte Öffentlichkeit des bürgerlichen Haushalts, es war – nun, das Kleinklein der täglichen Erfahrung, des Alltags, des weiblichen vor allem, und das heißt, weiterhin: des Geschäfts des Verheiratetwerdens, seine Vorbereitung, Anbahnung, Durchführung, seine Tücken und Strategien. Sense and Sensibility, so heißt der Titel einer der erfolgreichsten Frauenromane aller Zeiten, und Jane Austens Genialität zeigt sich daran, dass es eigentlich das Programm des neuen weiblichen Schreibens ist: Wenn Frauen von der Liebe schreiben und vom Verheiratetwerden (denn wovon sollten sie sonst schreiben, sie dürfen ja immer noch das Haus nicht verlassen?), tun sie das mit Verstand und Gefühl – und die deutsche Übersetzung trifft es nur halb, verschweigt die Sinnlichkeit in sensibility, aber auch den Sinn, das Empfindliche, das eben nicht nur vage Gefühlte, sondern reflektiert Empfundene. Denn das absolut Bemerkenswerte der neuen Frauenliteratur ist – neben ihrem Realismus, dazu später – ihre Klugheit. Wenn Männer von der Liebe schreiben, wird es leicht sentimental; was zum einen damit zusammenhängt, das Männer sentimentale Wesen sind, leicht rührbar, leicht beeinflussbar, geradezu abhängig von Zustimmung, Anerkennung, Geliebtwerden – jede nur halb erfolgreiche Ehefrau weiß das, und die Erkenntnis von Autohändlern, dass Autos nur dann gekauft werden, wenn die Frau dabei ist, weil sie schließlich die Entscheidungen, genauer: die rationalen Entscheidungen trifft, bestätigt das nur an einem besonders hübschen Beispiel.
Wie konnte dann um Himmelswillen das durch die Weltliteratur ebenso wie das Alltagswissen vagabundierende Gerücht entstehen, die Frauen seien es, die unfähig zur rationalen Erwägung seien, vielmehr ihren Gefühlen schutzlos ausgesetzt, weinerlich und geschwätzig, unentschieden und flatterhaft, kurz: das schwächere Geschlecht? Man fragt sich das wirklich. Und natürlich wird die Antwort ganz einfach, wenn man die übliche kriminalistische Faustregel anwendet, die leider in philosophischer wie auch in literarischer Hinsicht viel zu wenig beachtet wird: Wer profitiert? Das vermeintlich stärkere Geschlecht natürlich, das zwar eigentlich das schwächere ist (das beweist schon das das Y-Chromosom, eine biologische Schwäche, wenn es je eine gab), aber gerade noch klug und stark genug ist, das Gegenteil mit aller Gewalt in den Köpfen und Büchern zu zementieren (und sie waren es, die die Bücher schrieben, lange Zeit; Bildung hat sich wieder einmal ausgezahlt). Männer haben ihre Frauen lieber schön als klug; das hat nicht nur der selbst etwas tumbe Paris ganz am Anfang schon klug gemacht (und wozu hat es geführt? Raub der Helena, einen zehnjährigen Weltkrieg in der Antike; hätte er doch nur etwas klüger gewählt). Deshalb ist die Weltliteratur voll von schönen Frauen; nur sie werden geliebt, der (empirisch deutlich größere) Rest kann sehen, wo er bleibt (böse werden, entsagen, früh sterben, sich selbst in die schöne Welt der Literatur hineinträumen).
Verschwörungstheorie? Ein wenig wohl, aber, um ein bekanntes Zitat zu variieren: Nur weil du Feministin bist, heißt das noch nicht, dass die Männer (und wir reden hier nur: im Allgemeinen, im Durchschnitt, im Großen und Ganzen, es gibt viele löbliche Ausnahmen, aber eher selten unter Autoren) doch – nun, vielleicht nicht direkt böse, aber ein wenig allzu viel auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind! Herrschaft, darauf kommt es an, Kampf und Begehren; die Amazonen hackten sich ihre Brust ab, um den Bogen besser führen zu können, die Männer aber spitzten ihre Federn und malten ein Bild der Frau, wie es ihnen gefiel und von dem sie allein profitierten: schön vor allem, aber dazu abhängig, unterwürfig, anhänglich, angewiesen auf den großen Beschützer, seinen Geist, seine Urteilskraft, seine Moral, alles männliche Domänen. Als die Frauen jedoch zuerst lesen lernen, und dann auch schreiben, und schließlich, wie skandalös, auch denken – begannen sie, andere Frauen zu zeichnen. Kluge Frauen, mit Verstand und Sensibilität; Frauen, die gern auch ein wenig hübsch sein durften, schließlich sind auch kluge Frauen vor dem Wunschdenken, diesem Bastard alter metaphysischer Gewissheiten und Lebensversicherungen, nicht gefeit. Aber immer wieder finden wir uns in einem Szenario, wo ein Mann, meist ist es ein attraktiver und nicht ganz dummer, aus Versehen die schöne Frau heiratete, schließlich haben es ihm die Weltliteratur und seine ganze Erziehung so eingeimpft, dass das ein richtiger Mann tut, siehe Paris. Aber glücklich geworden wäre er nur mit der nicht ganz so schönen, ein wenig hübschen, aber auf jeden Fall klugen, häufig auch: lustigen, im Extremfall sogar: weisen Frau geworden. Zum ersten Mal tauchen in diesen Texten, nennen wir sie ruhig: realistischen Romanen von realistischen Frauen, auch wenn sie nicht alle genau in dieser Epoche geschrieben wurden, Frauen auf, mit denen eine kluge Frau sich identifizieren möchte. Keine Anziehpuppen, Engel, Weibchen oder Hexen; differenzierte, schwierige, komplizierte und unendlich liebenswerte Charaktere, gefangen in einer Welt, in der sie immer noch Anziehpuppen, Engel, Weibchen oder Hexen sein sollen. Als Virginia Woolf, vielleicht die erste Autorin von absolutem Weltrang in der Neuzeit, ihr Preislief auf George Eliot schreibt, eine ihrer wenigen Vorgängerinnen, die ihr beinahe nahekommen könnten, da schreibt sie, das seien Romane für Erwachsene. Treffender kann man es nicht sagen. Romane waren, die gesamte Weltliteratur und ihre große und beispiellose Erfolgsgeschichte hindurch, Geschichten für pubertierende Jugendliche, Schwärmer, Wunschdenker, Eskapisten, oder: Leute, die nicht erwachsen werden wollten. Das war ihr Erfolgsmodell: eine Welt zeigen, die anders war als die böse, schnöde, achso realistische Welt des Erwachsenenalltags (deshalb enden Bildungs- wie Liebesromane mt der Heirat, deshalb spielt Berufstätigkeit so gut wie nie eine Rolle, es sei denn, der Protagonist ist Künstler [also nicht recht erwachsen], deshalb sieht man nie eine Hausfrau bei der Arbeit oder einen Helden beim Zähneputzen). Erwachsenwerden ist, ganz einfach, allzu prosaisch. So prosaisch wollte noch nicht einmal der Roman sein (inzwischen gibt es aber, das muss man der Gerechtigkeit halber auch sagen, auch Romane für Erwachsene von Männern. Es gibt sogar ein oder zwei, die kaum von der Liebe reden).
Frauen lesen anders. Sagt Ruth Klüger. Als sie diese Erkenntnis in ihrer Autobiographie, die ihr zu später Berühmtheit verhelfen sollte, in einem unschuldigen Nebensatz versteckt, ist sie eine alte Dame. Sie war jedoch eine lebenslange Leserin, deren geradezu lebenserhaltender Lesehunger, vielleicht darf man das sagen, durch die Konzentrationslager nicht gemindert, sondern verstärkt wurde. Wer stundenlange Nazi-Appelle durch das innere Aufsagen von Schiller-Balladen erträglich machte, hat Literatur auf eine wahrlich existentielle Weise erlebt. Ruth Klüger ist auch eine angesehene Literaturwissenschaftlerin zu diesem Zeitpunkt, sie hat zu einigen Heroen der deutschen Literaturgeschichte gearbeitet, in den USA und in Deutschland. Sie hat außerdem selbst geschrieben, Gedichte von Kind auf, auch das war Überlebensnahrung für sie. Aber noch später, als die Kinder da waren und die Ehe und dann die Karriere, hat sie immer wieder Gedichte geschrieben, nicht mehr lebenserhaltend vielleicht, aber lebensbegleitend. Eines davon heißt: Conversation with the Angel of Death, es beschreibt ihre eigenen Metamorphosen und die des Engels, und am Ende sitzt ein gealterter Erzengel mit ihr am Küchentisch und hört ihr zu, wie sie über ihr Leben berichtet und die Literatur und das Lesen. Sein Geschlecht ist unklar, aber darauf kommt es am Ende des Lebens auch nicht mehr wirklich an; wir alle beginnen geschlechtslos, wenn auch mit einer geschlechtlichen Grundausstattung; und wir enden, vielleicht, jenseits des unvermeidlichen Geschlechterkriegs, der unsere mittleren Jahren prägt, und in diesem Krieg ist häufig genug auch das eigene Geschlecht der Feind, nicht das Fremde. Zwischendurch jedoch gibt es Männer; Männer kommen in Klügers Gedichten natürlich auch vor, aber sie rechnet nicht mit ihnen als Leser; denn Männer, das weiß Ruth Klüger zu diesem Zeitpunkt in ihrem langen Leserinnenleben, lesen nicht nur weniger insgesamt, sie lesen einfach anders. Zum Beispiel keine Bücher, wo ein weiblicher Autorenname auf dem Cover steht, selbst wenn es nicht in den grellen Pink-Tönen der modernen Chick-Lit prangt. Vielleicht gar nicht mit Absicht, vielleicht aus schlechter Erfahrung, vielleicht aus Klischee und Dummheit und Vorurteil, wer weiß das schon, es bleibt dabei: Männer lesen anderes, und sie lesen anders. Frauen auch; aber es ist Zeit, dass man in diesem Fall einmal, entgegen der sonstigen überwältigenden Gewohnheit, einmal wirklich davon ausgeht, dass in bestimmten Fällen (siehe unten) die weibliche Lektüre die Standardlektüre ist.
Nun kann man darüber aber immerhin ein wenig nachdenken, wenn man das Faktum erst einmal akzeptiert hat (das heißt ja immer noch nicht, dass es ein in Erz gegossenes Gesetz sein muss), was das genau bedeutet. So ist ja – das ist immerhin zahlenmäßig gut belegbar und wohl auch kaum bestritten – historisch der zahlenmäßig weitaus größere Teil der Literatur von Männern geschrieben worden (mit Literatur soll hier das gemeint sein, was seit dem 18. Jahrhundert als ›schöne Literatur‹ gilt, also fiktionale Texte in bewusster sprachlich-poetischer Gestaltung; keine Gebrauchstexte, keine wissenschaftlichen Texte, keine religiösen, keine Alltagskommunikation). Und in den meisten Texten, auch mit dieser Vermutung ist man ziemlich auf der sicheren Seite, agieren männliche Helden als zentrale Identifikationsfiguren. Frauen hingegen bekommen Nebenrollen zugewiesen, vor allem natürlich als Objekte männlichen Begehrens. Wenn man jedoch die Liebe in allen ihren Formen und Varianten aus der Literatur verbannen wollte, was bliebe dann überhaupt übrig? Die Frage meine ich durchaus ernst, und spontan fällt mir nichts ein, gar nichts. Literatur als schöne Literatur minus Liebe – na gut, vielleicht bleibt ein wenig Naturlyrik (aber selbst dort ist immer irgendwie ein verliebter Schäfer hinter den arkadisch wohlgeformten Büschen versteckt), vielleicht ein wenig Kriegerisches oder Politisches oder Historisches (aber selbst Danton ist verliebt). Nein, wenn man mit Ruth Klüger die Literatur meint, die sich als schöne Literatur auf den Menschen bezieht – da geht nichts ohne Liebe. Liebe aber ist, wie auch immer weit man das fasst und mit Einschluss aller Formen von Querness: geschlechterkorreliert. Selbst ein Epos auf die Freundschaft wird sagen, ob es sich um Männer- und Frauenfreundschaften handelt, selbst ein Erziehungsroman wird irgendwann auf den Punkt der Geschlechterbeziehungen zu sprechen kommen. Also, sagen wir mal mit allem ganz weiblichen Mut zum fröhlichen Reduktionismus: Schöne Literatur = Liebe = Geschlecht – und machen dann mit Ruth Klüger den letzten Punkt der Ableitungsreihe: Und wenn wir über Geschlecht lesen, identifizieren wir uns immer. Es geht uns immer an die eigene Haut und darunter, und es macht einen Unterschied, wie die Haut sich im Unterleib in Falten legt. Man kann schöne Literatur gar nicht lesen, ohne sich zu identifizieren – wer das tut, muss erst den Text töten und dann seinen eigenen Unterleib sterilisieren und schließlich sein Herz in Beugehaft nehmen. Erst dann könnte er sich, vielleicht, mit Handschuhen und Operationsbesteck und Mundschutz dem Text nähern, der schon auf der Bahre liegt und röchelt, weil wir ihm sein Herz und seinen Unterleib – und mit beidem zusammen seinen Kopf genommen haben, der ja einen Körper braucht, wenn er denn leben will und nicht nur Buchstaben aneinanderreihen und wieder dechiffrieren.
Das alles ist keine schöne Aussicht für Literaturwissenschaftlerinnen, denen Generationen lang genau das beigebracht wurde. Es könnte immerhin ein Anlass für eine schöne Polemik über wissenschaftliche Machtdiskurse oder den Männlichkeitswahn der Dominanz der Deutung über den Primärtext (oder der Undeutbarkeit, was auf das gleiche hinausläuft, wie alle Extreme) oder die unverzeihlichen Todsünden des böser Biographismus (Reduktionismus!) sein, aber das ersparen wir uns jetzt allen. Bleiben wir lieber bei dem interessanten Punkt, den man vielleicht durchaus jenseits des Geschlechterkrieges, aber in Begriffen des Geschlechtes diskutieren kann (ersparen wir uns auch die Gretchenfrage, ob gender oder sex – beides natürlich, was denn sonst, in immerwährender und überaus unübersichtlicher Wechselwirkung): Wenn wir sowieso immer identifizierend lesen, uns also in den Helden oder die Heldin oder gern auch den kleinen Hobbit oder den bösen Gollum hineinversetzen müssen, empathisch mit ihm leiden und lieben müssen (was gemeinhin übrigens durchaus als sozial wünschenswert betrachtet wird, Empathie steht gerade hoch im Kurs, und Literatur ist ihr Trainingslager), vielleicht sogar (das sage ich, nicht Ruth Klüger) uns in diesem Prozess einen Autor/eine Autorin imaginieren, einen Schöpfer, eine Schöpferin, weil geschaffene Dinge nun einmal nicht einfach so aus dem Nichts auftauchen, sondern aller Erfahrung nach einen Urheber haben, eine Urheberin – dann (und wir danken der Leserin für die Geduld bis zu diesem ›dann‹!) stehen wir besser dazu. Oder, noch besser: Lassen uns von unserem Lesegefühl leiten, es macht sowieso mit uns, was es will. Aber in einem zweiten Schritt zurück vom Text, und das lässt sich durchaus trainieren, packen wir das kleine Operationsbesteck aus, aber nur das mit den Samthandschuhen und den zierlichen Seziermessern, nicht die Knochensäge. Wir vergessen aber nicht unsere Lektüre, unsere ersten Leseeindrücke, vielleicht sogar und besser noch auch die zweiten und dritten nicht; wir distanzieren uns nur vorsichtig ein wenig von ihnen, so wie man ein Kind in die Freiheit entlässt oder (wenn es denn eine Nummer kleiner sein soll) einen Hund ein wenig von der Leine, unter Aufsicht natürlich (er will doch nur deuten!).
Und an dieser Stelle können und sollten wir sogar fragen: Macht das Geschlecht nun einen Unterschied? Nicht, um Schulnoten zu verteilen (Frau gut, Mann böse); nicht, um Klischees zu verfestigen (Frau passiv, Mann aktiv); sondern um zu sehen, wie unser Gehirn mit seinem Komplizen, unserem Unterbewussten, die Geschlechterrollen diesmal verteilt hat. Denn das tut es, ob wir es nun wollen oder nicht: Ohne Schemata, ohne erfahrungsbewährte Wahrnehmungsmuster, ohne erlernte Durchschnittswerte, ohne Vor-Urteile würden wir im Strom der Reizüberflutung untergehen. Und leider, leider, funktionieren diese Muster am besten in Zweierpaaren, schwarz-weiß, gut-schlecht, Mann-Frau, der älteste Reduktionismus der Welt, aber: zuverlässig. Übersichtlich. Und, vor allem, nötig: Denn wie soll man die Graubereiche erkennen und einordnen, wenn es kein Schwarz und kein Weiß gibt? Wie soll man Abstufungen erkennen, wenn die erste und die letzte Stufe im Unscharfen verschwimmen? Wie soll man Fremdheit erfahren können, wenn man alles Eigene verboten hat, beides aber nur durch Abgrenzung fassbar ist? Unendliche, ungegliederte, absolute singuläre Individualität wäre die Hölle, für unsere Wahrnehmung, unser Gehirn, unser Leben. Leben ist: Wiedererkennen. Literatur ist: Potenziertes, aber vereinfachtes Wiedererkennen (reduktionistisch, sowieso). Das Einzige, was wir dagegen tun können, ist: Eindeutige Wertungen zu vermeiden. Weiß ist nicht besser als Schwarz, Frauen sind nicht besser als Männer. Natürlich kommt man dann zu dem Punkt, dass Gut nicht besser ist als Böse – nämlich: als Extreme verstanden. Wenn man das verstanden hat, ist man aber schon ziemlich aufgeklärt und muss eh keine Geschlechterkriege mehr führen.
So weit, so gut oder schlecht oder grau. Man sieht auf jeden Fall schnell, dass die Wertungen sowieso ziemlich beliebig zugeordnet werden können, weil sie eine Art äußerer Index sind, auf den sich bestimmte Gruppen auf bestimmte Zeiten hin verständigt haben, aber Orange kann nicht nur in der Mode und im TV das neue Schwarz sein, sondern durchaus auch ideo-logisch. Männer und Frauen sind biologisch wie sozial konditionierte und codierte Extreme, dazwischen tobt das Leben, aber es schafft das Geschlecht dabei nicht ab, sondern variiert es nur (am Anfang gab es überhaupt kein y-Chromosom, sondern nur xx, die Bibel hat es einfach nicht gerafft, und wer weiß, vielleicht haben wir ja demnächst alle ein y-Chromosom, weil die Gentechnik das möglich macht und niemand benachteiligt werden soll?). Kategorien sind keine blöden Schubladen, sondern bestenfalls sinnvoll geordnete Karteikästen, wegen mir auch Nähkästchen mit ihren unendlichen vielen Fächern und ihrer Faltmechanik; oder Werkzeugkästen, gibt es etwas Praktisch-Wunderbareres als einen geordneten Werkzeugkasten mit all den unverwirklichten Möglichkeiten, die er enthält? Wenn man nun aber noch einen Schritt weitergeht, über all die Kategorien und Kästen und Muster hinaus, dort wo die Welt selbst wieder groß und unsortiert und chaotisch wird: Sieht man vielleicht, dass man nicht nur binäre Muster braucht, sondern vor allem Kontext. Stünden wir immer nur allein vor dem Text, den kein lebender Autor erschaffen hat, sondern völlig geschlechts- und geschichtslose Wesen, jedes eine Singularität, die einen künstlich verschlüsselten Code (und ja, das ist Dichtung, um das ältere, schönere Wort zu benutzen: gedichtete Sprache) entziffern sollen ohne jeglichen Hinweis – es wäre nicht nur ein mühseliges, sondern auch ein fruchtloses Unterfangen. Natürlich, es gibt Texte, die sich in ihrem Rätselcharakter erschöpfen, sie müssen noch nicht einmal die Schlechtesten sein; aber deswegen lesen wir nicht (also: schöne Literatur, Dichtung). Wir lesen, weil wir allein sind (Am Anfang. Im Universum. Als Unverstanden Liebende. Als verzweifelt erkennen Wollende. Als Mann. Als Frau. Am Ende). Und wir sind allein, weil wir anders sind – aber nur innerhalb der gegebenen Grenzen und Kategorien. Und wir mögen wie Rumpelstilzchen dagegen aufbegehren, immer wieder mit dem Fuß aufstampfen und uns die Haare raufen und dreimal uns im Kreis drehen: Der Text weiß unseren Namen, und unser Geschlecht sowieso, und er ruft auch den Leser bei seinem Namen.
In der Fernsehserie M.A.S.H. gibt es eine kleine Szene, die ich schon lange wunderbar lakonisch und gleichzeitig rührend fand, bevor ich sie verstanden hatte. Die Serie spielt im Koreakrieg, und drei Ärzte, die das Schicksal in ein gemeinsames Zelt mitten im Niemandsland zwischen Granatenhagel und einen nicht aufhörenden Strom von Schwerverletzten verschlagen hat, gehen sich gegenseitig gehörig auf die Nerven. Einer von ihnen heißt Charles Emerson Winchester III und kommt aus den besten Kreisen in Neuengland, einer Art amerikanischen Einwandereradel, er hat auch ein Grammophon dabei und hört am liebsten Wagner. Meistens geht er den anderen mit seinem Snobismus auf den Keks, und sie spielen ihm deshalb sehr rüde und kindische Streiche. Aber manchmal wird Winchester von den Drehbuchautoren doch ein wenig menschlich gemacht. So erzählt er einmal aus seiner Kindheit, und zwar von den Regeln beim abendlichen Dinner: Jedes der sicherlich wohlmanikürierten und adrett hergerichteten Kinder habe nämlich eine kleine Spanne Zeit zugestanden bekommen, um von seinem Tag zu berichten. Aber es waren wohl mehrere Abkömmlinge, und die Zeit endete exakt mit dem Auftragen des Salats; und deshalb, so berichtet Winston nun in seinem allerbesten, immer ein wenig näselnden upperclass-accent, spreche er noch heute automatisch schneller, wenn er den Salat auf sich zukommen sehe.
Wem an dieser Stelle das Herz nicht ein wenig blutet, der hat es wohl schon in der Suppe verloren. Mir jedenfalls ging das nahe, obwohl in unserem bürgerlichen elterlichen Haushalt sicher eher zu wenig als zu viel gesprochen wurde beim Essen. Was diese Anekdote jedoch zeigt, ist nicht nur die sicherlich beklagenswerte mangelnde Wärme in neureichen Haushalten oder die Konditionierung von Kindern zu effizienter Kommunikation. Sie zeigt auch, dass unser Sprechen nicht nur geprägt ist von angeborenen Fähigkeiten oder der späteren Erlernung eines restringierten oder elaborierten Codes, je nach Bildungsferne oder -nähe des Haushalts: Sprechen findet auch immer in Situationen statt, in lebendigen sozialen Interaktionen, und diese Situationen hinterlassen bleibende Spuren in der konkreten Redeweise, die wahrscheinlich nur selten bewusst gemacht werden.
Das klingt einleuchtend und ein wenig trivial, ist es aber nicht ganz. Klassische Kommunikationsmodelle berücksichtigen das zunächst durchaus: Sie unterscheiden verschiedene Funktionen gesprochener Sprache, von der einfachen Mitteilungs- über die Ausdrucksfunktion bis hin zur Appellfunktion. Für das literarische Sprechen jedoch haben die Kommunikationswissenschaftler eine ganz eigene Kategorie vorgesehen. Sie nennt sich ›poetische Sprachverwendung‹ und bedeutet: Im dichterischen Sprechen besinnt sich die Sprache ganz auf sich selbst, sie wird sozusagen spielen geschickt, und was spielt sie für schöne Spiele ganz mit sich selbst, sie reimt sich, sie bespiegelt sich, sie erfindet immer neue Bilder! Poetische Sprachverwendung, das ist es, was die schöne Literatur ausmacht (na gut, vielleicht auch ein wenig Ausdruck, gelegentlich sogar ein Appell, aber das ist böse engagierte Literatur, mit der spielt man nicht, wenn man ein ordentlicher guterzogener stubenreiner Poet ist).
Nun könnte man, an den Fall Winchester anschließend, zeigen, dass seine Sprache von vielen Faktoren beeinflusst wird: Sie ist ein sehr elaborierter Code, den er in seiner upperclass-Welt gelernt hat, samt dem dazugehörigen posh accent, weil er ein wesentliches Mittel ist, dieser sozialen Klasse Status und Autorität auch in Zukunft zu sichern. Dazu kommt eine wahrscheinlich angeborene, auch in seinen musikalischen Interessen zu spürende, nicht geringe ästhetische Sensibilität, eine Freude an Klängen und Spielereien. Natürlich liest Winchester auch gehobene Literatur, was noch einmal dazu beiträgt, seine technischen Sprachfertigkeiten zu verfeinern, ebenso wie sein durchaus scharfer, präziser Verstand, der ihn Dinge leicht erfassen und spitz auf den Punkt bringen lässt. Winchester wäre gar kein schlechter Poet, vielleicht; ein wenig egomanisch ist er natürlich, aber das hat auch noch keinem Dichter geschadet. Darüber hinaus jedoch ist sein Sprechen selbst – und damit verbunden auch sein Denken (das ist ein Sprung, ich weiß, aber wir machen ihn einfach mal probeweise und bauen die Brücke erst später) – durch die sozialen und familiären Strukturen geprägt, in denen er aufgewachsen ist: Situationen, in denen gesprochen worden ist, in denen er als Kind, als Heranwachsender, sicherlich jedoch immer: als männlich wahrgenommen wurde. Vielleicht durften die Mädchen ja erst während der Nachspeise sprechen, das wäre durchaus vorstellbar: die Knaben natürlich zuerst, und die Mädels dann, wenn alle satt sind und sowieso keiner mehr zuhört, lasst sie halt plappern, und wenn der Kaffee kommt – ja, genau.
Bedeutet das aber nun, und damit sind wir endlich bei der Winchester- oder Gretchenfrage dieses etwas arg umständlichen Umwegs über Salate und Koreakriege angekommen, dass auch das Sprechen der Dichter diesen sozialen, oft unbewusst verfestigten Mechanismen der Alltagskommunikation unterliegt? Oder verlässt der Dichter, sobald er poetisch spricht, den dinner room und geht – auf den Spielplatz, ins Paradies der Wörter, wohin auch immer, jedenfalls: ein Reich, in dem die Sprache nun ganz bei sich ist und ihre schönen Spiele spielt, wo er niemals unterbrochen wird, weil der Salat droht? Aber woher soll er diese völlig unbefleckt empfangene Sprache nehmen, die nur sich selbst kennt? Woher die Sätze, die nicht im Alltag schon abgenutzt sind, woher ein Sprechen, das keine Macht kennt, kein Ziel, keine Funktion? Natürlich gibt es Sprachexperimente in der Dichtung, gibt es Dichter, die die Alltagssprache zerspielen und zerstören, die Sprachregeln missachten, die Bilder so entlegen wählen und so verwegen paaren, dass man ihnen kaum mehr auf die Spur kommt. Aber das gilt doch nur für einen recht kleinen – und, seien wir ehrlich: vielleicht gar nicht den bedeutendsten, bewegendsten oder auch nur begabtesten – Teil der Literatur, ihre avantgardistischen Spielwiese, über deren Eintritt die großen gemeinhin französischen Theoretiker wachen (und nur gelegentlich meint man schwache Rufe zu hören: »Der kleine Roland möchte von seinen Eltern im Spieleparadies abgeholt werden!›). Nein, unsere Sprache und unsere antrainierten Redeweisen sitzen viel zu tief in unserem Ich, als dass wir sie einfach so ablegen könnten, wenn wir uns feierlich zum Dichten erheben. Poetische Sprachverwendung ist zwar ganz sicher eine reflektiertere, verdichtete, verkleidete, verfremdete Sprachverwendung. Aber an ihr klebt die gelebte, die verinnerlichte Sprache eines bestimmten Individuums, gebunden nicht nur an sein Gehirn und seine Sprachwerkzeuge, sondern an seinen Körper, seine Erfahrungen, vor allem aber: seine Sprech- und Hörerfahrung. Wenn der Salat kommt, spricht man automatisch schneller.
Oder das Dessert, und damit sind wir wieder, in einem diesmal eher kleinen Sprung, bei der Geschlechterfrage, die nun endlich als eigentliches Thema, als Hauptgang sozusagen, eingeführt werden soll: Schreiben Frauen anders, und zwar nicht nur im Blick auf ihre Erfahrungen oder Ideen, sondern ganz konkret im Blick auf ihre poetische Sprachverwendung? Gibt es ein weibliches dichterisches Sprechen, das (und wir wiederholen alle im Chor: natürlich als Stereotyp, als konditioniertes Verhalten, nicht in wertender Hinsicht, im Durchschnitt gesehen, und Ausnahmen bestätigen die Regeln, sie bestätigen sie tatsächlich, das wird meist übersehen, wenn man mal wieder den gelernten Spruch hersagt, es heißt also auch: Es gibt die Regel, und sie gilt!) – gibt es also unter all diesen Klauseln und Konditionen nötiger Reduktionismen und Typisierungen ein weibliches dichterisches Sprechen, und wie unterscheidet es sich vom männlichen? Weibliches Sprechen würde dabei eben ein Teilbereich der sozialen Konditionierung des Sprechens in konkreten Situationen sein, wie es das Winchester-Beispiel beschreibt; ein Element unter mehreren anderen, das zu einer individuellen Sprachverwendung beiträgt, sie in sicherlich individuell unterschiedlichen Ausmaßen mitprägt, sie auf einer meist wenig bewussten Ebene in allen Kommunikationsakten ausbildet? (noch einmal: Sprechen Frauen schneller, wenn sie das Dessert sehen, und Männer beim Salat?)
Man könnte nun mit all den Alltagsweisheiten kommen, dass Frauen besser zuhören (sie tun es, im Durchschnitt und in der Regel) und auch in der Kommunikation mehr auf Harmonie und Konsens aus sind als auf Streit und Dominanz (ja, auch das, und das ist ein Grund stolz zu sein und nicht sich zu schämen oder als unterdrücktes Opfer zu gerieren). Vielleicht kann man aber auch wenig männlich-systematisch vorgehen (auch darauf kann man ja stolz sein, als Mann oder als Frau). Denn Sprache besteht aus vielen verschiedenen Elementen, und es wäre denkbar, dass die Verschiedenheiten sich bei einzelnen Elementen stärker auswirken, bei anderen die Gemeinsamkeiten größer sind; bei aller nötigen Verallgemeinerung kann man ja durchaus im Einzelnen differenzieren (das wird immer wieder gern übersehen, von all denen, die laut ›Reduktionismus‹! von oben herab schreien, im wesentlichen aber ihre Expertenautorität gegen missliebige Laienangriffe von unten verteidigen wollen). Die Biologie sagt uns im Übrigen, auf der gröbsten Ebene der Verallgemeinerung, dass Frauen das entwickeltere Sprachvermögen haben (hängt mit den verschiedenen Gehirnbereichen und ihren Verbindungen zusammen, kann man bei den Spezialisten nachlesen, sie mögen Recht haben). Offensichtlich hat das jedoch nicht dazu geführt, dass sie sich in der Weltliteratur durchsetzen konnten, und das kann frau schon zum Nachdenken und auch zur Selbstkritik veranlassen: Wenn wir doch, theoretisch, bei entsprechender Förderung, mit ein wenig Übung und Aufmerksamkeit, besser sprechen könnten (was immer das genau heißt: schöner, präziser, wirkungsvoller, anschaulicher?), warum haben wir es nicht getan, laut und öffentlich? Vielleicht haben wir es ja getan; aber eben nicht laut und öffentlich, sondern leise und privat. In den Kämmerchen, in die man uns eingesperrt hat (manchmal lässt es sich auch ganz gut darin leben). Mit Männern, die eher Grobkommunikatoren sind, aber eben deshalb – sanft gesteuert, man möchte sagen: labipuliert werden müssen (wenn es nicht so entsetzlich obszön klänge), mit Engelszungen und Wiegenklängen beruhigt, besänftigt, geleitet, gelenkt. Vielleicht haben ja Frauen sogar erfolgreicher kommuniziert; vielleicht sähe die Weltgeschichte anders aus, wenn Frauen die Verhandlungen geleitet hätten, einiges spricht dafür, durchaus in der aktuellen Politik. Aber meistens ging es ja nicht ums Sprechen.
In der Dichtung aber geht es um die Sprache, keine Ausflüchte, es geht vor allem und direkt um die Sprache und das Sprechen, wir erinnern uns: poetische Sprachverwendung. Beginnen wir im Kleinen, beginnen wir: bei den Wörtern. Wörter haben in verschiedenen Sprachen grammatische Geschlechter, das ist meist nicht besonders logisch (die Sonne, der Mond; der Geist, die Seele); und mir geht es auch nicht um geschlechtergerechte Sprache, ein Phantom von Gleichheitsfanatikern (was einen nicht daran hindern muss, gelegentlich, vor allem: wenn es sinnvoll ist, die weibliche Form zu verwenden: Leserinnern. Dichterinnen). Nein, es geht zunächst um das, was in unserem Kopf passiert, wenn wir ein Wort hören und es verstehen. Krieg zum Beispiel. Ein Wort, das Schrecken weckt. Aber sind es die gleichen Schrecken in einem Männer- oder in einem Frauenkopf? Oder: Geburt? Liebe? Wegen mir auch: Einkaufen. Fußball. Gedicht. Beruf. Kleid. Schuhe. Kind. Natur. Technik. Apfel. Birne. Was auch immer: Wörter sind nicht nackt, unschuldig, eindeutig. Sie tragen ihre Bedeutung nicht auf den Leib tätowiert oder in eherne Tafeln gehämmert. Sie sind wolkig, ganze Assoziationsschwärme sammeln sich um sie in unserem Kopf, und in keinem Kopf werden es die gleichen sein, und je größer, je emotionaler besetzt, je existentiell bedeutender sie sind, desto wolkiger wird es. Schon auf der Wortebene ist das Missverständnis, und zwar in jeder beliebigen Kommunikation, wahrscheinlicher als das Verständnis; das lässt sich nicht nur an Ehestreitigkeiten, sondern auch an Koalitionsverhandlungen oder Prüfungsgesprächen beobachten. Und diese Assoziationswolken, diese Schwärme von emotional mit dem Wort verbundenen Erinnerungen, Erfahrungen, Wünschen, Vorstellungen – sind, auch, nicht zuletzt, geschlechtlich kodiert (ich sage nur: Krieg. Geburt). Wenn das aber so ist, hat die Sprache schon auf der untersten Ebene (wenn wir ihren Klang jenseits der Bedeutung einmal außer Acht lassen, über den man aber auch noch nachdenken könnte; eine höhere Stimme wird auch anders wahrgenommen als eine tiefere, und das infiziert die Bedeutung ganz sicher) ein nicht nur grammatisches, sondern semantisches Geschlecht: in den Wörtern, die doch die Atome aller Poesie sind, die sich gegenseitig anziehen und abstoßen, gelegentlich reimen, manchmal untereinander verschwören, Verwandtschaften haben und Feindschaften.
An dieser Stelle könnte man schön weiter spekulieren, und wir erlauben uns das einfach mal: Haben Frauen andere Wortvorlieben (weichere Wörter oder härtere Wörter, phantasievollere Wörter oder klar konturierte Begriffe, alltagssprachliche oder fachsprachliche Wörter, Nettigkeiten oder Obszönitäten)? Ziehen sie bestimmte Wortarten vor, eher aktive oder eher passive Verben, lieber beschreibende als kategorisierende Adjektive, welche Verbindungswörter, Konjunktionen (aber, schrieb Virginia Woolf, man kann nicht immer nur ›aber‹ sagen!, dann sagte sie wieder: ›aber‹), Zeitadverbien? Sind sie wortreicher oder wortknapper (das Vorurteil sagt, dass Frauen die ganze Zeit plappern, wer nur einmal in einem business meeting mit vielen Männern gesessen hat, sieht das anders)? Situationen, haben wir gesagt, wiederholte kommunikative Erfahrungen prägen unsere Sprache auf einer nicht immer bewussten Ebene. Unterbrechungen beispielsweise. Jede Frau weiß, dass sie sich Kommunikationsanteile mühsam erkämpfen muss; historisch hatte sie über weite Strecken einfach nichts zu sagen (das Weib schweige in der Gemeinde und all seine Verwandten), und bis heute reden die meisten Männer lauter, länger, rücksichtsloser (kein Vorwurf, sie sind es einfach so gewöhnt). Nicht nur in Dramen halten meist Männer die handlungstragenden Monologe, auch im realen Leben. Frauen hingegen sind es gewohnt, ihre Argumente vorsichtig vorzutragen, tastend, probeweise. Häufig nehmen sie, was gleichzeitig rührend und ein wenig dumm ist, die Gegenargumente schon vorweg, in der meist vergeblichen Hoffnung, den Angreifern den Wind aus den Segeln zu nehmen und eine Weile freundlich in beruhigtem Wasser nebeneinander hersegeln zu können; aber nein, der Sturm kommt trotz aller Behutsamkeit, wenn es denn endlich einmal zur Sache geht. Tatsächlich sind Frauen sogar natural born sceptics; ihr Leben hat sie gelehrt, dass wenig von dem, was die Männer, die Väter, die Lehrer so energisch behauptet haben, der Lebenserfahrung standgehalten hat, zumindest nicht ihrer Lebenserfahrung als Frau. Man hatte ihnen geglaubt, und sie hatten so sicher geklungen, nie auch nur ein Zweifel in der Sprachmelodie, ein zartes Fragezeichen andeutend; nein Ausrufezeiten, wohin man sah. Be-hauptung. Hauptsätze. Direkte Rede. Auf den Punkt gebracht. Keine Widerrede! (aber…)
Natürlich sind das krude Verallgemeinerungen, aber wir erinnern: Wir sprechen über einen Durchschnitt, eine Wahrscheinlichkeit, ein erfahrungsbewehrtes Stereotyp, Ausnahmen bestätigen die Regel, und uns interessiert jetzt die etwas langweilige Regel, nicht die liebliche oder verstörende Ausnahme. Wenn das Leben die meisten Frauen also gelehrt hat, vorsichtig abweichende Meinungen zu äußern; eher skeptisch auf allgemeine Wahrheiten zu schauen; ihre eigene Lebenserfahrung freundlich verpackt als mögliche Alternative zu präsentieren; ein wenig auf abweichenden Gedanken zu verweilen und versuchen, wohin sie führen; gelegentlich lieber beiseite zu sprechen, als unter die argumentativen Knüppel eines männlichen Mainstreams (mixed metaphor, vielleicht mit Gründen) zu geraten – sollte das ihre dichterische Sprache nicht prägen? Und ich meine nicht nur die Sprache, die sie ihre weiblichen Figuren sprechen lassen, das sowieso; nein, ich meine ihren Erzählton, ihre lyrische Bildlichkeit, ihre sprachlichen Argumentationsstrukturen, die Länge und Kürze ihrer Wörter wie ihrer Sätze, den Rhythmus des gesamten Sprechens (Unterbrechungen, immer wird man unterbrochen), auch: ihr Zeitgefühl – poetisches Sprechen ist zu einem guten Teil strukturierte Zeit in Rhythmen und Kadenzen, an denen man bei gesprochener Sprache sogar relativ gut erkennen kann, ob ein Mann oder eine Frau spricht. Es ist eine verkörperlichte Ausdrucksform in Zeichen, die aber gleichzeitig eine Stimme dazu denken lässt, sie kann sanft klingen oder hart, beruhigend oder verstörend. Denn auch das tun wir beim Lesen: Wir denken eine Stimme hinzu, die die Wörter und Sätze in unserem Kopf artikuliert, und das ist nicht die eigene. Jeder, der einmal einen Dichter, eine Autorin, die einen ausgeprägten Personalstil haben, einen eigenen Text hat lesen hören, wird diese Stimme niemals wieder vergessen, so tief ist sie verbunden mit den Wörtern und ihren Windungen – weil sie sie am besten kennt, weil sie in ihnen gewohnt hat, weil sie untrennbar von der Person und ihrer Erfahrung sind.
Aber Literatur ist, um von den Wörtern und Sätzen auf die nächsthöhere Ebene zu kommen, ja auch Handwerk, das man als solches lernen kann und sollte: Niemand schreibt für sich allein, und wer heute noch ein Original sein wollte, im Sinne des stürmerischen und drängerischen one-of-its-own-species-Originalgenies, der müsste in einer Höhle geboren worden und anschließend nicht von den Massenmedien entdeckt worden sein. Nein, bevor man schreibt, hat man schon gelesen; und meistens Texte von Männern, es ist nicht direkt ihre Schuld, sie haben halt die Weltliteratur gepachtet, und Frauen durften höchstens gelegentlich am Rande des Ackers spielen oder die abgedroschenen Hüllen aufheben und versuchen, ein wenig nahrhafte Getreidestärke (von Honig wollen wir hier nicht reden) aus ihnen zu saugen. Bevor man etwas schreibt, das dann vielleicht auch zur Veröffentlichung gemeint ist, sollte man das Schreiben geübt haben, im stillen Kämmerlein, dem pubertären Tagebuch, der Schülerzeitung, wie und wo auch immer: Es ist noch keine Meisterin vom Himmel gefallen und in den Bestsellerlisten gelandet (ok, Ausnahmen ...). Früher einmal war Schreiben sogar eine echte Bildungstechnik, die in Schulen gelernt wurde, in enger Verbindung zum Reden übrigens, dem öffentlichen Reden, wie es der Mann als Prediger, als Jurist, als Politiker brauchte: Rhetorik war eines der Hauptfächer antiker Bildung, und schon die Alten waren ausgeklügelt genug darin, um ganze Handbücher mit rhetorischen Kniffen zu verfassen, samt Erfolgsgarantie für die damals schon leicht verführbaren Massen. Rhetorik, öffentliche Redekunst, ach, man wäre manchmal froh, wenn es das heute noch gäbe! Als begnadeter Redner gilt aber heute schon einer, der nur in markigen Hauptsätzen spricht, die buzzwords beherrscht und Charisma ausstrahlt, am besten jugendlich-apart verpackt und eimerweise. Rhetorik aber war eine diffizile Technik, sie hatte das Denken heimlich belauscht und sich notiert, was das Gehirn so alles tut, wenn man es denn einigermaßen diszipliniert laufen lässt: Gegensätze zum Beispiel, was kann man nicht alles tun mit Gegensätzen, sie gegeneinander ausspielen, sie verschränken, sie paradox zuspitzen, sie verschwinden und wieder auftauchen lassen! Wiederholungen, das Gehirn liebt Wiederholungen genau wie die Masse. Wiederholungen schaffen Verständnis und Vertrauen, was man dreimal gesagt bekommt, muss endlich wahr sein, und umso hübscher, wenn wir die Wiederholungen etwas variieren, etwas maskieren, mal am Satzanfang, mal am Satzende, mal mit einem beinahe identischen Wort gepaart, mal im Klang, mal im Sinn. Die Rhetorik spielt mit Wörtern, sie spielt mit Sätzen, sie spielt mit Bildern und Gedanken (und schon hier sieht man, dass unser früherer Sprung gar nicht so groß war). Aber sie tut das im Unterschied zur Dichtung nach Spielregeln, handwerklichen Anweisungen, die einem geübten und erfahrenen Schreiber in Fleisch und Blut übergehen. ›Fleisch und Blut‹: wahrscheinlich eine der ältesten Metaphern der Welt, ein genialer rhetorischer Trick und gleichzeitig eine tiefe Wahrheit: Der Mensch ist ein Wesen aus Fleisch und Blut, aus festen und flüssigen Teilen; sie wollen genährt sein, gepflegt sein, gewärmt und behütet, das ist unser tiefster Instinkt, und Dichtung segelt nur in leichten Wölkchen sehr weit oben darüber hinweg, wenn sie das nicht erkennt: Fleisch und Blut werden, eine säkulare Eucharistie.
Ein besonders wichtiger, man könnte auch sagen: fluider Teil der Rhetorik ist die Bildlichkeit; und hier kommen wir immerhin in einen Bereich, der nicht ganz so leicht zu lehren ist wie ein biederer Chiasmus oder ein Hendiadoyin (Fleisch und Blut, ja, irgendwie auch). Ohne bildliche Sprache gäbe es keine (schöne) Literatur; man könnte sogar so weit gehen – siehe unseren obigen, verwegenen Sprung –, dass es ohne Bilder ebenso wenig Erkenntnis gäbe wie ohne Sprache. Denn unsere Sprache ist über weite Strecken und lange Zeiträume hinweg aus Bildern entstanden; ohne eine visuelle Anschauung, wäre die Sprache blind und wir könnten nicht einmal ein Brot kaufen, geschweige denn ein Gedicht schreiben und verstehen. Was ist Bildung, wenn nicht just dieser Prozess der reflektierten Aneignung von Welt, wie sie uns als Bild, als optischer Eindruck umgesetzt in Sprache, gegenübertritt? Wir machen uns ein Bild voneinander, und als Gott den Menschen verbot, sich ein Bild von ihm zu machen, war das gleichzeitig sehr weise und sehr erbarmungslos: Ohne Bild konnte er uns nicht in Fleisch und Blut übergehen, ohne Bild blieb er ein Begriff, ein Geist, ein Gespenst. Und die sofort einsetzende, massive Überschreitung dieses Abbildungsgebots war eine der wesentlichen Triebkräfte der menschlichen Kultur- und Geistesgeschichte, die lange, bevor sie anfing den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, Gottesbilder machte, in Sprache, Ton und Marmor. Manche nennen es Phantasie, manche nennen es Traum, wieder andere Kreativität, den Ur-Trieb etwas anschaubar zu machen: aber niemals ohne Bilder. Sogar die Philosophen habe ihre Bilder, und immer da, wo sie sie zugunsten des Begriffs verleumdet haben, wurden sie besonders – nun ja, sagen wir nicht männlich, sagen wir: weltfremd.
Denn Frauen, wir begeben uns nun wieder auf die Ebene der Verallgemeinerung und des Stereotyps und der blassen Regel, sind vielleicht vieles, aber eines sehr selten: weltfremd. Selbst wenn man ihnen, wie lange Zeit selbstverständlich, die äußere Welt entzogen hat, ihren Aktionsradius eingeschränkt, ihre Bildung behindert und ihre Kommunikation aufs Äußerste reduziert hat: Gerade dann lebten Frauen mitten in der Welt, wenn auch in einer sehr, sehr kleinen. Denn wie hätten sie sich über ihre kleine Welt erheben können? Die Flügel des Geistes waren ihnen beschnitten worden, sie stießen ja schon mit dem Kopf an eine nicht nur gläserne Decke, wenn sie nur das Haus verlassen wollten! Natürlich werden sie geflohen sein, in ihrem Inneren, in Gedanken, Wünschen und Träumen, geborene Eskapistinnen, die wir alle sind, seitdem wir das Nest der Kindheit verlassen mussten und es nicht wiederfinden können, niemals. Aber es gab so viel zu tun, im Haushalt, mit den Kindern, bei der Pflege der Alten und beim Kochen; und es gab so wenig Abwechslung, Ablenkung, Variation. Leben, damit waren Frauen beschäftigt: Leben gebären, erziehen, trösten, versorgen, pflegen in Krankheit und Not. Begriffe wechseln keine Windeln. Theorien heizen die Hütte nicht. Logik bringt einen nicht weiter, wenn der Mann einen schlägt. Gott, ach Gott, natürlich wendet man sich an Gott und klagt sein Leid, betet um Erhörung und Erlösung, hofft ein wenig – und lebt weiter. (Ja, das ist Pathos, und Pathos ist eine Form, die für großes Leid reserviert ist und deshalb von Frauen selten verwendet wird. Sollte es aber doch; manchmal kommt es auf Größe an, und manchmal eben nicht).
Frauen also sind dicht am Leben, und zwar dort, wo es schmutzig und Fleisch und Blut ist, wo es Salat und Suppe und Nachspeise ist; als Hauptgang treten sie allerdings selten auf. Wie sollte das nicht ihre Bilder prägen, die Art und Weise, wie ihr Geist sich die Welt anschaulich macht? Selbst heute, wo sich die Lebens- und Arbeitsbereiche von Männern und Frauen weitgehend angeglichen haben (jedenfalls in der westeuropäischen Zivilisation, die wir allzu leicht zum allgemeinen Muster erklären): Wer bringt die Kinder zur Welt, wer säugt sie, wer übernimmt einen großen Teil ihrer Erziehung? Wer pflegt die Alten und Kranken, ob privat oder beruflich? Wer ist das Genie im Multitasking, was nur eine verklärende Redeweise (rhetorisch: Hyperbole) dafür ist, dass Frauen gefälligst alles gleichzeitig zu leisten und zu tun haben, während Männer schön einsinnig vor sich hin Karriere machen können? Wer wird dafür gerühmt, auch im Arbeitsleben sensibel für Menschliches, soziale Beziehungen, kommunikative Probleme zu sein? Frauen sollen immer alles sein, und zwar gleichzeitig. Spezialisierung ist für Männer, und das erklärt zu einem gewissen Teil sogar ihren überwältigenden Erfolg in der hall of fame der Literatur, die eben auch ihre spezialistischen Anteile hat: Ohne Rhetorik-Grundausbildung kann man zwar gelegentlich von allein auf die eine oder andere rhetorische Figur stoßen, eben weil sie unser Denken spiegeln; aber das sind glückliche Zufallsfunde. Ironie, eines der nobelsten und lustigsten rhetorischen Mittelchen, das dem Autor die unglaublichsten Luftsprünge erlaubt, vor allem aber: nicht mehr fassbar zu sein, sich selbst aufzuheben, das eine zu sagen und das Gegenteil zu meinen – ach, welche geistige Gymnastik ist dazu vonnöten, und wenn die Füße an den Boden geklebt sind, macht man keinen Salto! Auch literarische Gattungen erklären sich nicht von selbst; sie gehören aber ebenfalls zur Spezialisierung in der Literatur, und wer hier gegen die ungeschriebenen Gesetze verstößt, wird spätestens von der Literaturkritik ordentlich geschulmeistert. Zwar gab es schon immer die berühmten ›Naturdichterinnen‹, die aus dem Stegreif die nettesten Verse machen konnten, und die gelehrten Männer klatschten gerührt, aber vor allem überheblich Beifall. Aber ein reguläres Drama in fünf Akten nach Aristoteles? Ein Hexameter-Epos? Na gut, inzwischen haben wir die moderne Literatur im Wesentlichen auf eher formlose Prosa-Gattungen reduziert, und es ist natürlich der Roman, die Erfolgsgeschichte der Literatur schlechthin, in der von Anfang an auch die Frauen exzellierten (gerade sie, könnte man sogar sagen, aber das ist eine andere Literatur-Geschichte). Aber der Roman ist eben auch die schwächste poetisch durchgebildete Form; poetische Sprachverwendung auf ihrem Minimum, sozusagen, alltagsnah und alltagstauglich (das spricht nicht gegen ihn, aber: in gewisser Weise auch nicht für ihn).
Vielleicht kann man, gerade wenn man an diesen Punkt anschließt und zur Gretchen-/Winchester-Frage zurückkommt, auch sehen, wo die Vorzüge einer eher weiblichen poetischen Sprachverwendung liegen könnten, die nicht nur inhaltlich geprägt ist durch die Unterschiede in Lebensbereichen und damit verbundenen Lebenserfahrungen, sondern auch durch geschlechtlich unterschiedlich ›belastete‹ Redeweisen, Sprachrhythmen, Bilder und Figuren (ja, wir sind jetzt wieder auf der Ebene ›die Ausnahme bestätigt die Regel‹, nehmt alles nur in allem und so weiter). Traditionell wurde meist argumentiert, dass Frauen eher ›natürlich‹ sprechen, und das galt auch für die poetische Sprachverwendung, siehe Naturdichterinnen. Frauen galten auch als die besseren Briefschreiberinnen, ja sogar für den Roman, es wurde bereits gesagt, wurde ihnen häufig ein besonderes Talent zugeschrieben. Das muss nicht falsch sein, nur weil es traditionell ist und weil es Männer gesagt haben, aber vielleicht kann man es ein wenig moderner formulieren: Vielleicht schreiben Frauen, talentierte, ein wenig geübte und selbstbewusste Dichterinnen – lebendiger. Das ist nun ein sehr weiter Begriff, und er möge hier im Wesentlichen stehen für, wenn man es in eine etwas männliche Formel fasst: natürlich + individuell + lebensnah + körperlich (ja, das überschneidet sich teilweise. Nein, das ist nicht präzise. Ja, so sind wir Frauen). So könnten sie, wagen wir noch eine Hypothese, ein Talent für ungewöhnliche Bilder, neue Metaphern, originelle Wort- und Gedankenzusammenstellungen haben: einfach, weil ihr Leben sich, ob gezwungen oder nicht, über weite Strecken ungeteilter, nicht vollständig kompartimentiert (ein interessanter biologische Begriff), multipler vollzieht – und was ist eine bessere Basis für originelle Vergleiche und Analogien, als eine möglichst unspezifische, offene, vielfältige, aber gut beobachtete Erfahrung? Auf der Oberfläche unterschiedliche, in der Tiefe jedoch verbundene Erscheinungen – aus dieser Wurzel wachsen die schönsten Vergleiche, und wenn man weitergehen wollte (es macht schon keinen Unterschied mehr auf diesen luftigen Höhen) könnte man sagen, dass auf diese Weise auch das Leben selbst am besten erfasst wird, das ja nicht von Natur aus in Disziplinen, Gattungen, auch: Geschlechtern aufgeteilt daherkommt.
Frauen könnten, wagen wir eine zweite Hypothese, andere Wörter bevorzugen, mehr körperlich konnotierte zum Beispiel (wenn Frau sein schon bedeutet, einen weniger stabilen, sensibleren, hormonell anders gestimmten Körper zu haben, dann sollte man das auch ausnutzen!), mehr sinnliche, alltägliche und weniger begriffliche (Begriffe kochen auch kein Abendessen). Sie könnten eine andere Art von Ironie haben, die Ironie des natural born sceptic nämlich, die keine feine rhetorische Kunstform ist, sondern das eingeborene Wissen um die Grenzen der eigenen Erkenntnis und den daraus resultierenden Humor. Sie könnten sogar aus den ewigen Unterbrechungen, von denen das Frausein geprägt ist – niemals darf man ausreden, immer kommt etwas dazwischen – etwas machen: eine Sprachform, die weniger geschlossen ist, Gegenreden erlaubt, Abweichungen, Neuanfänge (Klammern). Natürlich aber sprechen sie auch aus der Defensive (schon Virginia Woolf beklagt die Bitterkeit vieler weiblicher Autorinnen, sie hatten Gründe), aus der Verletzung, aus dem Übersehenwerden; aber das sind Erfahrungen, die auch ihren Platz in der Literatur haben, wie im Leben.
Fassen wir zusammen, der Salat ist längst abgeräumt, und sogar das Dessert ist schon halb verdaut. Frauen haben eine andere Stimme, und das ist vielleicht gleichzeitig das beste Bild und die weitmöglichste Vereinfachung: Denn in der Dichtung hören wir nicht die Sprache selbst, wir hören Stimmen sprechen, Stimmen, die aus unterschiedlichen Körpern mit unterschiedlichen Sprecherfahrungen kommen, die eine andere Frequenz haben, eine andere Satzmelodie, einen anderen Rhythmus; Stimmen, die unterschiedliche Saiten im Hörer, in der Hörerin anschlagen, auf die sie intuitiv anders reagieren, und wenn ein Mann sagt: »Ich liebe dich« (der meistgesagte und meistmissbrauchte Satz der Weltliteratur), dann klingt das anders, als wenn eine Frau das sagt (aber das Geschlecht ist natürlich nicht das einzige, was dabei eine Rolle spielt, ja, ja, JA!). Wir reagieren auf Sprache mit dem ganzen Körper, und nicht nur mit dem etwas eigensinnigen und sich gern aufspielenden Kopf. Sogar das Denken hat eine eigene Stimme: Niemand würde Heidegger als Sprecher mit Kant verwechseln, und würde irgendjemand beim Lesen auf die Idee kommen, dass es sich bei einem von den beiden um eine Frau handelt? Na gut, Heidegger, vielleicht ein wenig, die Sorge, das Dasein. Die Ausnahme bestätigt die Regel. Zwar kann man die Stimme verstellen, ein anspruchsvolles dichterisches Werk wird immer mit einer Vielzahl von Stimmen sprechen; aber vielleicht gibt es dabei doch einen bleibenden Grundton, eine konstante Frequenz, eine Färbung – lauter undefinierte Begriffe, ich weiß. Aber wie man in jedem Krimi sehen kann, ist es einer nur mäßig begabten Software ein leichtes, aus der verstellten Stimme des Erpressers den wahren Sprecher herauszuhören, und leider, leider, sind Computer gar nicht dümmer als wird, sondern in vielen Dingen sogar, nennen wir es – sensibler (sie können einfach mehr Daten verarbeiten; wir ersetzen das durch Intuition, beides hat seine Grenzen). Bisher jedoch bilden die weiblichen Stimmen nur einen Unterton, eine Art schwache Begleitmusik zum volltönenden Orchester der männlichen Weltliteratur; vielleicht, in den besseren Fällen, auch einen Kontrapunkt oder sogar ein eigenständiges Kontrasubjekt. Besonders schön aber wäre es, wenn am Ende ein doppelter Kontrapunkt stünde; gelegentliche Dissonanzen nicht ausgeschlossen.