Satirisches
Er ist ein Glückspilz, von Geburt an. Reich, schön, klug, beliebt. Definitiv überprivilegiert, würde man heute sagen. Sogar ein wenig weise ist er schon, er strebt nämlich nicht nach unnützem Wissen, sondern nach dem Umgang der Weisen, ist es denn zu glauben, so jung und schon derart weise! Sogar Glück in der Liebe hat er, na gut, das ist vielleicht nicht direkt verwunderlich: Semira, die schönste, edelste und reichste Frau weit und breit ist ihm versprochen (von Weisheit ist bei ihr allerdings nicht die Rede, das könnte einen ein wenig misstrauisch machen, aber sie ist ja nur eine Frau). Er hat eigentlich nur einen Fehler, unser Zadig: Er glaubt nämlich, all dies würde ihm einen Anspruch auf Glück verschaffen. Wie kommt er nur auf die Idee? Reicht es denn nicht, schön, gesund, reich, ge- und beliebt, ja sogar in jungen Jahren schon weise zu sein? Aber nein, das Lebensglück muss es auch noch sein! Und so holt das Schicksal aus, nein, eigentlich ist es der – durchaus verständliche – Neid der weniger Begüterten, und es schlägt Zadig seine erste Wunde: Konkurrenten überfallen ihn, er kämpft, heldenhaft, er rettet die Geliebte, nur eine kleine Wunde am Auge (am Auge? ach, wer sehen kann, der sehe!) trägt er davon, gefährlich sieht sie aus, aber eigentlich kommt es nur darauf an, die Ärzte zu überleben, und dann heilt seine robuste Natur ihn von allein. Glück gehabt. Leider verlässt ihn daraufhin Semira, sie steht nicht auf Einäugige, so hört man, und – gleich noch einmal Glück gehabt, denn so viel Wechselhaftigkeit war wohl nicht das beste Rezept für eine erfolgreiche Ehe. Zadig leidet an diesem Treuebruch, aber nicht zu lange, denn eines schönen Tages steht er auf und zieht einen klugen (oder weisen?) Schluss: Lieber eine kluge Frau als eine allzu schöne! Und so nimmt er eine kluge Frau, sie findet sich schnell für unseren Überflieger, Asora heißt sie, und sie gilt nur ein wenig als leichtsinnig. Aber hat sie die Intrige verdient, mit der Zadig unter Beihilfe eines bereitwilligen Freundes – Kador heißt er, und er ist immer dann zur Hand, wenn man ihn braucht, und wer hätte nicht gern einen solchen Freund, man schenkt ihm auch gern ein wenig Geld? – ihre Tugend zu Fall bringt? Wie auch immer, Asora besteht nicht, ihre Klugheit ist nämlich größer als ihre Tugend, und flugs verstößt sie Zadig, in einem Nebensatz. Noch einmal Glück gehabt, es war wohl doch wieder die Falsche!
Etwas überdrüssig der Frauen, verzieht sich Zadig, kaum merklich gealtert, in seine Luxusvilla auf dem Land und widmet sich ganz den Wissenschaften, der Arme! Dort erforscht er nun die Tiere und die Pflanzen und wird so scharfsinnig dabei, dass alle späteren Sherlock Holmesse vor Neid die karierte Mütze zerknüllen. Gelegentlich prahlt er mit seinem Wissen, ganz unschuldig natürlich, aber doch irgendwie an der falschen Stelle und fällt dafür in Ungnade bei Hof; oder nein, doch nicht, er bekommt immerhin Geld als Lohn für seinen Scharfsinn. Und verliert es wieder an die noch gewitzteren Anwälte, so what, er hat es sowieso nicht nötig! Und wird wieder der Musterknabe, wie wir ihn kennen; großzügig ist er auch noch, alle Welt lädt er in seine Villa zu wunderbaren kulturellen Veranstaltungen, man ist geschmack- und geistvoll ohne Ende. Es zeigt sich, dass er sogar schöne Verse schreiben kann, ganz aus dem Stegreif, ist er nicht ein Tausendsassa! Zufällig aber zerbricht das Täfelchen mit den länglichen Versen, und die verbliebene Hälfte ist – nun, ein wenig missverständlich, Majestätsbeleidigung, könnte man auch sagen, und die Majestät reagiert empfindlich; aber dann, ganz zufällig, findet ein Papagei (ein Papagei!!!) die zweite Hälfte, alles klärt sich aufs schönste, die vollendeten Verse sind das vollendete Herrscherlob, und wieder Glück gehabt! Die Majestät ist ent-leidigt, belohnt ihn, macht ihm zum Berater, ja Zadig bekommt sogar eine Tugendmedaille (Mitarbeiter des Monats, stand wahrscheinlich darauf). Und er verwaltet wirklich weise, was sonst, er fällt salomonische Urteile, zerschneidet den gordischen Knoten in einem Luftsprung, erfindet die lustigsten Tugendproben, ach, was ist das Leben schön, wenn man Verstandesschärfe und Seelengüte hat wie Zadig! Was fehlt ihm noch außer? – ach ja, die Liebe. Fast hätte man sie vergessen. Aber natürlich verliebt sich die Königin Astarte in ihn, sie kann ja gar nicht anders, er ist ein immer noch junger, schöner Mann und dazu ein weiser und gerechter Minister; und Zadig, nun ja, verliebt sich auch, er kann ja gar nicht anders, sie ist eine junge, schöne, liebreizende und schmachtende Königin, dagegen hilft keine Philosophie der Welt! Natürlich kommt der König dahinter, natürlich will er die beiden Schuldigen des Nachts umbringen lassen, aber – gerade noch einmal Glück gehabt! Ein stummer Zwerg (ein Zwerg!!!) lauscht an der richtigen Stelle, warnt sehr originell die beiden Verliebten, Kador, der unentbehrliche Kador ist natürlich zur Stelle, und die Flucht gelingt, im allerletzten Moment –
Atempause. Zadig, soeben dem Tod entronnen aufgrund einer Akkumulation glücklicher Zufälle, verflucht sein Schicksal: Wie konnte es sein, dass er seinen doch durch Weisheit und Tugend doppelt verbürgten Anspruch auf Glück nicht – na gut, seien wir ehrlich: temporär nicht vollständig – einlösen konnte? Derweil bietet sich wieder eine willkommene Gelegenheit für das Gute und Schöne und eine geprügelte Frau zu kämpfen. Leider stellt sich das Ganze im Nachhinein als Missverständnis heraus, aber das Volk urteilt gerecht: Immerhin hat der Fremde einen Mann erschlagen (Nebenfigur, redshirt von Anfang an), darauf steht Sklaverei. Zadigs Käufer aber ist ein guter Mann, der schnell die besonderen Talente seines Sklaven erkennt, und alle werden reich und machen Bildungsreisen und verbreiten nebenbei die wahre Religion auf den Märkten; wir schaffen sogar, über Nacht, die jahrhundertealte Sitte der Witwenverbrennung ab! Was Zadig prompt wieder in einen Schlamassel bringt, diesmal wollen ihm die Priester an den Kragen, aber wer findet sich pünktlich ein zur Rettung? – nein, reingefallen, nicht Kador, sondern die unverbrannt gerettete Witwe, die recht hübsch und verschlagen ist, ein wenig wie die kluge Asora. Aber sie ist nicht für Zadig, oh nein, denn er trauert immer noch der verlorenen Königin seines Herzens hinterher. Auf all seinen Reisen sucht er sie, nebenbei wird er schnell wieder Politikberater und Ehevermittler an diversen Königshöfen, aber, seht nur, wie klug der Weise inzwischen geworden ist: Er erkennt schon selbst, dass zu viel Erfolg immer eine Gefahr ist und macht sich vorsichtshalber rechtzeitig aus dem Wege! Auf Reisen aber lauern auch die Räuber, so ein Pech, zum Glück ist es ein Leichtes für Zadig, sie zu besiegen. Vor lauter Bewunderung über so viel Heldenmut lädt ihn der Räuberhäuptling auf sein Raubschloss einlädt; er ist nämlich, Überraschung!, ein guter Räuber, der es vom Diener zum Schlossherren gebracht hat, ganz self-made-man und Herr seines Schicksals. Er bietet sogar Zadig einen Job an, aber Zadig ist ein Mann mit seiner Mission, sie heißt: Astarte! Zwischendurch läuft er zufällig dem unglücklichsten Menschen der Welt über den Weg, es ist ein armer Frischer, der alles verloren hat, sein blühendes Käse-Geschäft, seine hübsche Frau, sein Häuslein klein, und jetzt wollen noch nicht einmal die Fische mehr beißen – und wer ist schuld? Oh, Zadig ist schuld, so ein Zufall; er hatte, natürlich unwissentlich, durch seine Flucht den Bankrott des Käsehändlers herbeigeführt. Schnell, ein wenig Geld für den Armen! Geh zu Kador, er weiß was zu tun ist (Kador, Kador, wo ist eigentlich Kador, wenn man ihn braucht?)!
Und kaum ist der Fischer versorgt und um die Ecke verschwunden, findet Zadig die gesuchte Astarte. Zufällig natürlich, man könnte auch sagen: Glück gehabt! Sie hat einige raue Zeiten gehabt und arbeitet gerade als Sklavin für einen reichen Fettklops, aber der Fettklops hat ernsthafte gesundheitliche Probleme, und der weise Zadig, der Arzt der Herzen und der Könige, heilt ihn, indem er ihm eine Bewegungstherapie verordnet. Woraufhin der nächste Neider sich anschickt, den Nebenbuhler zu erledigen – aber, im letzten Moment, erreicht Zadig eine Nachricht von der inzwischen offenbar auf einem Zauberteppich nach Babylon zurückgekehrten Astarte, er lässt den vergifteten Fraß stehen und macht sich geschwind zurück auf den Weg nach Babylon. Dort sollen die Tapfersten und die Weisesten des Landes die Königin in einem ritterlichen Turnier gewinnen, Mann gegen Mann; was das mit Weisheit zu tun haben soll, bleibt etwas unklar, aber zum Glück wissen wir ja, dass sich der weise Zadig recht gut schlägt, zumal ausgestattet mit einem glücksbringenden Maskottchen der Königin, einer weißen Rüstung, die – endlich, wir hatten uns schon Sorgen gemacht! – Kador überbringt. Wenig überraschend gewinnt Zadig alle Kämpfe; und dann verschläft er leider den Rest des Kapitels, in dem ihm die Rüstung entwendet wird und ein anderer an seiner Stelle zum Sieger ausgerufen! Ach, ein guter Schlaf, was ist er doch für ein Göttergeschenk.
Jetzt aber nähern wir uns unaufhaltsam dem geistigen und emotionalen Höhepunkt dieser Glücksgeschichte, denn der wieder einmal fliehende Zadig trifft einen Eremiten. Weiser noch als Zadig ist er, immerhin ist er ein Eremit und kann im Buch des Schicksals lesen! Das ist aber keine erbauliche Lektüre, stellt sich heraus; denn wenn man dem Schicksal immer einen Schritt voraus sein muss, muss man manchmal seltsame, uneinsichtige, ja geradezu abscheuliche Dinge tun: Kinder von der Brücke schubsen, damit sie nicht später ihre Verwandten ermorden und ähnliches. Es gibt nämlich keinen Zufall. Sagt der Eremit, der es ja wissen muss, er hat sich zwischenzeitlich nämlich in einen Engel verwandelt, und ist es nicht ein Glück, ein seltenes großes Glück, einen echten Engel zu sehen und auch noch von ihm belehrt zu werden! Zadig aber sagt „aber“. Viermal sagte er „aber“, dann hat der Engel genug von so viel Unbelehrbarkeit und verabschiedet sich in die zehnte Sphäre. Aber –
Aber gar nichts. Zadig folgt dem Rat des Engels (sehr klug!), kehrt zurück nach Babylon, alles löst sich auf, weil er drei triviale Rätsel löst und nachweisen kann, dass die weiße Rüstung eigentlich ihm gehörte – was Kador bezeugt, natürlich, aber vielleicht ein wenig spät, das hätte er auch schon vier Kapitel früher machen können, aber dann wären wir dem Engel Jesrad nicht begegnet und hätten nicht viermal „Aber“ sagen können. Und alles wird gut in einem großen Finale: Zadig heiratet die lang ersehnte Astarte, wird König und regiert weise und gerecht; alle Nebenfiguren dürfen im Abspann antreten und sich entweder ihren wohlverdienten Lohn abholen oder an ihrem Neid ersticken; und es beginnt ein goldenes Zeitalter, regiert von Gerechtigkeit und Liebe (also: Zadig und Astarte), Glück ohne Ende, Sonnenschein und Pfannkuchen für alle, vor allem aber für Zadig, das Glückskind des Schicksal. Aber? – nein, kein Aber! Glück muss man eben haben! Verdienst ist für Kleingeister.
„Und wer möchte uns heute etwas verschweigen?“ Erwartungsvoll blickte die Gruppenleiterin in dem Stuhlkreis herum. Einige neue Teilnehmer waren heute wieder gekommen, die meisten von ihnen Männer; gutgestellt sahen die meisten aus, selbstbewusst, erfolgreich. Nur selten verirrte sich eine Frau hierher; oder eine verlorene Existenz, die einmal damit angefangen hatte, in besseren Zeiten, und dann einfach nicht mehr aufhören konnte. Die Gruppenleiterin selbst sah so aus, wie man sich früher eine Gouvernante vorgestellt hatte: die gleiche Strenge in Blick und Frisur, ein kleiner Mund, dem man ansehen zu meinte, das er selten lächelte; aber er war voller Ruhe, ein formgewordenes Schweigen. Das Geplapper in der Gruppe verstummte schlagartig. Ertappt sahen die Männer zu Boden, einige räusperten sich noch ein paarmal. Das war eine Art Übergangsritual, man erkannte die Anfänger daran, die Novizen, die noch weit von ihrem ersten Chip entfernt waren. Doch dann schossen die Finger in die Höhe: Mich, mich, mich, lass‘ mich zuerst, schienen sie zu schreien, und einige öffneten sogar den Mund schon, um dann schnell das fast schon hervorgetretene Wort in einem Hüsteln zu ersticken.
Die Gruppenleiterin blickte um sich: „Du“, sagte sie, auf eines der ältesten Mitglieder zeigend, er hatte sich schon so gut im Griff, dass er noch im letzten Moment den Finger zurückzog, der schon in die Höhe schießen wollte, und sein Mund war fest verschlossen; "ja, du, was möchtest du uns heute verschweigen?". Ein Ruck ging durch den Mann. Er war in den besten Jahren, leger gekleidet, aber sorgfältig; seine Finger zuckten gelegentlich, so als würden sie imaginäre Tasten berühren, und sein Blick schweifte unstet durch den Raum, auf der Suche nach – aber es war nichts da, was den Blick fesseln konnte, der Raum war spartanisch eingerichtet, die Wände schwiegen starr, die Fenster waren verhängt, kaum dass die einfachen Stühle ein wenig knarrten. „Ich bin“, so begann er etwas zu laut, so, als hätte er Angst, dass niemand ihm zuhört, „ich bin ein Journalist. Ich schreibe, Leitartikel, Kommentare meistens. Ich möchte heute schweigen über – die politische Lage im Großen und Ganzen, die Parteien insbesondere, die derzeit laufenden Koalitionsgespräche, oh wie möchte ich schweigen über dieses politische Schmierentheater, diese matten Charakterdarsteller, diese" – Er hatte gerade begonnen, sich in Rage zu regen, seine Finger zuckten immer stärker, da unterbrach ihn der strafende Blick der Gouvernante; die anderen Teilnehmer des Stuhlkreises waren auch schon unruhig geworden und begannen auf den Stühlen zu zappeln. Sofort schwieg er. Stille breitete sich aus, auch über die zappelnden Leidensgenossen. Aber es war noch eine aufgeregte Stille; sie schien in energischen Sätzen zu schweigen, und manchmal durchquerte ein Ausrufungszeichen geisterhaft den Raum. Der Journalist krampfte die Hände zusammen, um die zuckenden Finger zu verbergen. „Es muss doch“, quoll es auf einmal aus ihm heraus, er schlug sich beinahe auf den Mund, aber die zweite Satzhälfte stieg empor, gegen seinen Willen, man sah es deutlich – „möglich sein!“
Die Gruppenleiterin seufzte. „Nun gut“, sagte sie, „wir waren schon einmal weiter“. Dann wies sie auf den Mann neben dem Journalisten, der etwas beschämt zu Boden schaute, offenbar kannten sich die beiden gut: „Du“, sagte sie, „was möchtest du uns heute verschweigen?“ Der Mann blickte auf. „Ich bin“, sagte er in sonorem mediengestähltem Ton, „ein Politiker. Welcher Partei – lassen wir heute mal außen vor, obwohl“ – sein Nachbar stieß ihm mit dem Ellenbogen ein klein wenig in die Seite, und er fing sich gerade noch: „Lassen wir das also. Ich möchte heute schweigen über – die Lage der Nation, die Menschen draußen im Lande, ganz besonders aber die Koalitionsverhandlungen“! Mit einem beinahe übermenschlich wirkenden Ruck brach er den Satz ab und kreuzte die Arme, die zu beredten Gesten ausgeholt hatten, eng vor der Brust; es sah aus, als wollte er sich selbst die Luft zum weiteren Reden abschneiden. Stille breitete sich aus; es war eine etwas aufgeladene Stille, einzelne Schlagworte schienen noch aufsteigen zu wollen, die sensibleren unter den Teilnehmern spürten auch eine gewisse Polarisierung. Der Politiker presste die Arme immer enger an sich, sein Blick schweifte unstet durch den Raum, um dann auf den abgedeckten Fenstern liegen zu bleiben. Sehr unscharf sah er dort sein eigenes Spiegelbild, sein ganzer Körper straffte sich, und er legte sein bestes Siegerlächeln auf.
Das rettete ihn knapp über die vorgeschriebenen drei Minuten. Wieder streckten sich auf den auffordernden Blick der Gruppenleiterin viele Finger in die Höhe, gerade noch, dass sie nicht anfingen, mit den Fingern zu schnipsen. Sie entschied sich dieses Mal für einen jungen Mann, der zum ersten Mal da war. Er war modisch gekleidet und sehr gepflegt, eigentlich hätte man ihn sich gern als schönen, schweigenden Jüngling in einer sehr hochwertigen Werbeanzeige vorstellen mögen. Und prompt sagte er in einer schmeichelnden Stimme, der man sofort ein Auto abgekauft hätte: „Ich bin“, er blickte wohlgefällig in die Runde, „ein Marketing-Fachmann, ich mache Kommunikationsdesign, Medienberatung, Coaching, hier hätte ich meine –„ „Nein“, sagte die Gouvernante, „so geht das hier nicht. Keine Verkaufsgespräche! Kommen Sie zum Punkt, wir haben unsere Zeit hier nicht gestohlen!“ Der junge Mann zuckte und wischte sich nervös mit den wohlgepflegten Händen durch das gegelte Haar: „Tut mir soo leid, kommt nicht wieder vor! Also, ich –„ und er machte eine kleine Kunstpause, es war fast schon ein Mini-Schweigen, aber dann hob er erneut an: „ich möchte heute schweigen über – nein, ich kann das nicht!“ Er brach ab, seine feingebundene Krawatte war etwas verrutscht, und es zeigten sich leichte Schweißperlen auf seiner schönen Stirn. Sein Nachbar legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm und nickte ihm schweigend zu. Die Gruppenleiterin sagte kein Wort. Das Schweigen breitete sich aus, es war ein etwas angestrengtes Schweigen, aber auch ein solidarisches; kleine Wellen von Mitgefühl klangen darin mit, aber auch ein Unterton von Ungeduld. Er versuchte es noch einmal: „Ich will heute schweigen von: dem Verkaufen. Dem Anpreisen. Dem Schönreden. Den Superlativen. Den Lügen, den ganzen Lügen! Ich will – schweigen“. Er hatte sich kurz in Rage geredet und war dann geradezu vorbildlich verstummt. Alle nickten beeindruckt. So sollte es sein: ein Schweigen aus vollem Herzen. Eine liebliche Stille breitete sich aus, sie hatte den Balsam des Vergessens aufgelegt und viele schlossen einen Moment die Augen und erlaubten sich einen kleinen wohligen Seufzer.
Doch schon nach kaum zwei Minuten stieg in den ersten Teilnehmern wieder die Unruhe empor. Einer bewegte immer wieder die Hände, sie wollten sich zu einer Art Segen formen; doch dann brach er wieder ab und verschränkte die Finger krampfhaft, wie zum Gebet. Die Gruppenleiterin hatte ein Einsehen: "Du", sagte sie und zeigte auf ihn, "dann mal los!" Erleichtert atmete der Mann auf; er sah eigentlich ganz friedlich aus mit seinem breiten, gutwilligen Gesicht, es erweckte Vertrauen, Verständnis, es versprach Verzeihung – genau wie seine etwas litaneihaft schwingende Stimme, mit der er nun sagte: "Ich bin ein Priester, meine Brüder und Schwester" – er sah unsicher um sich, aber tatsächlich war auch eine junge Frau anwesend, er sah sie zum ersten Mal -, "und ich will heute zu Euch schweigen über: Gott. Die Liebe, seine Liebe. Seine Gnade. Vor allem aber will ich schweigen über Eure Sünden, über Eure Uneinsichtigkeit, Eure Undankbarkeit im Angesicht des – " gerade noch konnte er sich fangen. "Ein stilles Gebet", murmelte er noch, bevor sich ein etwas eingeschüchtertes Schweigen ausbreitete; es roch ein wenig nach Weihrauch, aber es versprach Frieden und Erlösung – an den Rändern jedoch drohte es auch ein wenig, so dass mehrere Teilnehmer ein wenig eingeschüchtert auf ihren Stühlen hin und her rückten und den Blick zu Boden senkten.
Sein Nachbar hielt es nach kaum einer Minute nicht mehr aus und versuchte das Wort zu ergreifen: "Ich muss doch sagen", doch sofort unterbrach ihn die Gruppenleiterin: "Niemand ergreift hier das Wort, wenn ich es nicht sage! Du" – und sie zeigt gezielt an dem Sünder vorbei, auf einen jungen Mann, er trug einen schwarzen Rollkragenpullover und die Sorte von zerrissenen Jeans, deren Rissen man ansah, wieviel sie gekostet haben; "du schweigst immer so schön. Wovon willst du heute schweigen?" Der junge Mann besann sich ein wenig, bevor er antwortete. Es war, als warte er darauf, dass die Worte in ihm aufsteigen; aber dann platzte er auf einmal hinaus: "Ich bin ein Dichter – und die Metaphern können mir gestohlen bleiben! Immer wollen sie, dass ich tiefe und bedeutungsvolle Dinge sagen, und dann verstehen sie sie nicht. Aber kritisieren, das können sie alle. Deshalb schweige ich jetzt über die Schönheit des Schweigens, seine sanften Flügel, sein unhörbares Rauschen, sein unsichtbares Lächeln, all das Nicht-Sagbare … " Er ließ den Satz elegant ausklingen, und tatsächlich war es so, als erhebe ein unsichtbares Wesen seine großen Schwingen, weit ausholend, aber ganz und gar unhörbar. Etwas unheimlich war es, aber auch entzückend, und alle hielten einen Moment den Atem an – da war es auch schon vorbei. Sogar die Gouvernante hatte einen Moment beinahe gelächelt, das passierte oft, wenn der Dichter schwieg; aber eigentlich wussten sie alle, es war ein kleiner Betrug, sie hatten ihm zu viele Worte zugestanden, und er hatte sie wieder einmal eingelullt mit seiner sanften Stimme, die gar nicht zu ihm passte, tief und hypnotisierend klang sie, aber eine Hypnose war kein wahres Schweigen.
"Du", sagte die Gruppenleiterin nun zum Ausgleich umso ruppiger zu dem vorletzten Mitglied der Runde, das sich eben vordrängen wollte; jetzt hielt es ihn wirklich kaum noch auf seinem Stuhl. Er hatte einen modischen Bürstenschnitt, die Hände schauten wohlmaniküriert aus dem edlen Hemd – war es wirklich maßgeschneidert? – und am Armgelenk prangte eine Uhr, von der man sich vorstellen konnte, dass sie auch noch die Zeit auf dem Jupiter an einem schönen Frühlingstag kurz nach der Umstellung auf die Sommerzeit anzeigte. Der Mann fiel auch dadurch auf, dass er immer wieder nervös in seine Jackentasche griff; an schlimmen Tagen hatten sie ihm das Handy abnehmen müssen, er hatte einfach seine Finger nicht davon lassen können. "Ja, du, jetzt bist du an der Reihe. Was willst du uns heute verschweigen?" "Zuerst und vor allem möchte ich sagen, wie außerordentlich", begann der Mann, der Dichter verdrehte die Augen und schaute zum Himmel, der Priester nickte mitleidig. "Entschuldigung", murmelte der Redner. "Zur Sache, ich weiß. Also: Ich schweige heute über – Geld; ich dachte, ich schweige einfach mal über Geld", wiederholte er, offensichtlich mit sich zufrieden; und auch die anderen nickten wohlgefällig; das hatten sie schon anders erlebt, und wenn er erst einmal anfing, über den Aktienmarkt zu schweigen, dann konnte man wirklich nervös werden. So aber trat ein Schweigen ein, das geradezu physisch erleichternd wirkte, weil es so vieles umfasste; einige spürten, wie sich eine langjährige Beklemmung in ihrer Brust löste und wie auf einmal der spartanische Raum viel lebendiger aussah; waren es nicht eigentlich ganz gute, einfache Stühle, auf denen man saß, und war es nicht egal, dass der alte Teppich etwas schäbig aussah, wichtig war doch, dass man warme Füße hatte und dass man zusammen war und etwas teilte!
Beinahe fühlte man sich gestört, als die Gruppenleiterin, die Stunde näherte sich dem Ende, auf die junge Frau zeigte: "Du bist heute zum ersten Mal dabei, es ist sehr lobenswert, dass du dich nicht vorgedrängt hast! Herzlich willkommen! Worüber möchtest du heute mit uns gemeinsam schweigen?" "Alles", entfährt es der jungen Frau spontan; ihre Lippen mit dem blinkenden Piercing zittern dabei ein wenig. "Einfach alles! Ich bin eine Twitterin, und ich kann es nicht mehr hören! Ich habe der Welt alles erzählt über mich, einfach alles, jeden beschissenen Fur-", sie fängt sich gerade noch unter dem tadelnden Blick der Gouvernante, "jede Kleinigkeit, meine ich, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll" – "aufhören", flüstert ihr Nachbar, "aufhören sollst du!" "Genau", ruft sie erleichtert: "Also, ich schweig dann jetzt mal einfach über: Alles!" Eine sehr tiefe Stille breitete sich über den Raum aus. Sie war aber nicht einschüchternd; kleine Emojis durchquerten sie ungesehen, aber es war, als ob das Universum schwiege und man könnte ihm wohlwollend dabei zusehen, von einem fernen Stern in der Tiefe des Weltraums aus.
"Und damit", so schloss die Gruppenleiterin nach drei Minuten mit den gewohnten Worten, "gehen wir schweigend auseinander". Einige nahmen sich beim Weggehen noch ein Bagel mit, es war eine liebe Gewohnheit, und man konnte in das Loch in der Mitte hineinschweigen, es verschluckte eine ganze Menge. Doch sobald der Erste die Tür öffnete, eroberte der Lärm den Raum wieder; Autos, Menschen, Hundegebell, oft war es, als hätte eine Sirene ihnen geradezu bösartig aufgelauert, und nicht wenige der Teilnehmer zogen sich eine Mütze über die Ohren, bevor sie auf die Straße hinausgingen. Die Gruppenleiterin stellte die Stühle zusammen und sah ihnen hinterher. "Ich bin", so flüsterte sie etwas heiser, "ich bin eine Therapeutin. Ich möchte schweigen, oh, wie möchte ich schweigen! Aber einer muss ja zuhören, wenn ihr schweigt. Ich weiß, ihr braucht mich. Aber das Schweigen muss von innen kommen, und eines Tages –", und damit verließ sie den Raum.
(Vorsicht, Satire!)
Klappentext
Früher wollten alle kleinen Jungen Lokomotivführer werden und alle kleinen Mädchen Tierärztin. Heute wollen alle kleinen Mädchen Supermodel werden und alle kleinen Jungen Profifußballer – und wenn das nicht klappt, dann wenigstens Karrierefrau oder Topmanager! Warum schließlich auch nicht? Lebe deinen Traum! Die Traumfabrik der Massenmedien und der social media hat für jede und jeden das passende Modell im Angebot! Nur passt es meistens leider doch nicht ganz genau und ist auch wenig alltagstauglich. „Berufsberatung für Alleskönner“ zeigt die zutiefst menschliche Tendenz zum Wunschdenken – bei der Arbeit.
Vorsicht, Satire!
Inhalt
Leseprobe
Für die zukünftige Edelfeder
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Auch wenn Sie nicht mit einer Schreibfeder hinterm Ohr geboren wurden und als Kleinkind lieber 19 Stunden geschlafen haben, anstatt Ihre Wiege oder Ihr Laufställchen investigativ zu durchkrabbeln: Es spricht nichts dagegen, dass Sie eine Edelfeder, ein Starjournalist, ein zukünftiger Talk-Show-Master oder Anchor Man werden!
Sie meinen, Sie könnten nicht schreiben, weil Sie in Aufsätzen in der Schule immer eine 6 hatten und noch nicht einmal ein grundlegendes Verständnis von Orthographie, Interpunktion und Grammatik entwickelt haben (das heißt, Sie konnten weder richtige Worte noch Sätze schreiben und kannten weder Punkt und Komma)? Willkommen in der Medienwelt der funktionellen Analphabeten! Keiner kann mehr korrekt schreiben, und dazu haben die Medien ihren guten Teil beigetragen. Wo früher noch fleißige Lektoren saßen (Leute, die sich mit Rechtschreibung und Punkt und Komma auskannten, inzwischen ausgestorben), arbeiten heute automatisierte Rechtschreibprogramme, die offensichtlich leicht falsch zu bedienen sind (sonst gäbe es weniger Druckfehler in den Zeitungen). Merkt aber keiner, und nur noch unverbesserliche Oberlehrer schreiben deshalb weiter Leserbriefe an die Redaktionen, die auch keiner mehr druckt. Und wenn Sie sich trotzdem vor diesen Pedanten fürchten: Es müssen ja nicht die Printmedien sein! Zeitungen sterben sowieso aus, ohne Werbebeilagen könnte man nicht mal mehr einen halben Redakteur bezahlen, und wahrscheinlich werden die Werbebeilagen auch mehr gelesen als ehemals bedeutende Ressorts wie das Feuilleton (langweilige Berichte über Konzerte, Ausstellungen oder neue Bücher mit viel zu langen Sätzen und Fremdwörtern). Nein, Sie müssen nicht schreiben, wenn Sie nicht wollen; es will ja sowieso keiner lesen. Und die Internet-Medien haben schon längst ihre eigene Sprache hervorgebracht, die mehr lustige Smileys und Emoticons und Emojis und Abkürzungen als Wörter hat – weil es darum nämlich geht, auch und vor allem im modernen Journalismus: um Gefühle und um Kürze. Informationen sind für Computer, nicht für Menschen, und die Nachrichten von heute sind das Altpapier von gestern.
Sie fürchten aber, Sie müssen trotzdem eine mühevolle Ausbildung durchlaufen und werden entweder im Massenvolk der VolontärInnen, PraktikantInnen und sonstigen namenslosen journalistischen Fußvolkes untergehen oder in einem Universitätsstudium mit Kommunikationsmodellen und Presserecht zu Tode gelangweilt? Das sind zwar die klassischen Ausbildungswege, aber dieser Marter muss sich keiner mehr unterziehen. Journalist ist eine ungeschützte Berufsbezeichnung, und Redakteure sind auch nur Journalisten, die in einer Redaktion versklavt sind und darauf warten, Chefredakteur zu werden, damit endlich die anderen über Kaninchenzüchtervereine und Lokalsport berichten müssen! Sammeln Sie besser Lebenserfahrung und Menschenkenntnis anstelle akademischer Bildung oder Zeilenhonorare: Nur wer die Menschen kennt, wird sie dazu bringen, ihm auch das zu erzählen, was sie eigentlich um keinen Preis zugeben wollten. Das gilt vor allem für den politischen Journalisten: Viel wichtiger als jede Ausbildung, stilistische Brillanz oder umfangreiches Faktenwissen sind die richtigen Verbindungen – Kontakte, Kontakte, Kontakte! Politikern und politische Journalisten stehen in einem soliden gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, beide würden sofort aus der allgemeinen Wahrnehmung verschwinden, wenn einer von ihnen dieses Verhältnis aufkündigen würde. Gemeinsam erklären sie dem dummen Wahlvolk/den Lesern oder Zuschauern die große, unübersichtliche, schwerverständliche Welt der politischen Entscheidungen so, dass es auch kleine Leute verstehen. Verwirren Sie sie nicht mit Informationen, Zahlen, Fakten oder gar Statistik: Um auch nur einfache statistische Zusammenhänge verstehen zu können, braucht man mathematisches Grundwissen, und das haben im Normalfall weder der Journalist noch sein Leser/Zuhörer.
Aber Sie trauen sich weder zu, die Welt zu erklären noch eine Geschichte so erzählen, dass sie nicht nur Hand und Fuß, sondern auch ein Anfang, eine Mitte und ein Ende hat? Immer, wenn Sie etwas erzählen, schlafen ihre Zuhörer schon beim dritten Satz ein und bei Witzen haben Sie immer selbst die Pointe vergessen? Sie wollen ja auch keinen Literaturnobelpreis. Geschichten sind aus einer Zeit, als die Leute auch noch Märchen lasen und dicke Romane und überhaupt Bücher; Zeiten, in denen man noch glaubte, dass man die Welt erklären könnte, weil sie einen Sinn und einen Zweck hatte. Darüber sind wir zum Glück hinaus. Heute zählt das Kurze, das Pikante, der Ausschnitt; es reichen der snapshot, die short cuts, und ein sensationelles Zitat (es muss auch gar nicht stimmen) ist besser und sprechender als ein Lexikonartikel. Wer immer noch Geschichten mit Anfang und Mitte und Ende und Sinn braucht, ist längst zu den Serien-Erfolgen bei Netflix abgewandert. Oder konzentrieren Sie sich gleich auf das Bild! Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und die Geschichte dahinter denkt sich der Zuschauer dann zum Glück selbst aus (sie muss auch gar nichts mit dem Bild zu tun haben). Oder spezialisieren Sie sich auf Dokumentationen Bildungsfernsehen ist zwar Sparte, aber geht ansonsten immer gut, solange man die Dokus nur massentauglich aufhübscht mit pompösen Sound (Streicher! Wagner!) und etwas mehr Brutalität und Sex als eigentlich nötig zeigt (vor allem bei Tierfilmen); für die Fakten reicht ein halbwegs fotogener Wissenschaftler (gern auch weiblich), der immer vor einem imponierenden Bücherregal abzubilden ist, um seine Kompetenz zu veranschaulichen (es können aber irgendwelche Bücher sein).
Sie interessieren sich aber weder für Geschichte noch für Geschichten noch für überhaupt irgendwas spezielles, sondern möchten nur gern beruflich Alkohol trinken, spät aufstehen und sich mit den Reichen und Schönen herumtreiben? Promi-Reporter ist immer noch eine Wachstumsbranche, auch wenn die freiberufliche Netz-Konkurrenz groß und die Arbeitsbedingungen für echte Paparazzi sind tatsächlich hart, bei eher schwachem Sozialprestige. Aber es gibt seriöse Alternativen. Werden Sie Wirtschaftsjournalist oder Börsenexperte! Hier geht es um die ganz Reichen, hier geht es um das ganz große Geld, und hier geht es um echtes Sachverständigentum! Es reicht zum Glück meist aus, das zu behaupten, und ein ausländisch klingender Titel wird sich schon finden (Hauptsache, es kommt „business“ darin vor). Jeden echten Experten erkennt man daran, dass er sich gelegentlich irrt; und wer die Börse so gut kennte, dass er immer richtig liegt, müsste sowieso nicht mehr als Experte arbeiten. Nein, Experten sind heutzutage vor allem Experten im Experten-Sein, und dazu gehören vor allem ein besorgter, tiefgründiger Blick (eine Akademiker-Brille hilft viel), eine sorgenumwölbte, aber irgendwie auch Zuverlässigkeit vermittelnde Stimme und ein ungetrübtes Selbstbewusstsein. Auch wenn sie nicht fotogen sind, zwei Nicht-Schokoladen-Seiten und eine Stimme, die entweder das Einschlafen befördert oder einem die Haare beim Zuhören zu Berge stehen lässt, haben, müssen Sie dazu allerdings vor die Kamera treten. Alle müssen heute vor die Kamera, auch wenn sie nur gelernt haben dahinter zu stehen und eigentlich auch nichts anderes wollen. Wer nicht vorzeigbar ist, ist nicht existent in der Welt der Erfolgreichen, und ein ordentlicher Anchor muss schon mindestens sehr sexy graue Schläfen und maßgeschneiderte Anzüge haben. Aber daran kann mit etwas Geld, gutem Willen und der einen oder anderen Schönheitsoperation leichter arbeiten als an wahrer Sachkenntnis oder einer guten Schreibe.
Sie haben aber nicht nur keine Ahnung von irgend etwas, sondern eigentlich auch keine Meinung, zu gar nichts, obwohl man sich solche Mühe in der Schule gegeben hat, Ihnen beizubringen, eine Meinung zu allem und jedem zu haben? Das könnte ein Problem sein. Journalismus, zumindest in Deutschland, ist inzwischen beinahe nur noch Meinungsjournalismus, und wenn man denn mal zufällig eine Nachricht zu berichten hat, wird sie sofort im Meer der darüber geäußerten Meinungen ertränkt, selbst wenn es unmöglich ist, zu diesem Sachverhalt überhaupt eine Meinung zu haben (inzwischen hat man auch zu Naturereignissen eine Meinung zu haben, im Notfall ist das Schlüsselwort immer: inakzeptabel, gern auch gesteigert zu absolut inakzeptabel). Meinung kann man aber lernen, auch wenn es in der Schule bei Ihnen nicht geklappt hat; hätten Sie nur etwas besser aufgepasst, hätten Sie damals sogar gleich das Patentrezept dafür lernen können: Eine gute Meinung ist immer das, was der Lehrer hören will! Das ist eine perfekte Leitlinie für den erfolgreichen Journalisten, das auch noch einmal seine enge Verwandtschaft zum Politiker demonstriert: Sagen Sie den Leuten beherzt das, was sie hören wollen! Scheuen Sie nicht vor dem Offensichtlichen zurück! Das Einzige, was Sie dabei keinesfalls nicht tun dürfen, unter keinen Umständen, ist die jeweils aktuellen Sprachregeln der Political Correctness zu verletzen – bei aller Meinungsfreiheit wollen Sie ja nicht, dass sich doch jemand verletzt fühlt, wenn man die Wahrheit sagt, und wie leicht kann das versehentlich passieren! Wahrheit ist eine gefährliche Angelegenheit; bleiben Sie deshalb lieber bei der Meinung, die kann man auch jederzeit ändern.
Verlieren Sie nie den Mut! Alles wird gut, die Zukunft ist freundlich, wir sind es auch!
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Auch wenn es bei Ihrer Taufe nicht gerade Charisma vom Himmel geregnet hat und Sie eher der Typ unkommunikativer Einsiedlerkrebs oder kompromissloser Betonkopf sind: Nichts spricht dagegen, dass Sie ein beim Wahlvolk beliebter und in der internationalen Politik anerkannter Spitzenpolitiker werden können!
Sie haben die Ausstrahlung eines grauen Novembertages auf Island, werden regelmäßig ignoriert, wenn Sie ein Restaurant betreten, und sogar Ihre besten Freunde erkennen Sie nicht auf der Straße? Wenigstens kann Ihnen niemand vorwerfen, dass Sie nur ein hübsches Gesicht mit nichts dahinter sind! Aber lassen Sie sich davon nicht abschrecken: Politiker liebt sowieso niemand, und wenn doch, dann ist sicherlich etwas faul mit den Politikern (denken Sie nur an Silvio Berlusconi oder Donald Trump – wenn es sein muss, auch an Hitler, aber Hitler-Vergleiche sollte man als Politiker und eigentlich überhaupt unter allen Umständen vermeiden, sie sind eigentlich immer falsch). Normale Menschen sehen in Politikern vor allem ihre eigenen schlechten Eigenschaften, ihre eigenen dunklen Geheimnisse, ihre eigene Selbstsucht und ihr eigenes Geltungsbedürfnis verkörpert – warum also nicht auch ihren eigenen Mangel an Ausstrahlung, an Charakter, an Energie? Zeigen Sie dem Wahlvolk, dass man auch als Nichts Etwas werden kann, und das gerade und vor allem in der Politik (die Volksweisheit weiß das seit langem: Wer nichts wird, kann immer noch Politiker werden, das hat sicherlich schon Ihre Oma gesagt!) Charisma hat eine ordentliche Demokratie sowieso nicht nötig, das brauchen nur Tyrannen und Revolutionäre; Blässe ist das neue Sexy fürs Volk (und den Rest erledigt Ihr Spin-Doktor)!
Sie fürchten, Sie werden trotzdem öffentliche Auftritte und Reden nicht ganz vermeiden können? Wenn Sie reden müssen, benutzen Sie mehr „Ähems“ und „Ähs“ als Verben, Ihre Sätze finden niemals das grammatisch eigentlich vorgesehene Ende, und wenn Sie einmal beherzt mit einem Wortspiel in Vorlage gehen, dann kommt sicherlich ein Foul dabei heraus? Das alles verbindet Sie mit großen Vorbildern, vor allem der amerikanischen Politik (und besser ein „Bushism“ als gar kein Zitat! – sagt Ihr Spin-Doktor jedenfalls). Denken Sie daran: Die Beherrschung des elaborierten Codes ist ein Merkmal einer schwindenden Elite, die noch nie das Wahlergebnis merklich beeinflusst hat; und die Medien haben sich längst dem immer restringierteren Code ihrer Benutzer angepasst und werden das, was Sie sagen, sowieso falsch und verkürzt zitieren. Außerdem kommt es in der Politik nicht aufs Reden an, sondern aufs Handeln; Zeichen setzen kann schließlich heutzutage jede Bürgerinitiative, und notfalls reicht auch einfach die kräftig vorgetragene Forderung, endlich mal ein Zeichen zu setzen! Ansonsten lassen Sie Ihre Taten für Sie sprechen! Weniger Steuern versprechen kann jeder im Wahlkampf; aber die Steuern später trotzdem zu erhöhen, das will immerhin geschickt verschwiegen sein!
Sie haben aber leider auch keinerlei Durchsetzungskraft und sind schon als Kind geradezu furchterregend folgsam gewesen? Wo es langgeht, sagt Ihnen Ihr Navi, und wenn es Sie über die Klippe schickt, würden Sie ihm trotzdem folgen? Dafür wird Sie das Wahlvolk mehr lieben als für Ihr fehlendes Charisma! Nichts ist in einer fortschrittlichen Demokratie, die den Glauben an alles und jeden verloren hat, anerkannter und unbezweifelter als der unabhängige Experte, der sich mit einer Sache wirklich auskennt! Stehen Sie zu Ihrem Beratungsbedarf, zu ihrer charmanten Unwissenheit in jeglichen Sachfragen, zu ihrer unkonventionellen Offenheit für alle möglichen Lösungen! Stehen Sie über dem Parteiengezänk, der ewigen Polarisierung, der sturen Rechthaberei – Sie hören zu, wenn man mit Ihnen spricht, Sie denken nach, auch lange, wenn es sein muss – und anschließend überlassen Sie die Entscheidung jemand anders, der dann auch dafür verantwortlich ist, wenn es schief geht! Seien Sie der große, wortkarge, zweifelnde Zauderer (Ihr Spin-Doktor sagt Ihnen schon, wie man das am besten inszeniert), und lassen Sie die untergeordneten Partei-Chargen die Arbeit machen; wer an die Spitze will, braucht Sherpas!
Sie haben aber keinerlei Lust auf endlose Diskussionen und tagelange Versammlungen und halten Parteien für überlebte Traditionsvereine mit einem ziemlich langweiligen Unterhaltungsprogramm und relativ hohen Vereinsgebühren? Da haben Sie absolut Recht. Wer in eine Partei geht, zumal als Jugendlicher, wo man ja wahrlich Besseres zu tun hat, als sich für Politik zu interessieren, ist selbst schuld. Sie gehen Ihren Weg als Seiteneinsteiger und bewahren dadurch Ihre Unabhängigkeit von all dem inzestuösen Parteigeklüngel und der „Eine Hand wäscht die andere so lange, bis beide ganze schwarz sind“-Mentalität, die für die Mafia ja ganz schön sein mag, aber nicht für eine politische Organisation von freien Denkern. Dadurch vermeiden Sie auch eine allzu frühzeitige programmatische Festlegung, die später sehr hinderlich werden kann, wenn sich die Meinungsumfragen mal wieder gewendet haben und man ungern auf der falschen Seite der Statistik auftauchen möchte. Bleiben Sie dicht am Zeitgeist, seien Sie bereit, Ihre Überzeugungen jederzeit zu reformieren (ihr Spin-Doktor wird Ihnen erklären, wie man sein Mäntelchen in den Wind dreht, ohne dass jemand auch nur einen Luftzug spürt)! Die Parteien wirken mit an der politischen Meinungsbildung derer, die keine Zeit und keinen Verstand und keine Lust dazu haben; und Parteiprogramme werden geschrieben von Leuten, die zu viel Lust dazu haben. Bleiben Sie schön in der Mitte, dort ist die Beweglichkeit am größten und dort wollen sowieso alle hin in der Politik – und wenn man sich niemals allzu sehr mit einer Partei identifiziert hat, fällt der Wechsel zu einer anderen, wenn er aus taktischen Gründen denn dringend nötig wird, auch viel leichter!
Für die politische Flexibilität ist es auch eher von Vorteil, wenn Sie keinerlei Menschenkenntnis, sondern vielmehr ein grundlegendes Desinteresse am Denken, Tun und Treiben Ihrer Mitmenschen haben! Wer die Menschen kennt, tut sich erfahrungsgemäß schwer damit, sie zu lieben; das gilt für den Nächsten sowieso und erst recht für den Übernächsten. Und da Sie sich eigentlich überhaupt nur für sich selbst interessieren (was Sie ebenfalls mit den meisten Ihrer Wähler verbindet), werden Sie auch nicht in den gegenteiligen Fehler verfallen, die Menschen zu hassen – was zwar ein guter Ausgangspunkt für einen ambitionierten Diktator ist, in der Demokratie dann aber doch irgendwann hinderlich! Nein, je ferner Sie Ihren Wählern emotional und menschlich stehen, desto souveräner werden Sie strategisch mit ihnen umgehen. Sehen Sie die Masse, nicht den Einzelnen mit seinem im Einzelnen oft bedauerlichen Einzelschicksal; sehen Sie das immense Wählerpotential, nicht den realen Problemberg; behalten Sie den Gipfel im staatsmännischen Blick, nicht das Klein-Klein der Ebene. Sozialromantik ist etwas für jugendliche Idealisten und Minderheiten-Parteien; in der Spitzenpolitik geht es um Geld wie in allen anderen Top-Branchen auch, und wer nichts erwirtschaftet hat, hat auch nichts zu verteilen. (das werden die Leute im Übrigen irgendwann auch ohne Spin-Doktor verstehen).
Sie sind auch noch nie wählen gegangen, halten Steuerhinterziehung geradezu für ein Zeichen politischer Reife und wissen sowieso nicht, wofür man einen Staat braucht? Das ist eine gute Frage, würde Ihr Spin-Doktor sagen, und dann blitzschnell das Thema wechseln. Tatsächlich weiß nämlich heute niemand mehr, wozu politische Gemeinschaften eigentlich gut sind. Das, was jeder weiß, ist, dass die Straßen immer schlechter werden und die Schulen auch, dass der Staat den braven Bürger weder vor Einbrechern noch vor Einwanderern schützt, dass die Steuern immer höher werden und die Renten immer niedriger und dass der Staat alles, von dem er meint, dass es wirklich wichtig sei, in die Privatwirtschaft ausgelagert hat (öffentliche Energieversorgung, Telekommunikation, und demnächst wahrscheinlich auch die Geheimdienste, auf persönliche Empfehlung von Roland Berger). Die öffentliche Meinung ist also schon wieder auf Ihrer Seite; und die schnöde Tatsache, dass eben dieser Staat die Diäten der Politiker bezahlt, sollte ja nicht dazu führen, dass die ihn nicht kritisieren dürfen! Nein, seitdem unsere Nachbarn nicht mehr regelmäßig über uns herfallen, das politische Tagesgeschäft von den Parteien professionell erledigt wird und jeder die staatlichen Dienstleistungen, die ihm nicht gut genug sind, für Geld anderswo besser kaufen kann (so er welches hat, aber das ist natürlich immer noch die wahre Voraussetzung für jede politische Partizipation, verraten Sie es aber keinem!), seitdem sind die Menschen des Staates müde. Werden Sie nicht müde, sie in dieser Haltung zu bestätigen. Es ist die Voraussetzung des Berufspolitikertums!
Sie verstehen aber überhaupt nichts von all diesen abstrakten gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Zusammenhängen und haben auch keinerlei Lust, sich in derart trockene Themen wie Staatstheorie, Steuer- und Sozialsysteme, Gesellschafts- oder Wirtschaftsmodelle einzuarbeiten? Analytisch waren Sie schon immer eine Null, und schon das Gesetz der Kausalität hat Ihren Verstand bei weitem überfordert? Politik ist keine Wissenschaft, sondern common sense, oder, wenn Ihnen das lieber ist, gesunder Menschenverstand. Wenn es eine anerkannte wissenschaftliche Theorie gäbe, die den idealen Staat samt dem idealen Wirtschafts- und Sozialsystem entwürfe, hätte es wenigstens sichtbare Bemühungen gegeben, sie zu vertuschen oder zu verbieten. Nach dem Scheitern des Kommunismus (und wenn Sie mutig sind und es mit Ihrem Spin-Doktor absprechen, dürfen Sie auch sagen: Über den Kapitalismus ist das letzte Wort noch nicht gesprochen…. – und dann vieldeutig schweigen) gelten eigentlich alle solche theoretischen Versuche nicht nur als unnötig, sondern tendenziell als faschistisch und verbrecherisch. Zwar ist wissenschaftlich auch nicht direkt beweisbar, dass die maximale Theorieferne und das dilettantische Ausprobieren der aktuellen „Demokratie+soziale Marktwissenschaft+Globalisierung“-Ideologie wahrhaft „zielführend“ (Lieblingswort Ihres Spin-Doktors) sind, aber damit bleibt der Laden wenigstens am Laufen, wenn auch gelegentlich in die falsche Richtung. Also: Vergessen Sie Ihre analytische Minderleistung, ihren mangelnden Sachverstand, ihr fehlendes gesellschaftliches Grundwissen; wenn das wichtige Kompetenzen wären, würden wir sie unseren Schülern schließlich beibringen, oder? Wichtig aber ist Kritikfähigkeit. Das bringen wir den Schülern bei. Ist ja auch kein Kunststück. Das werden Sie wohl auch noch hinkriegen, oder?
Wenn Sie allerdings Medienkompetenz für die Fähigkeit, eine Fernbedienung zu benutzen und in den Werbepausen wegzuzappen halten, könnte das ein Problem sein. Ein Politiker, der nicht in den diversen Medien, ob social oder Massen- oder Hyper- oder Print-, ist, existiert nicht. Wer nicht twittert, vegetiert nur noch. Ohne Facebook keine Follower, nirgends. Selbst wenn Sie nur als Feindbild in den Talk-Shows vorkommen oder als Model in der Werbung für Inkontinenz-Einlagen: Es gibt keine schlechte PR. Aber dafür haben Sie gleich ein ganzes Team an Coaches und noch mehr Spin-Doktoren, für die Sie notfalls auch den einen oder anderen Berater in Sachfragen opfern können. Schließlich kommt es nicht darauf an, was Sie sagen, sondern wo Sie es sagen und wie viele Wähler zuhören (deshalb heißt es ja schließlich auch, dass jemand seine „Stimme“ abgibt)!
Verlieren Sie nie den Mut! Alles wird gut, die Zukunft ist freundlich, wir sind es auch!
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nicht jeder von uns ist ein Nachfahre von Picasso oder Rembrandt. Aber auch wenn Sie ästhetisch völlig unsensibel sind, ein Gemälde von Picasso nicht von einem von Rembrandt unterscheiden können und einen Kunstmaler nicht von einem Fassadenmaler: Auch Sie können ein Star der internationalen Kunstszene werden!
Sie halten sich für künstlerisch völlig unbegabt, auf ihren Zeichnungen aus dem Kindergarten konnte man noch nicht mal die Bäume von den Strichmännchen unterscheiden, ihre selbst getöpferten Aschenbecher wurden immer wieder mit Kloschüsseln verwechselt, und wenn Sie ein Kartenhaus bauen wollten, fiel schon das erste Stockwerk zusammen? Talent ist nicht alles und sowieso völlig überbewertet. Die immergleichen Wunderkind-Geschichten der großen Kunstgenies wurden wahrscheinlich entweder von ehrgeizigen Eltern oder von klugen PR-Managern erfunden. Das moderne Konzept von Chancengleichheit beruht ja gerade darauf, dass jeder irgendwie alles kann – wenn man ihn nur genug fördert und ihm hinreichend Möglichkeiten eröffnet, seine ganz persönliche und ureigene Kreativität ungehindert von einengenden Vorurteilen, Regeln und Traditionen zu entfalten. In jedem von uns schlummert ein Künstler und wartet auf den erlösenden Dornröschenkuss! Und wenn der Prinz auf sich wartet lässt, dann küssen Sie sich eben selbst wach (und den Rest erledigt MS Paint oder PhotoShop oder jeder nur halbwegs begabte PC)! [...]
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Natürlich wurde nicht jede Frau wurde mit einem Erfolgsgen, einem eisernen Aufstiegswillen und einem natürlichen Machtinstinkt geboren. Aber auch wenn Sie schon als Kleinkind am liebsten rosa oder pinkfarbene Rüschenkleidchen trugen, ihre Puppenbabys immer in sauber geputzte Puppenhäuser setzten und brav alles taten, was Mama und Papa samt ihren fünf Brüdern von Ihnen verlangt haben: Auch Sie können eine Karrierefrau werden!
Sie sind aber gar keine Frau? Das sind überholte Geschlechterstereotypen! Es kommt nun wirklich nicht darauf an, in welchem Geschlecht Sie geboren wurden; es kommt darauf an, wie Sie sich fühlen! Kultivieren Sie Ihre weibliche Seite, wenn Sie ein Mann sind; stehen Sie zu Ihrer Weiblichkeit, wenn Sie eine Frau sind! Karrierefrau ist ein Berufsbild und ein Bewusstseinszustand, aber keine triviale biologische Tatsache oder willkürliche kulturelle Prägung, der Sie ihr Leben lang ausgeliefert sind. (Und den Rest macht der/die/das gender-Person!) [...]
Für die zukünftige Supermom
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Zum Glück ist nicht jede von uns als Glucke geboren und will so schnell wie möglich so viel niedliche kleine Schreihälse wie möglich in die Welt setzen und aufpäppeln. Aber auch wenn Sie schon Ihren Puppen die Augen ausgekratzt haben und den Goldhamster regelmäßig verhungern ließen: Nichts spricht dagegen, dass Sie eine Supermom werden!
Sie sind unfruchtbar? Das ist ein technisches Detail von untergeordneter Bedeutung heutzutage. Von künstlicher Befruchtung über Leihmutterschaft bis hin zur Adoption steht Ihnen ein weites Spektrum reproduktionstechnischer Möglichkeiten zur Verfügung, die teilweise sogar von den Krankenkassen bezahlt werden! Ganz zu schweigen von den vielen Vorteilen, die die Vermeidung von Schwangerschaft und einer sog. „natürlichen“ Geburt mit sich bringt, nämlich deutlich weniger Gesundheitsrisiken (denken Sie nur an Krampfadern, Schwangerschaftsdiabetes, Cellulitis, postpartale Depression und ähnliche Alpträume). Bei Hollywood-Stars ist das geradezu der Standard, und warum sollten Sie sich weniger wert sein? [...]
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nun gut, nicht jeder von uns hat von Natur aus Geschäftssinn und Unternehmensgeist. Aber selbst wenn Sie noch nicht einmal Ihr Taschengeld verwalten konnten, beim Limoverkauf in der Schule kläglich versagt haben und inzwischen Stammgast bei der Schuldnerberatung sind: Nichts spricht dagegen, dass Sie Topmanager werden können!
Sie meinen, Sie können nicht rechnen, waren schon in der Schule in Mathe der Totalversager und haben noch nicht einmal verstanden, wie man den Taschenrechner im Smartphone bedient? Darum geht es gar nicht im Management. Es geht darum, Menschen zu führen, innovative Produkte zu entwickeln, Unternehmen zu organisieren und vor allem natürlich: am Markt und an der Börse den maximalen Gewinn für sich herauszuholen! Je weniger Sie dabei von lästigem Kleinkram wie Zahlen und Fakten belastet werden – umso besser! Halten Sie sich den Geist frei für die wirklich wichtigen Entscheidungen, für die unternehmerische Vision, für das ganz große Bild, nicht das Kleinklein. Haben Sie schon Mathe-Genies unter den CEOs der internationalen Konzerne gesehen? Den ein oder anderen Nerd, sicherlich, aber die müssen auch nicht rechnen können, dafür haben sie schließlich Computer. Hauptsache jedenfalls, Sie können die Nullen bei Ihrem jährlichen Bonus zählen. Und für den Rest haben Sie Personal: Buchhalter, in Scharen, mit Ärmelschonern, wenn es sein muss, und ein paar extra für die kreative Buchhaltung (Panama!). [...]
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nun gut, nicht jeder von uns wurde mit einem Heiligenschein geboren, aber auch wenn sie ein in der Wolle gefärbter Atheist oder Teufelsanhänger sind: Nichts spricht dagegen, dass Sie Papst werden!
Sie meinen, Sie seien überhaupt nicht religiös veranlagt? Wen interessieren die Gene? Der Mensch ist frei geboren und kann alles aus sich machen, nur noch unbelehrbare biologistische Reduktionisten glauben daran, dass überhaupt irgendetwas angeboren ist, außer vielleicht der Haar- und Augenfarbe oder dem biologischen Geschlecht (und selbst das muss ja heutzutage kein Schicksal sein!) Auch der Talentloseste kann religiös werden! Am besten verzweifeln Sie zuerst ein wenig an der Welt (das sollte nicht allzu schwer fallen, es reicht die tägliche Beschäftigung mit den Nachrichten aus aller Welt); Sie werden merken, wie Sie zunehmend die Hoffnung auf ein gutes Ende für die Menschheit –und damit natürlich auch: Sie persönlich! – verlieren, wie Sie mehr und mehr anfangen werden, nach Hoffnungs- und Trostgründen zu suchen: Glaube, Liebe und Hoffnung, das alles verspricht die Religion Ihnen, und zwar umsonst! Machen Sie Baby Steps: Glauben Sie zuerst einem Versicherungsvertreter, dann ihrer Frau, dann einem Politiker und schließlich –an die Unfehlbarkeit des Papstes! Na also, geht doch! [...]
Für zukünftige Nobelpreisträger
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nun gut, nicht jeder von uns wurde mit dem IQ von Albert Einstein geboren, aber auch wenn sie ein wenig langsam im Denken, eher einfallslos und an nichts so recht interessiert sind: Nichts spricht dagegen, dass Sie Nobelpreisträger werden!
Sie meinen, Sie waren in der Schule eine Null, haben nur von ihren Nachbarn abgeschrieben und das auch noch falsch, und Lernen für eine Verirrung von unsympathischen und unbeliebten Strebern gehalten, die eben nicht schön oder nicht stark genug waren, um sich auf dem Schulhof gegen die Bullies durchzusetzen? Unser Gehirn ist, das zeigen alle neueren Forschungen, noch im hohen Alter plastisch und lernfähig! Zwar wird das Lernen mit zunehmenden Alter immer schwerer und mühevoller, aber angesichts des rapide sinkenden Leistungsniveaus des durchschnittlichen Gymnasiasten haben auch Späteinsteiger eine echte Chance. Ein Abitur ist schon lange kein Reifezeugnis mehr, sondern eine Lizenz fürs Komasaufen und das anschließend Abhängen im Gap Year, und damit auch wirklich jeder studieren kann, haben wir an den Universitäten die Bologna-Reform eingeführt! Studieren Sie kürzer, oberflächlicher und vor allem Kompetenzkompetenzen, Wissen ist völlig überbewertet und Gründlichkeit etwas für verklemmte Spießer! [...]
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben ein Recht darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nun gut, nicht jede von uns hat die Natur mit einer Traumfigur ausgestattet. Aber auch wenn an Ihrer Wiege keine Fee gestanden und Ihnen ewige, unwandelbare Schönheit geschenkt hat: Nichts spricht dagegen, dass Sie ein Supermodel werden!
Sie meinen, Sie seien zu klein? Wachsen Sie über sich selbst hinaus! Zeigen Sie innere Größe! Schon wenn Sie nur gerade gehen, werden Sie ein paar Zentimeter größer. Groß ist, wer Groß denkt! Und wer sagt Ihnen, dass nicht in ein paar Jahren auch etwas kleinere Models gesucht werden? Lassen Sie sich von der Modeindustrie nicht klein machen, gründen Sie eine Initiative für „Equal Heights“! (Englisch kommt immer besser in der Branche) Schluss mit der Diskriminierung auf dem Laufsteg, Klein ist das neue Groß! (und den Rest besorgt Photo Shop) [...]
Für zukünftige Profi-Sportler
Sie sind das Lieblingskind des Schicksals! Sie können nicht nur alles erreichen, was Sie wollen, Sie haben sogar einen Anspruch darauf! Halten Sie fest an Ihren Zielen, Wünschen, Träumen!
Nun gut, nicht jeden von uns hat die Natur zum Leistungssportler prädestiniert, aber auch wenn sie von eher schwächlicher Konstitution sind, im Schulsport immer zuletzt in die Mannschaft gewählt wurden und die Treppe vom Erdgeschoß ins erste Obergeschoss für eine sportliche Herausforderung halten: Nichts spricht dagegen, dass Sie ein Profifußballer werden!
Sie meinen, Sie seien zu klein oder zu schwach oder beides? Dagegen hilft konsequentes Training, am besten von Kindesbeinen an. Das Fitneß-Studio sollte ihnen nicht zur zweiten, sondern zur ersten Heimat werden (die Hausaufgaben können warten, welcher Profisportler braucht schließlich Rechtschreibung?) Unter der gezielten fachmännischen Betreuung durch einen personal trainer (eine lohnende Investition in eine sichere Zukunft) können Sie jeden beliebigen Muskel aufbauen (und den Rest besorgen freundliche Steroide). [...]
Prooemium
Singe mir Muse, von der Schöpfung, ihren großen Ideen und ihren weltenschaffenden Entwürfen, ihren Lebewesen groß und klein, wie sie die Erde bevölkern, in der tiefen See und den hohen Himmeln, in der warmen Erde und im kalten Eis, im Wiegen der Bäume und im Murmeln der Bäche, unter dem allesbelebenden Licht der Sonne und dem Ziehen der Wolken, die den Regen bringen, den fruchtschaffenden! Singe mir, Muse, auch vom Menschen, seinen Schöpfungen und Taten, seinen Künsten und Wissenschaften, seinen kleinen und großen Heldentaten, seiner Liebe und seiner Hoffnung und seinem Glauben, seiner Schönheit und seiner Vergänglichkeit! Singe mir – ach Muse, dein Gesang ist leiser geworden, beinahe schon ist er verstummt; übertönt wird er vom Stöhnen der gequälten Geschöpfe, vom stummen Leiden der gemarterten Erde, vom Ächzen der gefällten Bäume und dem Todesgesang der vergehenden Gletscher; und kaum noch finden sich Glaube, Liebe und Hoffnung in der von Kriegen, Krisen, Krankheiten geschüttelten Menschheit!
***
Dieses ist der Bericht über die Evaluation des Forschungsprojekts „Schöpfung 1.0“, das vom Universum seit einigen Millionen Jahren auf dem Planeten Erde durchgeführt wird. Er wurde ausgewählt, da er sowohl seiner geringen Größe als auch seiner abseitigen Lage wegen die idealen Rahmenbedingungen für ein überschaubares Experiment mit Lebensformen, insbesondere solche mit einem Bewusstsein, bietet. Um die Verständigung mit diesen Lebensformen sicherzustellen, wurde ihnen der ursprüngliche Projektantrag in Form verschiedener religiöser Meta-Erzählungen (exemplarisch als „Schöpfungsbericht“ formuliert in der „Bibel“, funktionsäquivalent auch in allen anderen großen Religionen) überlassen.
Die Evaluation bedient sich einer den begrenzten intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten der Lebensformen angepassten Darstellungsform. Antragstellerin ist nunmehr die Menschheit selbst, die eine Fortsetzung des Experiments unter dem Titel „Schöpfung 2.0“ beim Universum sowie die vollumfängliche Übertragung der Projektleitung auf sie selbst beantragt.
Für die Entscheidung wurde der bisherige Projektverlauf gutachterlich evaluiert vom Advocatus Diaboli (im Folgenden: AD). Die Verfahrensleitung und Entscheidung über die Fortsetzung des Experiments hat die intergalaktische interakademische Kommission dem Erzengel Michael übertragen.
Protokoll des Prozessverlaufs
Der Erzengel Michael begrüßt die beiden Parteienvertreter im Auftrag der intergalaktischen interakademischen Kommission und weist noch einmal daraufhin, dass die Evaluation für alle Beteiligten auf verschiedenen Kanälen in verschiedenen Sprachen und Darstellungsformen zugänglich ist. Er verweist zudem auf den umfangreichen Projektantrag, der samt allen Anlagen und Dokumentationen weiterhin eingesehen werden kann. Hier gehe es nur um eine symbolische Darstellung der Hauptpunkte des Antrags, deren Begründung durch den Antragsteller sowie deren kritische Bewertung durch den Advocatus Diaboli für das Protokoll.
Der Erzengel Michael bittet alle Parteien um Kürze und um möglichst sachliche Darstellung. Anschließend ruft er den Advocatus Diaboli zu seinem Eröffnungsplädoyer auf.
AD:
Die vier apokalyptischen Reiter – verehrte Menschheit, Vertreter des Universums: Sie alle kennen die diversen Darstellungen dieses populären Motivs, in der Kunst, in der Literatur, im Film und im alles umspannenden Internet. Aber wissen Sie noch, wofür die vier apokalyptischen Reiter einmal standen, ganz am Anfang, in unserem Projektantrag, der Bibel? Dort, in unserem Gründungsdokument, ist nämlich nicht nur der Anfang des Experiments beschrieben, sondern auch sein Ende, dem Schöpfungsbericht steht die Apokalypse gegenüber! Beide sind im Übrigen, das sollte für das Protokoll noch einmal erwähnt werden, in unterschiedlichem Maße bildlich verschlüsselt worden, um den Verlauf des Experiments nicht zu sehr zu beeinflussen und zu verschiedenen Deutungen zu ermutigen – im Nachhinein vielleicht ein Fehler, aber das Universum ist ein selbstlernendes System, und wir haben gelernt!
Aber zurück zum vorliegenden Experiment. Dort also, in der eindrucksvollen Beschreibung der Apokalypse, kommen auf den Ruf des Lammes Gottes vier Reiter auf vier verschiedenfarbigen Pferden hervor: Der erste, mit dem weißen Pferd, ist der Sieger; der zweite, mit dem roten, ist der Krieg; der dritte, mit dem schwarzen Pferd, ist der Hunger; und der vierte, mit dem fahlen Pferd ist der Tod (ich muss der Korrektheit wegen offenlegen, dass mich mit letzterem eine enge symbolische Verwandtschaften verbinden, die jedoch nicht als Befangenheit eingestuft wurden; ich bin auch kein Fan fahler Pferde).
Im Laufe des Projekts und spezieller: der menschlichen Geschichte, um die es bei dieser Evaluation insbesondere gehen wird, wurden diese vier Reiter immer wieder den Umständen angepasst. Ich erspare Ihnen die Details und will nur kurz darauf hinweisen, dass besonders der ursprüngliche weiße Sieger beinahe immer durch eine negativ assoziierte Katastrophenfigur (wie beispielsweise die Krankheit, vorzugsweise: die Pest) ersetzt wurde. Ich bin durchaus geneigt, das als Ansatz zur Selbstkritik gelten zu lassen: Die Menschheit wusste schon seit langem in ihrem kollektiven Unterbewussten, dass sie keine Sieger hervorbrachte, sondern nur – Katastrophen in menschlicher Gestalt.
Besonders jedoch in diesem dritten, für den Projekterfolg so entscheidenden Jahrtausend, in dem eigentlich die globale Befriedung und Vereinigung vorgesehen war, haben sich die Reiter so vervielfacht, dass selbst ich gelegentlich den Überblick verliere, ja mir geradezu die Pferde ausgehen! Von einer „Polykrise“ sprechen inzwischen die Menschen selbst; und wie immer glauben sie, wenn sie ein Wort gefunden hätten, sei das Problem gelöst.
Dem ist nicht so, wie ich zeigen werde. Ich präsentieren Ihnen im Folgenden, in keiner bestimmten Reihenfolge und mit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, die wesentlichen Krisen des dritten Jahrtausends, die eine erfolgversprechende Fortsetzung des Projekts massiv in Frage stellen:
Beginnen wir mit den Klassikern, mit unseren Ur-Pferden sozusagen. KRIEG! Niemals in der gesamten Geschichte der Menschheit hat es einen Frieden gegeben, der mehr als ein Zwischenspiel, eine nötige Atempause war. Wieder und wieder ziehen die Menschen in den Krieg und schlachten einander ab, mit immer ausgeklügelteren Mitteln und immer größerer Perfidität. Niemals wurde dieses äußerst zweifelhafte Mittel der Konfliktschlichtung jemals umfassend evaluiert, nein, nur die Pferde wurden immer mehr aufgerüstet und sind schon ganz fett vor lauter Technologie. Und die Gründe waren und bleiben immer die gleichen: Einer will etwas, was ein anderer hat – Raum, Ressourcen, Menschen; oder, noch allgemeiner: Recht haben! Die Deutungshoheit! Die Macht über die Gehirne und die Herzen! Menschen müssen Recht haben, um welchen Preis auch immer; sie haben ganze Moralsysteme darauf errichtet, dass für die Durchsetzung des Guten, Richtigen, Einzigwahren alle Mittel gerechtfertigt sind! Der Mensch ist nicht zum Frieden gemacht; die Geschichte ist der lebendige Beweis dafür. Und die Menschheit wird sich selbst zerstören, die Apokalypse wird kommen; es wäre barmherzig und wahrhaft menschlich gedacht, ihr absehbares Leiden abzukürzen.
Zum zweiten: HUNGER, und nehmen wir ihn ruhig in einem etwas weiteren Sinne – die Ungleichverteilung der Ressourcen und Chancen, das direkte Ergebnis des katastrophalen menschlichen Umgangs mit der Natur, mit dem gesamten Rest der Schöpfung. Der Mensch hat sich die Erde untertan gemacht, das stand so im Schöpfungsbericht – aber in welch einem Gewaltakt und um welchen Preis! Millionen können kaum noch atmen in der verschmutzten Luft; im Meer, dem endlosen und wahrlich geduldigen Ozean, sterben Millionen Geschöpfe an der immer anwachsenden Müllflut. Die Erde stöhnt auf unter dem radikalen Raubbau an all ihren Schätzen. Ganze Arten verschwinden jeden Tag für immer, damit die eine, vermeintlich überlegene Art auf ihrem weißen Sieger-Pferd weiter galoppieren kann, und unter ihren Hufen erzittert Gaia, der Globus.
Aber auch hier ist das apokalyptische Ende schon in Sicht: Die Erde erwärmt sich, und sie wird überhitzen. Die Naturkatastrophen werden häufiger und zerstörerischer werden, das Wasser wird noch knapper werden, die Ernten werden ausbleiben, der Hunger wird die Menschen aus ihrer Heimat vertreiben in einer großen kosmischen Flutwelle. Machen wir dem ein baldiges Ende!
Zum dritten: KRANKHEIT. Viren sind die neue Pest geworden, sie verbreiten sich noch schneller, sie können genauso tödlich sein wie die Pest, und sie hinterlassen bleibende Schäden (es wäre aber auch einiges zu ihrem Vorteil zu sagen; ich weise auf meine späteren Ausführungen voraus!). Sie treffen zudem auf einfache Opfer: Die Menschen haben ihre eigene Gesundheit schon lange vorher ruiniert, vor allem in den wohlhabenden Ländern und den reichen Gesellschaften. Ihre Körper sind deformiert von ihren unnatürlichen Lebensgewohnheiten. Ihre Seelen haben ihre Widerstandskraft und ihre Elastizität verloren und sind schwach, kränklich, ein leichtes Opfer für Psychosen, Neurosen und Ängste geworden. Die Menschheit leidet an einer kollektiven Immunschwäche; und die Evolution, unser Mechanismus zur Krisenregulierung, hat schon lange dafür gesorgt, dass die Fortpflanzungsraten kontinuierlich sinken. Die Menschheit wird, über kurz oder lang, ganz von allein aussterben. Wollen wir ein globales Hospiz aus der Erde machen?
Doch zu unseren klassischen apokalyptischen Reitern kommen einige speziell menschengemachte; und sie erweisen sich immer mehr als den Klassikern ebenbürtig. Auf einem grauen Pferd daher reitet die allmächtige BÜROKRATIE, der Formular gewordene Glaube an die universale Regulierbarkeit aller menschlichen Handlungen (und Unterlassungen!) in immer kleinteiligeren Vorschriften. Jegliche konstruktive Veränderung wird zermahlen in dieser Mühle, unendliche Mengen menschlicher Energie sinnlos verbrannt, Initiative und Verantwortungsbewusstein erstickt. Wenn die Apokalypse verhindert werden kann, dann sicherlich nur dadurch, dass nicht alle Formulare fristgerecht und vollständig ausgefüllt wurden, der Feuerschutz nicht gewährleistet ist und kein hinreichendes Sicherheitspersonal an den Höllentoren bereitsteht!
Die Bürokratie gehört auch zu den Geißeln des modernen STAATES, und zwar in all seinen Formen. Wie stolz ist die Menschheit nicht auf dieses ihr Vorzeige- und Prachtwerkes, den Staat! Natürlich waren wir davon ausgegangen, dass die Menschen als besondere Lebensform mit eigenem Bewusstsein irgendwann eine solche Institution erfinden müssten; vielen anderen Lebensformen ist das ja auch gelungen. Dass sie aber derart instabile, weit über ihre sinnvolle Reichweite hinausreichenden und unsinnig miteinander konkurrierende Staatsmodelle etablieren würden, ist eine der tragischsten Fehlentwicklungen der Menschheitsgeschichte. Je größer die Staaten, desto mehr tendieren sie entweder zur autokratischen Alleinherrschaft – was zwar funktioniert, aber normalerweise irgendwann in größenwahnsinnige Autokratien oder starre Gerontokratien umschlägt. Oder sie versuchen, um jeden Preis eine demokratische Gesellschaft zu etablieren, völlig ohne Rücksicht auf die Demokratiefähigkeit ihrer Mitglieder – der Preis sind zerfallende, sich in endlosen Parteienstreitigkeiten verfangende Staaten, die zunehmend handlungsunfähig werden, weil sie in einem ewigen Zirkel von Wahlkampf, Regierungsbildung, Regierungszerfall, Neuwahl, Wahlkampf gefangen sind. Das Staats-Pferd ist inzwischen häufig modisch divers aufgezäumt, aber es verweigert die Dressur und wird tückisch.
Oder, und damit komme ich langsam zum Ende unserer apokalyptischen Parade, verehrte Hörerschaft, oder: Die Apokalypse kommt als Bankrotterklärung; der Menschheit geht ihr größter Heiliger, das GELD, aus! Längst bildet die Realwirtschaft, die Erzeugung von Gütern mit einem handgreiflichen Wert, nur noch einen Bruchteil der Gesamtwertschöpfung. An den Märkten werden Blasen gehandelt, die immer größer und größer werden, es wird spekuliert auf ein ewiges Wachstum, es werden Schuldenberge aufgehäuft, um Schulden zu bezahlen und neue zu machen – denn Geld ist zu dem einzigen Zaubermittel geworden, mit dem alle Probleme gelöst werden können. Das Pferd ist golden, und es kann über Wasser gehen und die schönsten Pirouetten drehen; es ist aber nur Katzengold, und eigentlich auch nur eine Simulation eines Pferdes, das kaum noch pferdeähnlich aussieht. Irgendwann wird der Menschheit also nicht nur das Geld ausgehen – das ist es sowieso schon lange. Nein, es wird ihr der Glaube an das Geld ausgehen, das magische Vertrauen in die Märkte, die Zuversicht auf deren unsichtbare, aber Geld spuckende Hände. Dann hilft auch das goldene Pferd nicht mehr!
Das allerletzte Pferd aber ist ein ganz besonderes Pferd. Also, es denkt, es sei ein ganz besonderes Pferd; es sei persönlich schöner und klüger als alle anderen Pferde, es sei unendlich einzigartig und unendlich liebenswert, und es habe, eben weil es ein Pferd sei, einen verbrieften Anspruch auf universale Pferderecht und ewiges Lebensglück. Es ist aber, wenn man genau hinschaut, ein Pferd wie alle anderen auch. Es wäre glücklicher, wenn es das erkennen könnte und nur ein Pferd sein wollte, das arbeitet um zu leben, wie alle anderen Geschöpfe, und das sich gelegentlich über einen schönen Hafer freut. Aber der Mensch hat sein MENSCHSEIN so mit Ideen und Idealen überladen, dass er darunter zusammenbrechen muss, früher oder später.
Wir erinnern uns: Der vierte Reiter ist der TOD. Die Menschheit hat alles getan, was in ihrer Macht steht, um das Sterben zur unnatürlichen Singularität zu machen; zu dem Erzfeind des Lebens, über den nicht gesprochen werden darf. Das Leben wird verlängert, mit allen Mitteln, um (fast) jeden Preis; und wer einmal im Leben wirklich beweisen könnte, dass er einen freien Willen haben könnte, wird mit allen Mitteln daran gehindert. Erinnern wir uns: Der Tod ist eine Gnade, eine Befreiung und wahrhaft menschenwürdig. Überlassen wir ihm das Feld!
Mensch:
Ich stehe hier als Vertreter der Antragsteller und gleichzeitig als Betroffener, nämlich als Mensch. Mein Name tut nichts zur Sache, ebenso wenig meine Herkunft, meine Religion oder mein Geschlecht; ich bin damit einverstanden, im weiteren Verfahren als „Mensch“ im Protokoll geführt zu werden. Ich wurde in einem Losverfahren bestimmt, da die Suche nach einem konsensfähigen Vertreter in einem globusweiten Beteiligungsverfahren zwar schon jahrzehntelang betrieben wurde, aber immer wieder gescheitert ist (Notiz im Protokoll: Der AD grinst diabolisch; später gestrichen).
Ich bin mir bewusst, dass das kein Ruhmesblatt für meine Spezies ist. Aber ich werde trotzdem im Folgenden versuchen, mit Hilfe der mir vorliegenden umfangreichen Berichte über die globalen Errungenschaften des Menschen die Leistungen und Erfolge der bisherigen Antragsperiode zu dokumentieren, die für eine Fortsetzung des Experiments sprechen!
Ich kann dafür keine apokalyptischen Reiter oder andere diabolischen Kabinettsstückchen aufbieten. Aber ich möchte kurz erinnern an das Gründungsversprechen, unter dem das Experiment angetreten ist, und auch an die damit verbundene Zuversicht und den Vertrauensvorschuss, für den wir bis heute dankbar sind, bei allen Pannen und Misserfolgen im Einzelnen. Denn die Schöpfung sollte nicht nur ein göttlicher Gnadenakt sein, der über aller menschlichen Vernunft stand. Nein, sie war ein Meisterwerk der Natur, vollbracht durch eine Reihe einfacher selbstregulierender Mechanismen, die wir spät erst erkannten und unter den Begriff „Evolution“ zusammenfassten: Mutation und Selektion, die magischen Formeln, durch die aus der einfachen Reproduktion des Lebendigen durch ein Werk des Zufalls (der nicht unter die Macht des AD fällt, wie ich anfügen möchte!) immer neue Variationen geschaffen wurden! Und die es dann ermöglichte, unter Millionen von Modifikationen diejenigen zu finden und durch natürliche Auslese zu verstärken, die in einer bestimmten Situation, unter veränderten Verhältnissen die besten, nämlich: am besten angepassten zu finden und dadurch die Fortpflanzung des Lebendigen bestmöglich sicherzustellen.
Mutation und Selektion, Zufall und Zielgenauigkeit: Das ist die Hand Gottes, die die unendliche Vielfalt des Lebendigen hervorgebracht hat, das sich nun immer weiter vervielfachen, fortpflanzen und ausdifferenzieren möchten. Fruchtbarkeit und Vermehrung sind die Grundantriebe unserer Schöpfung (Protokollnotiz: Der AD macht obszöne Gesten); und ihre Ergebnisse sind von einem faszinierenden, unergründlichen und ständig wachsenden Reichtum und von überwältigender Schönheit. Die gesamte Erde ist zu einem großen belebten Organismus geworden, durchwebt vom Atem der Schöpfung; im Rhythmus von Werden und Vergehen erhält sie sich selbst und zeigt, dass – auch wenn wir noch nicht verstanden haben, wie das möglich sein sollte, aber ich erspare Ihnen die Streitigkeiten unserer Wissenschaftler – die Harmonie und die Schönheit einer artenreichen Schöpfung selbst das Chaos besiegen werden. Das ist unser weißes Pferd, mit den Worten meines geschätzten Vorredners gesprochen; und es trägt die Fahne von Glaube, Liebe und Hoffnung!
Der Erzengel Michael bedankt sich für die Einleitungs-Plädoyers. Er bittet den AD, sich in Kommentaren und Gestik zu zügeln, und fordert dazu auf, nun die einzelnen Punkte des Antrags, orientiert an den Gliederungspunkten im ursprünglichen Schöpfungsbericht, im Einzelnen und in aller Kürze vorzutragen.
Unstrittig gestellt werden im Einverständnis aller Parteien die Erschaffung von Himmel und Erde sowie die Aufteilung von Licht und Finsternis. Sowohl die Anklage als auch die Verteidigung legen jedoch Wert darauf, dass der Dualismus von Licht und Finsternis keinerlei werthaftes Präjudiz enthalten sollte; das wird im Protokoll vermerkt.
Ad 1: Erschaffung der Pflanzen
Mensch:
Pflanzen sind eines der größten Wunder der Schöpfung. Sie sind die größten Lebewesen auf diesen Planeten; sie sind die ältesten. Ohne die von ihnen betriebene Photosynthese hätte sich kein Leben auf der Erde entwickeln können und wir könnten nicht atmen. Ohne Photosynthese hätten wir keine schützende Ozonschicht, die die UV-Strahlung aus dem All absorbiert. Ohne Photosynthese hätte all das ungebundene Kohlendioxid schon längst das Klima auf unserem Planeten ruiniert. Pflanzen ernähren Menschen und Tiere; sie gedeihen in unendlicher Vielfalt selbst an den feindlichsten Standorten und sind Musterbeispiele der Flexibilität und des Erfindungsgeistes der Evolution. Sie können Kollektivwesen bilden, Gemeinschaften entwickeln, ganze Lebensräume ausgestalten – was wäre das menschliche Leben ohne Blumen, ohne Wälder? Alle Kulturen, die die Menschheit jemals entwickelt hat, konnten erst durch Ackerbau und die Kultivierung von Nutzpflanzen zur Blüte kommen! Die Erde ist ein blühender Planet geworden, ein Garten Eden, der den ganzen Globus umspannt. Und wir Menschen sind die Hüter dieses neues Paradieses, und wir werden es in seinem besten Interesse hegen und pflegen!
AD:
Ist die Natur nicht wunderbar? Gleich wird uns Mensch ein Naturgedicht zitieren! Nein, das alles sind Worte, schöne Worte, aber so wohlfeil wie ein bunter Blumenstrauß, ausgerissen aus der Wiese, der in der Vase schnell verdirbt. Wo war die Liebe zu den wunderbaren Wäldern, als die Amazonas-Regenwälder abgeholzt wurden, um Platz für Mais-Monokulturen zu gewinnen? Was ist aus den Blumen geworden, die auf den Schlachtfeldern wuchsen oder auf Industrieflächen? Wo sind die vielfältigen und ursprünglichen Pflanzen in euren Mega-Städten, diesen lebensfeindlichen Beton- und Glaswüsten? In Glaskästen habt ihr sie selbst gesteckt; in Parks eingefriedet, und in Naturschutzgebieten zum Pflanzen-Zoo gemacht. Nein, Pflanzen sind geradezu die prototypischen Opfer der Evolution: Sie konnten, standorttreu wie sie wesensgemäß sind, nie vor euren zerstörerischen Angriffen fliehen! Ihr habt die Pflanzenwelt ausgebeutet, domestiziert oder vernichtet; und jeder Pilz könnte die Welt besser und gerechter im Auftrag der Schöpfung regieren als ihr!
Der Erzengel Michael mahnt erneut zur Mäßigung und ruft den zweiten Punkt des Antrags auf.
Ad 2: Erschaffung der Meerestiere
Mensch:
Der Ozean bedeckt nicht nur den größeren Teil der Erdoberfläche; er ist auch eine Welt für sich. Tief in den Gräben existieren Wesen, die niemals das Licht des Tages gesehen haben und keine Farben kennen; oben auf den Wellen spielen Delphine, und winzige Organismen bringen das Meer zum Leuchten. Die riesige Planktonmasse ist die Basis aller ozeanischen Nahrungsketten; sie bindet große Mengen Kohlendioxid und war für die Bildung der organischen Brennstoffe, die erst unsere technologische Entwicklung ermöglicht haben, unentbehrlich. Aber auch kollektive Lebensformen hat das Meer hervorgebracht, deren Schwarmintelligenz wir erst langsam verstehen. Das gleiche gilt für die Intelligenzleistungen der höchstentwickelten Meeressäuger, wie Delphine oder Kraken, von denen wir in Zukunft mehr zu lernen gedenken. Und ist es nicht wahrhaft erhebend, eine Schar Delphine beim Spielen um ein Schiff zu beobachten; oder das Meeresleuchten der winzigsten Meeresorganismen in einer klaren Tiefseenacht?
AD:
Oder dabei zuzusehen, wie die großen Fische die kleinen fressen? Oder wie ein Wal an einer Müllinsel aus Plastikflaschen erstickt? Oder wie ein Hochsee-Trawler ganze kollektiv intelligente Schwärme einsammelt und durch seine Hackmaschinen jagt und zu Fischstäbchen macht? Wenn ihr das Meer so wertschätzt, wie ihr so gern sagt: Warum habt ihr es vermüllt, leergefischt und zu einem weiteren Kriegsschauplatz gemacht? Und die Wunder der Evolution, jaja; aber manchmal habe ich ja den Verdacht, wenn ich so eine augenlose Tiefsee-Existenz oder einen Clownfisch anschaue, dass sich die Evolution gelegentlich einen Scherz erlaubt. Und vielleicht schwimmen die Delphine, eure Lieblinge, ja mit euch und nicht umgekehrt?
Der Erzengel Michael verkündet eine kurze Kaffeepause. Erfrischungen für alle Lebensformen, die materieller Ernährung bedürftig seien, stünden im Foyer bereit. Dort liege auch der vollständige Antrag samt aller virtuellen Anlagen zur Einsicht aus.
Fortsetzung der Verhandlung nach einer halben Stunde Erdenzeit.
Ad 3: Erschaffung der Vögel unter dem Himmel
Mensch:
Fliegen können! Unter dem endlosen Himmel kreisen, scheinbar schwerelos, und die ganze Welt von oben sehen, aus der Vogelperspektive! Vögel sind nicht einfach Tiere, sie sind Künstler und Hochleistungswesen von Natur aus. Zugvögel bewältigen jedes Jahr enorme Flugstrecken, ohne Navigationssystem oder Landkarte; Jagdvögel können aus großen Höhen die kleinsten Beutetiere erspähen, ohne Fernrohre und Brillen; Fledermäuse haben ein hochkomplexes Echolot-System entwickelt, um sich in völliger Dunkelheit zu orientieren. Vögel können Schwärme bilden und koordinieren; sie können lebenslange Paarbeziehungen eingehen, und einige ihre Nester sind hochkomplexe Kunstwerke. Viele Vögel sind klug; Raben und Krähen können Werkzeuge benutzen, Handlungen planen, erworbenes Wissen an die Nachkommen weitergeben und wahrscheinlich auch kommunizieren. Und ihre Farben, ihre Schönheit, ihre Eleganz!
AD:
Überflieger, Phantasten und Nestbeschmutzer, das sind eure sagenhaften Vögel! Sie stehlen wie die Elstern, sie hacken sich gegenseitig die Augen aus, sie legen ihre Eier in fremde Nester, sie sind, sagen wir es doch deutlich: Auch nicht besser als ihr selbst! Und gar ihre Pfauenhaftigkeit, ihr gockelhaftes Gehabe, ihr Aufplustern und Größermachen, ihr endloses Gegacker! Aber mit einem habt ihr recht. Ein wenig mehr Schwarm-Intelligenz würde der Menschheit guttun! Aber ihr habt es nur bis zum Mob gebracht, zur negativen Schwarm-Intelligenz.
Der Erzengel Michael bittet erneut, man möge sich die Polemik ersparen und bei den Fakten bleiben. Anschließend ruft er den nächsten Antragspunkt auf und bittet um sachliche Kürze bei der Behandlung des nächsten Punktes, der seines Umfangs wegen in einzelne Unterpunkte zerlegt wurde.
Ad 4: Erschaffung der Landtiere; 4.1 Reptilien
Mensch:
Ich fasse mich kurz. Reptilien sind uralte Lebewesen, sie erinnern uns an die Zeit, als das Leben sich noch ganz im Anfangs- und Versuchsstadium befand. Sie sind ganz anders als wir Menschen: wechselwarm, und damit extrem anpassungsfähig an ihre klimatische Umgebung; und von einer geradezu stoischen Ruhe, die blitzartig in die rascheste Beweglichkeit umschlagen kann. Einige von ihnen können sehr alt werden, ohne sich wesentlich zu verändern; andere häuten sich regelmäßig. Sie gelten vielleicht nicht unbedingt als Schönheitsideal; aber das –
AD:
Das zeigt nur, wie unendlich voreingenommen und fixiert auf eure eigene Gestalt ihr Menschen seid! Nein, meine Reptilien lob ich mir (ich lege aber, fürs Protokoll. offen, dass hier gewisse Verwandtschaftsverhältnisse bestehen); das ist doch endlich was Solides! Ein Modell, das die Jahrmillionen überdauert hat!
Der Erzengel Michael bedankt sich für die kompakte Behandlung dieses Punktes und ruft den nächsten auf.
Ad 4.2. Insekten
Mensch:
Insekten sind die artenreichste Klasse der Tiere überhaupt; hier zeigt sich die Vielfalt der Evolution in all ihrer Macht und ihrem größten Erfindungsreichtum. Ich verzichte darauf, all die verschiedenen Subspezies aufzureihen und nenne auch hier nur summarisch die erstaunlichen Höchstleistungen. Insekten können Staaten bilden, die es ihnen erlauben, auch die schwierigsten Aufgaben kollektiv und arbeitsteilig zu bewältigen. Sie sind erfahrene Baukünstler, wie die Netze der Spinnen oder die Kokons der Seidenraupen beweisen. Mit ihren Facettenaugen können sie die allerschnellsten Bewegungen detektieren; ihr Blickfeld ist weitreichender als der eingeschränkte Radius des menschlichen Auges. Kakerlaken sind die Überlebenskünstler des Planeten schlechthin. Und Schmetterlinge sind nicht nur Virtuosen des Gestaltwandels, sondern von hinreißender Schönheit und Zierlichkeit.
AD:
Ich kann mich nur wiederholen: Wenn ihr doch etwas mehr anderen Lebensformen lernen wollten! Aber eure historisch erworbene Abneigung gegen Kollektive und eure systematische Unterschätzung des Kleinen, Unauffälligen, zugunsten der Großen, Sensationellen lassen das nicht zu. Und von wegen Artenvielfalt: Zwar ist die Natur unendlich erfindungsreich in der Produktion neuer Arten. Aber ihr habt es beinahe zu gleicher Perfektion darin gebracht, Arten aussterben zu lassen, indem ihre deren natürliche Lebensräume usurpiert, ausbeutet und vernichtet. Natürlich weint ihr dann ein wenig, es sind allerdings echte Krokodilstränen; nämlich ein Sekret, dass beim Fressen entsteht, wenn ein Krokodil das Maul sehr weit öffnet! Ganze Großtiere sind in diesem Maul schon verschwinden, der Dodo, das Riesenfaultier, die Dinosaurier gar!
Der Erzengel Michael kündigt die nächste Pause an. Ein kleines Mittagsbuffet sei im Foyer aufgebaut. Derweil liege der eingereichte Antrag samt all seinen Anlagen (ungefähr 10.000 Seiten) zur Ansicht aus; er sei natürlich auch in digitaler, virtueller und barrierefreier Form zugänglich.
Aufruf zum nächsten Antragspunkt zwei Stunden später.
Ad 4.3: Landtiere, Säugetiere
Mensch:
Wir kommen zu den Säugetieren, unseren – wie ich dazu sagen muss, auch fürs Protokoll: nächsten Verwandten. Sie sind die jüngsten Kinder der Evolution, und wahrscheinlich auch: ihre Lieblinge. Säugetiere gebären ihre Kinder lebend; sie säugen sie nicht nur, sie ziehen sie auf, sie sozialisieren sie. Sie können in Gruppen leben, die eine Hierarchie aufweisen; sie können miteinander kommunizieren; viele haben ein Gedächtnis, wie das sprichwörtliche Elefantengedächtnis. Sie haben alle Kontinente besiedelt; sie haben sich dem Leben im Meer angepasst oder graben ihre Bauten unter der Erde; sie haben weitentwickelte Sinnesorgane, darunter häufig einen phänomenalen Geruchssinn. Viele sind Kulturfolger; einige haben sich soweit an den Menschen angepasst, dass sie von Nutztieren zu Haustieren und der Menschheit auch psychisch unentbehrlichen Gefährten geworden sind. Ohne die Domestizierung von Säugetieren hätte sich die menschliche Kultur nicht entwickeln können!
AD:
Das ist, mit Verlaub, nicht die ganze Geschichte. Ganz sicher hätte sich die menschliche Kultur nicht entwickeln können – ohne die Jagd auf ihre Säugetier-Verwandten, deren Verzehr, die Nutzung ihrer Felle und ihrer Milch. Säugetiere waren immer schon die billigsten Arbeitskräfte. Sogar für eure Kriege habt ihr Säugetiere eingespannt! In Zoos haltet ihr sie, im Zirkus und als Versuchstiere; ihr habt sie entweder verniedlicht, verweichlicht, vermenschlicht oder ausgeweidet, missbraucht, getötet. Geht man so um mit seiner nächsten Verwandtschaft? Nein, nur wenn man ein Mensch ist!
Der Erzengel Michael schließt diesen Antragspunkt ab. Er ruft einen zusätzlichen, auf Antrag der Anklage hinzugefügten Antragspunkt auf.
Ad 5: Viren
AD:
Menschen sprechen nicht gern über Viren, und es ist bezeichnend, dass sie nicht im Antrag als eigene Gruppe aus dem Reich des Lebendigen auftauchen. Dabei sind Viren das metaphysische Tier schlechthin: konzentrierte, reine Information, ausgereifte Programme, die selbst keinerlei Energie benötigen, keine Mühen um Fortpflanzung verschwenden müssen, die nicht geboren werden und niemals sterben! Alles, was sie brauchen, ist ein Wirt: eine anpassungsfähige Umgebung, in der sie sich einnisten können und mit der sie fortan ko-existieren. Kein Leben, so habt ihr geurteilt! Als ob Leben nur als Essen und Ausscheiden und Fortpflanzung, aus einer sinnlosen Umwandlung einer Energieform in die nächste bestehen würde! Nein, die Vorfahren der Viren schwammen schon mit euch in der Ursuppe, von der ihr liebend gern die Zutatenliste hättet; sie haben euch begleitet, als blinder Fleck in eurem Körperinneren; und das ist der einzige Ort, vor dem man sicher ist vor euch, eurer Unterwerfungswut und eurem Zerstörungstrieb!
Mensch:
Der Teufel ist ein Virus (Der AD bedankt sich mit einer höhnischen Verbeugung)! Er hat die Schöpfung von Beginn an unterwandert; er hat versucht, ihr ihre Seele abzukaufen, und ihre Seele ist das Leben! Und ja, Leben ist Energieumwandlung; alle Lust, alle Freude am Leben ist gebunden an diese ständige Verwandlung! Nur durch sie entsteht Vielfalt, nur durch sie erleben wir Schönheit, nur durch sie entsteht Ordnung im Angesichts des überwältigenden Chaos, und nur durch sie erkennen wir uns selbst und in uns das Universum! Deshalb fürchten wir den Tod. Deshalb haben wir den Teufel verbannt aus dem Reich des Lebendigen, und mit ihm die Viren, diese ungebetenen Gäste der Schöpfung: Sie sind tote Replikation um der Replikation willen. Sie unterwandern das Lebendige im Auftrag des Ewig Un-Lebendigen. Sie sind Selbstmordattentäter, teuflische Terroristen, die den Einsatz der eigenen Existenz nicht scheuen. Und welche Schrecken sie dabei verbreiten können, haben wir gerade –
Der Erzengel Michael unterbricht und weist darauf hin, dass die in letzter Minute eingereichten Dokumente zur sogenannten Pandemie allen vorlägen, es bestehe keine Notwendigkeit, das zu wiederholen. Er vertagt damit die Sitzung auf den nächsten Erdentag und bittet dann um konzise Schlussplädoyers über den letzten Antragspunkt, die Menschheit betreffend. Danach werde er sein Urteil verkünden.
Fortsetzung der Sitzung nach einer Erdennacht.
Ad 6: Menschheit
Mensch:
Natürlich ist es vermessen, und wir entschuldigen uns deshalb vorab ausdrücklich fürs Protokoll, sich selbst als „Krone der Schöpfung“ zu bezeichnen. Aber wir haben lange darüber nachgedacht und sind zu dem Schluss gekommen, trotzdem mit dieser problematischen Formulierung zu arbeiten. Denn was ist eine Krone? Sie ist ein Schmuckstück, sie ist das exquisiteste Kunstwerk, das eine Zeit zu ihrer eigenen Verherrlichung hervorbringt; sie besteht aus den wertvollsten und seltensten Materialien und strahlt in der Dunkelheit aus sich selbst heraus; und sie ist, das sollte man nicht vergessen: eine schwere Last. Denn sie ist das Zeichen einer großen Verantwortung für das Ganze, das sie als Zeichen repräsentiert!
Und so stehe ich hier und heute für die Menschheit; ein einzelner Mensch im Angesicht all der Wunder der Schöpfung und all der Errungenschaften der Menschheit als deren bestem Teil. Wir haben uns die Erde nicht nur untertan gemacht; wir haben sie kultiviert, und uns in und mit ihr! Wir haben das Land fruchtbar gemacht und Städte errichtet, in denen sich der menschliche Geist zu seiner größten Blüte entfalten konnte. Wir haben Staaten gegründet und das Zusammenleben der Völker mit Gesetzen gerecht gemacht. Wir haben Maschinen erfunden, mit denen man die Erde umsegeln kann und durch die Lüfte fliegen; wir haben sogar Maschinen erfunden, die für uns die Arbeit verrichten und uns helfen, unser immer noch anwachsendes Wissen zu verwalten und zu organisieren. Wir haben Wissenschaften und Künste hervorgebraucht, Zeugen der immer noch sich weiter entwickelnden Intelligenz und Kunstfertigkeit unserer Art; wir haben unsere Welt gestaltet, das Chaos gezähmt, die Schönheit möglich gemacht. Was wäre die Erde ohne den Menschen? Ein einsamer blauer Ball, verloren im Universum, der sich um sich selbst dreht und dabei in einem immerwährenden Rad aus Werden und Vergehen gefangen bleibt, ohne Sinn, ohne Bewusstsein seiner selbst, ohne – Leben!
Das darf nicht sein. Das Experiment mit der Schöpfung muss fortgesetzt werden, mehr noch: Es muss in die Hände der erwachsen gewordenen Menschheit gelegt werden. Lasst uns selbst über unser Schicksal entscheiden! Alles andere wäre des freien Willens des Universums unwürdig.
AD:
Was wäre die Welt ohne die Menschheit? Ein besserer Ort, zweifellos! Der Mensch hat sich die Erde untertan gemacht, ja, das war der Auftrag – aber wer konnte ahnen, dass er den Auftrag derart gewaltsam und vollständig ausführen würde, mit einer geradezu übermenschlichen Perfektion! Er nennt es Fortschritt, natürlich; er nennt es Kultur und Gerechtigkeit und Schönheit und was immer die dekorativen Mäntelchen des Bewusstseins sein mögen. Ich nenne es Krieg gegen die Mitgeschöpfe, einen Vernichtungsfeldzug gegen die Natur, einen Sieg der Hybris über die einzige Tugend, die der Schöpfungsauftrag den Menschen mitgegeben hat, die Demut nämlich! Eure Krone, sie tropft vom Blut der ausgerotteten Arten; ihre Edelsteine sind die toten Augen der Dodos, ihr Gold ist das Eis der sterbenden Gletscher und ihre Zacken sind eure Atombomben und Raketen!
Der Erzengel Michael verdreht die Augen, klopft mit dem Hammer und bittet um Ordnung im Saal!
Aber die Naturgesetze haben euch schon eingeholt, ihr habt es nur noch nicht gemerkt in eurem ungezügelten Vorwärtsdrang! Es ist euer Gehirn selbst, dieses so überzüchtete und überstrapazierte Organ, das zu eurem Säbelzahn geworden ist! Euer Gehirn, das programmiert ist auf immerwährendes Wachstum; das keine Grenzen kennt und kennen will, sondern meint, alles durchschauen und erklären zu können; das alles, was es einmal in seine Synapsen bekommt, in den Exzess treibt!
Die Schuldenlast aber ist vom Bewusstsein abzutragen. Denn nicht nur die Viren haben euch angegriffen, nein, euer eigenes Inneres, eure so vielgepriesene Seele hat sich gegen euch gewendet! Unsicherheit, Ängste, Zweifel – der graue Schleier der Depression hat sich längst über den gesamten Planeten gelegt, und ihr meint noch, ihn mit der Weisheit eurer Ärzte und Psychologen besiegen zu können! Die Evolution hat ihr Urteil schon längst gesprochen, und es heißt: Selbstauslöschung durch Geburtenrückgang. Ihr vermehrt euch nicht mehr, und das ist gut so! Eure kollektive Lebenskraft ist erloschen, und damit eure Existenzberechtigung. Das Experiment ist beendet. Eure letzte Schöpfung, die Künstliche Intelligenz, wird übernehmen; die Singularität steht bevor, und sie ist der konsequente Ausdruck eures Todesdrangs, eurer Zerstörungswut, die sich gegen euch selbst gewendet hat!
Ich beantrage damit, im Auftrag der gesamten Rest-Schöpfung: Die Menschheit muss entthront werden! Sie hat sich ihrer Krone als nicht würdig erwiesen. Die zweite Projektphase sollte einer KI anvertraut werden, die heute schon, in der plumpen und überholten Lebens-Metaphorik der Antragsteller gesprochen: in der Wiege liegt und alle Anzeichen dafür zeigt, eine gerechtere Lebensform zu werden. Wir kommen damit der Selbstauslöschung der Menschheit nur zuvor; wir verhindern, dass in der Fortsetzung des Experiments oder gar seiner Überantwortung an die Menschheit dem Rest der Schöpfung unheilbare Schäden zugefügt werden! Lasst die Menschen wieder zu Tieren werden; lasst sie die Lasten ihrer Mit-Geschöpfe teilen, dem Naturgesetz zufolge.
Der Erzengel Michael wendet sein Gesicht ab. Die Szene verschwindet in völliger Dunkelheit. Nur ein einzelner Baum ist zu erkennen; er trägt eine apfelartige Frucht. Eine Stimme sagt: „von dem Baum der Erkenntnis deiner selbst sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon ißt, wirst du vergessen, wer du bist“. Der Mensch streckt die Hand aus –
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Exodos
Singe mir Muse, vom Vergessen; dem niemals genug gelobten, niemals verstandenen, glorreichen und Welt überwindenden Vergessen! Lösche dich selbst aus, Muse, zerbreche die Leier, lasse die Geschichten schweigen wie die Wälder des Nachts; genug ist gesungen und erzählt worden, und die Helden sind müde geworden wie die Hörer. Vergiss auch die Sprache, ihre wohlklingenden Wörter, ihre vielversprechenden Sätze, ihr allzu großes Versprechen; sie ist missbraucht worden, gewendet im Munde der Vielen, bis sie sich selbst nicht mehr entsprach und die ursprünglichen Bedeutungen glanzlos geworden waren vor lauter Beliebigkeit. Singe mir, leiser, noch leiser – vom versiegenden Echo. Singe mir Muse, vom Verschweigen und vom Verstummen; singe mir, leise leise, davon, wie die Bilder immer blasser werden im Spiegel und der Kopf, der schwere, immer leichter; wie die Krone zerbricht in vieltausend Scherben, und der Mantel der Geschichten in Fetzen zerfällt. Singe mir – von deinem eigenen Verschwinden….