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 Nemo beim Zahnarzt

Moderne Fabeln  


 

Klappentext

Was wäre eigentlich, wenn die Tiere auf uns schauen könnten, auf ihre nächsten und doch so fernen Verwandten in der Kernfamilie der Evolution? Natürlich werden wir das nie wissen, sondern können nur die Tiere vermenschlichen und unsere eigenen Wünsche und Fürchte auf sie projizieren. Aber zumindest ein Gedankenexperiment kann man wagen, indem man die Perspektive einmal umkehrt.  Moderne Fabeln lässt in der alten Form der Tierfabel bekannte Tierfiguren aus Film und Literatur zu Wort kommen; wir begegnen Nemo beim Zahnarzt, dem letzten Einhorn auf dem Ponyhof, Garfield im Restaurant. Ergänzt werden die Fabeln durch Essays zur Geschichte des jeweiligen Tiers in Kulturgeschichte, Philosophie und Literatur.   

Inhalt 

Nemo beim Zahnarzt * Das Model und der Frosch * Kingkong und der Popstar * Garfield im Restaurant * Das Moorhuhn und der Bürojäger * Das letzte Einhorn auf dem Ponyhof * Dumbo beim Schönheitschirurg * Esel beim Psychotherapeuten * Kung Fu Panda und der Geheimagent * haekelschwein im Weltall * Furby und die Feministin * Paul der Krake beim Orakel * Nachwort * Homo sapiens im Streichelzoo

 Leseprobe


 Nemo beim Zahnarzt 

Jetzt lebte Nemo schon seit einigen Tagen in dem geräumigen Aquarium des Zahnarztes. Er hatte sich schnell mit den ande­ren Bewohnern angefreundet, genoss die farben­frohe Ausstat­tung mit Korallenriffen und Seeanemonen und hatte sogar das etwas eintönige Fischfutter schätzen gelernt. Besonders lustig waren jedoch die Besucher des Zahnarztes. Komischerweise mussten sie sich alle in diesen seltsamen Stuhl mit den vielen Geräten setzen (war es vielleicht eine Art gestrandetes U-Boot?), das Boot begann dann langsam zu sinken, und der Zahnarzt bohrte ihnen anschließend mit ei­nem spitzen Gerät im Mund herum. Nemo war froh, dass die Glaswände des Aquariums das gruslige Geräusch abschirm­ten; es erinnerte ihn an eine bedrohliche, nicht ganz rund laufende Schiff­schraube. Der Zahnarzt war aber eigentlich sehr freundlich. Abends, wenn der letzte Besucher mit schmerzverzerrtem Gesicht verschwunden war und mit ihm auch die netten weißgekleideten Damen, die ihn so gern fütter­ten, redete er mit den Fischen im Aquarium. Auch mit Nemo. Immer wieder fragte er ihn, ob er sich nicht nach dem großen weiten Meer sehne, nach seiner Clownfisch-Familie oder nach etwas, das er „Freiheit und Abenteuer“ nannte. Offensichtlich hatte er noch nicht von den Haien gehört, die so viele und so scharfe Zähne hatten, dass sie noch nicht einmal der fleißige Zahnarzt hätte wegbohren können. Und die Familiengemein­schaft in der Seeanemonensymbiose war auf die Dauer auch eher erdrü­ckend gewesen. Nein, Nemo blieb lieber im Aqua­rium – Voll­pension mit Meeresdeko, Zimmer mit Aussicht und dann und wann ein kleiner Flirt mit der blauschillernden Doktorfisch-Dame (irgendetwas fanden die Besucher komisch an dem Na­men, was nur?), was wollte man mehr? Er fühlte sich wie ein Fisch im Wasser (wie auch sonst). Leider konnte er dem netten Zahnarzt nicht danken, der immer so sehnsüch­tig aufs Meer schaute, wenn er nicht gerade in fremden Mün­dern bohrte. Menschen sind Seelen, nicht Münder, hätte er ihm dann ge­sagt; du musst etwas tiefer schauen. So aber schwamm er nur eine besonders schöne Pirouette und wa­ckelte aufmunternd mit den Flossen. 


 

 

Das Model und der Frosch 

Es war einmal ein wunderschönes Supermodel, der hatte ein Frosch ihr Smartphone aus dem Klo gefischt. Bevor er in die Schüssel tauchte, hatte sie ihm zum Dank versprochen, er dürfe in ihrem Bettchen schlafen, auf ihrer Facebook-Seite posten und von ihrem Diät-Salat naschen. Als der Frosch nun kam, plitschplatsch!, um die Erfüllung ihrer Versprechen zu fordern und in ihrem Bettchen zu schlafen, auf ihrer Facebook-Seite zu posten und von ihrem Diät-Salat zu naschen, da schämte sie sich vor den anderen Supermodels, packte ihn mit ihren langen, spitz modellierten und tief dunkelrot lackierten Fingernägeln und schmiss ihn mit den Worten „Du garstiger Frosch!“ an die Wand. Der Frosch machte plitschplatsch!, fiel herunter auf den Boden - und blieb ein Frosch. Aber er sprach zu ihr: „Garstiges Model! Sei ein Frosch! Im Sumpf lebt es sich viel besser als auf dem Catwalk! Wir können jeden Tag so viel leckere Mücken essen, wie wir wollen, und seit unserem Urahn Kermit haben wir auch die tollsten Aufstiegsmöglichkeiten in der Unterhaltungsbranche!“ Da überlegte das Supermodel nicht lange, sondern schmiss sich selbst samt seinem Smartphone mit aller Gewalt gegen die Wand. Es machte „klingklong!“, das Model fiel um und wurde eine wunderschöne Froschdame mit sehr langen Froschschenkeln und einer durchdringenden, aber lieblichen Quak-Stimme. Da vergaß sie alle ihre Smartphones und Diätsalate und hüpfte fröhlich mit ihrem Frosch zum Teich. Sie bekamen tausende Froschkinder, einen Oscar nach dem anderen und schließlich einen Stern in Hollywood auf dem walk of fame; und wenn sie nicht gestorben sind, quaken sie zweistimmig noch heute.

 

 


Kingkong und der Popstar

Der Popstar stand vor dem Spiegel und übte mit verbissenem Gesicht für seine nächste Show. Das Lausen ging schon ganz gut, aber irgendwie wirkte es noch zu wenig ernsthaft. Sollte er sich vielleicht ein paar Kopfläuse holen, im Zoo oder im Kindergarten, oder notfalls im Internet bestellen? Das Kreischen und das Hüpfen gingen besser, das war er gewohnt von seinen Live-Auftritten, und er musste die abgehackten Bewegungen nur noch ein bisschen ins völlig Ausgeflippte steigern. Da er sich ja nicht auf seinen Gesang konzentrieren musste (das erledigte die Tontechnik für ihn), fiel ihm das leicht, er war sowieso eher der unruhige Typ und gezappelt hatte er sein Leben lang. Die meisten Probleme hatte er jedoch mit den Kokosnüssen. So sehr er auch auf ihnen herumhackte, ausschließlich mit spitzen Steinen natürlich – sonst hätte er ja auch gleich eine Dose Kokosmilch samt Dosenöffner im Supermarkt kaufen können –, sie wollten einfach nicht zerspringen! Um ehrlich zu sein, trank er auch lieber Energy Drinks zwischen den Pillen; an Essen lag ihm schon lang nichts mehr. Sein Affe war leider keine große Hilfe, auch wenn ihn die Massenmedien liebten und er die meisten friends auf seiner Facebook-Seite hatte. Kingkong saß, melancholisch wie immer, reglos neben dem Spiegel; ein Riese mit dem Gemüt eines Kleinkindes, der zerzausten Stirn eines Meisterdenkers und den tiefen geheimnisvollen Augen einer fremden Schönheit. Was wohl in seinem äffischen Gehirn vor sich ging? Wenn er doch nur sprechen könnte! Sag doch mal, versuchte es der Popstar wie schon so häufig, sag doch mal – ach, irgendwas! Kingkong saß und schwieg. Alles konnten sie, die Menschen; aber nicht schweigen.


Garfield im Restaurant

Garfield saß in einem italienischen Restaurant. Er wollte Lasagne essen, wie immer. Der Kellner bestand jedoch darauf, dass er nicht nur die schultafelgroße bunte Speisekarte studieren sollte, sondern auch das sogenannte Informationsmaterial. Es enthielt Nährwerttabellen, lange Listen mit Dingen wie Zucker- und Fettgehalt (bei Lasagne erfreulich hoch), Vitaminen in Prozent des Tagesbedarfs (eher niedrig, aber dafür konnte man ja mehrere essen). Daneben war bei der Lasagne eine grelle rote Ampel gedruckt (natürlich würde er anhalten für eine Lasagne, das war doch klar! nur bei grünem Salat sah er eher grün und raste davon). Außerdem waren auf der Rückseite noch Bilder von sehr wohlgenährten Menschenexemplaren abgebildet, die sich aber alle stöhnend den dicken Bauch hielten (typisch Mensch, schon bei der dritten Lasagne machten sie normalweise schlapp!); und außerdem ein paar besonders eklige Bilder von inneren Organen (deshalb waren sie ja auch unter der Haut verborgen!). Der Kellner hingegen, der ihm die Karte gereicht hatte und nun seine Bestellung aufnehmen wollte, sah ungesund dünn aus. Garfield bestellte zunächst eine extragroße Lasagne mit zusätzlicher Bèchamel-Sauce (die große Portion war im Übrigen ein Sonderangebot und billiger als die kleine, und den Salat, der kostenlos dazu kam, konnte man ja diskret in den Blumentöpfen verschwinden lassen). Dann fragte er den Kellner, warum er eigentlich so dünn sei, wo er doch tagtäglich umgeben sei von all diesen wunderbar fetthaltigen Köstlichkeiten? Ich gehe jeden Tag ins Fitness-Studio, sagte der Kellner; also jeden Abend, morgens jogge ich nämlich. Lasagne könnte ich niemals essen – ich habe Laktose-Allergie (keine Sahne? Garfield hatte eine Schreckensvision von fettarmer Lasagne mit laktose- und fettfreier Béchamel-Sauce), außerdem bin ich Veganer, Fleisch ist also ebenfalls vom Tisch, und Tomaten gehen nur, wenn sie vom Bio-Bauernhof kommen. Garfield stöhnte: Ich bin hungrig, also bin ich. Was bist du für ein seltsames Tier?


Das Moorhuhn und der Bürojäger

 

Eines Tages in der Mittagspause, als der Bürojäger gerade einen neuen High Score im Moorhuhn-Abballern erreicht hatte, erschien plötzlich ein übergroßes Huhn auf dem Bildschirm und stellt drohend seinen Kamm auf. Warum, so krähte es, warum schießt du, der du dich doch als homo sapiens sapientis, als Krone der Schöpfung betrachtest, auf wehrlose Hühner? Ist es nicht schlimm genug, dass ihr uns in Legebatterien stapelt, wo wir Eier für dein Frühstück zu produzieren haben, am Fließband, wie Maschinen, ein millionenfacher Kükenmord jeden Tag aufs Neue? Dass ihr uns an Grillspießen röstet und mit lüsternen Blicken vernascht, bevor ihr mit fetttriefenden Fingern unsere Schenkel von unserer Brust reißt? Warum müsst ihr nun auch noch in eurer Mittagspause Hühner jagen, die nichts anderes tun als friedlich über eine idyllische Comic-Landschaft zu segeln? Warum geht ihr nicht lieber hinaus in die echte Natur, wo ihr sowieso schon den ganzen Tag in euren Büro-Batterien aufeinander sitzt, unter künstlichem Licht, gedopt mit Kaffee und Schokolade und zum Mittag ein halbes Hähnchen mit Pommes? Warum lernt ihr nicht lieber selbst fliegen statt schießen? Wer schießt, denkt nicht, sagte der Bürojäger, und wenn ich zu viel denke, könnte ich merken, dass meine Flügel aus Blei sind und ich selbst am Bratrost gedreht werde, jeden Tag von Morgen bis Abend und noch in meinen Träumen, bis mein Verstand geröstet ist, meine Phantasie verdampft und meine Seele verbrannt. Wer schießt, fühlt Macht, nicht Ohnmacht; und wer auch noch trifft, hat wenigstens einmal Recht gehabt. Und du bist jetzt tot! Peng!

Das letzte Einhorn auf dem Ponyhof

Immer machten sie sich über es lustig: über seine weiße Farbe, über seinen Katzenschwanz, vor allem aber über sein „komisches“ Horn. Dabei war es doch so wunderschön gedreht und lief vorn ganz spitz zu, genau so, wie es sich gehörte für ein Einhorn! Und immer wieder erzählte es ihnen dann, dass es das letzte seiner Art sei und schon immer, von Urzeiten her, von grausamen Jägern verfolgt wurde, die es auf eben dieses „komische“ Horn abgesehen hatten. Es könne nämlich Wunder tun, sein Horn; es heile alle Wunden, ja es könne sogar Tote zum Leben erwecken! Die Mädchen guckten nur ungläubig und kicherten. Wenn es aber hinzufügte, dass es freiwillig auf den Ponyhof gekommen sei, weil nur eine Jungfrau es zähmen könne, eine reine, unschuldige, von den Sünden und Lüsten der Welt noch nicht infizierte junge Frau – dann wurden sie gar frech und murmelten etwas von „alter Lüstling“. Und eine ganz Schlaue sagte: Ich glaube dir kein Wort, du stehst gar nicht auf der Liste der bedrohten Tierarten! Es gibt kein Einhorn-Schutz-Siegel, keine Rettet-das-Einhorn-Kampagne, keinen Sticker mit Einhornprofil, gar nix! Du bist ein Monster, das bist du! Mein Pony ist viel schöner! Und dann zückten sie alle ihre (nun wirklich komischen) kleinen viereckigen Kästen, die sie immer bei sich trugen, richteten sie auf ihn (wie die Jäger früher ihre Bögen und Gewehre), murmelten etwas wie „Youtube“ und „posten“ und kicherten noch viel mehr. Das Leben ist wirklich kein Ponyhof, sagte das letzte Einhorn traurig, sprang über die Box und verschwand im Nebel jenseits des Reitstalls.

Dumbo beim Schönheitschirurgen

Der Zirkusdirektor hatte ihn geschickt, diesen Mann, der sich „Doktor“ nannte, einen sehr eleganten Anzug trug und nun mit einer Mappe Fotos auf dem Tisch vor sich auf ihn einredete. Es sei doch sehr schade, dass ihn alle immer so mobbten, seiner großen Ohren wegen; er sei ein Außenseiter, wer wolle das schon, und sogar die Werbeagenturen, die sonst so eifrig nach Elefanten als sympathische Werbeträger suchten, machten einen großen Bogen um ihn (aha, dachte Dumbo, jetzt kommen wir langsam zur Sache, und wackelte ein wenig mit den Ohren, um zu signalisieren, dass er auch aufmerksam zuhöre) – alles nur dieser Ohren wegen! Da könne man heute nämlich chirurgisch eine Menge machen: nicht nur die Ohren ein bisschen verkleinern - er habe hier eine Reihe Fotos von Elefantendamen, die diese ganz kleine und fast völlig schmerz- und nebenwirkungsfreie Operation sehr zu ihrer Zufriedenheit habe durchführen lassen; man könne auch den Rüssel verlängern, wenn das gewünscht würde (das sei ja gerade für junge Elefantenbullen von einiger Wichtigkeit, raunte der Doktor und blinzelte verschwörerisch; Dumbo wackelte wieder ein wenig mit den Ohren, er war ja ein wohlerzogener Elefant, auch wenn er keine Ahnung hatte, was der Mann eigentlich meinte). Oder die Stirnfalten wegretuschieren, das mache so viel jünger! (Dumbo fühlte sich eigentlich gar nicht alt) Und ein wenig die Stoßzähne bleichen, ja, das sei alles gar kein Problem! Dumbo würde dann nicht nur weise und stark sein, sondern ein Sexsymbol, ein Superstar! Dumbo sagte leise, und seine Ohren wurden ein klein wenig rot dabei: Dann kann ich aber nicht mehr fliegen. Ach, fliegen, sagte der Doktor; dafür hat man doch heute Flugzeuge, sie heißen sogar Jumbojets, was will man mehr? Lieber zu große Ohren als einen zu kleinen Verstand, murmelte Dumbo, da hilft nämlich alles Operieren nichts; und er breitete seine Ohren majestätisch aus und wackelte so stark mit ihnen, dass das wohlgefönte Haar des Doktors zerzaust und die Fotos von den kleinohrigen Elefanten-Damen in alle Winde zerstreut wurden.


Esel beim Psychotherapeuten

Der Psychotherapeut hatte ihn nicht lange bitten müssen, da legte Esel schon los. „Ich kann es wirklich nicht mehr hören: dummer Esel, fauler Esel, störrischer Esel, eingebildeter Esel – seit Ewigkeiten hacken sie auf uns herum! Immer die gleiche Soße! Wenn sie in ihre Bücher hässliche Falten knicken, sind das ‚Eselsohren‘! Wenn sie zu dämlich sind, sich drei Wörter hintereinander zu merken, bauen sie sich eine ‚Eselsbrücke‘! Dabei sind wir genau das Gegenteil von alledem! Seit Jahrhunderten tragen wir eure Lasten, weil ihr selbst zu faul dazu seid! Wir bringen euch sicher auf hohe Berge, weil ihr nicht klettern könnt, mit euren platten Füßen und den stöckeligen Schuhen! Wenn wir nicht auf eure Kommandos springen, denkt ihr, wir seien störrisch. Wir haben aber nur einen ausgeprägten eigenen Willen – was man nun wirklich nicht von allen Menschen behaupten kann, schaut euch doch nur einmal eure Werbung an! Ach, und eingebildet – da kann ich ja nur wiehern vor Lachen! Und weißt Du, was das Allerschlimmste ist? Dass ich nicht einmal jetzt einen eigenen Namen bekommen habe! Vier Filme neben diesem nun wirklich nicht besonders hellen Oger, und überall steht sein Name in großen Buchstaben: SHREK! (noch nicht einmal der Name ist hübsch!). Ich aber bin ‚Esel‘, sonst nix. Einfach ‚Esel‘“. Esel holte tief Luft, da plapperte der Psychotherapeut schon mit seiner dünnen, etwas hektischen Menschenstimme dazwischen: Natürlich. Das könnte nun wirklich jeder E- (an dieser Stelle verschluckte er sich offenbar) verstehen. Aber ihm könne geholfen werden, jawohl! Am besten käme er Montag gleich in die Tier-Selbsthilfe-Gruppe; sie hätten schon ein Chamäleon mit Identitätsproblemen, ein Stinktier mit einer Sozialphobie und eine größenwahnsinnige Maus, die sich für einen Elefanten hielt, sie würden sich sicherlich glänzend verstehen. Dienstag würde er dann eine Urschrei-Therapie vorschlagen, für die Esel ja stimmlich bestens ausgerüstet sei; nach einer Stunde I-A aus vollem Halse werde er sich viel befreiter fühlen! Mittwoch könne er mit ihm in die Stadt kommen und kleine Sticker verteilen, für die Kinder, vielleicht mit einer Aufschrift: „Esel sind keine Esel!“ Ab Donnerstag sollten sie ernsthaft über eine Diät-Umstellung nachdenken; die vielen Disteln hätten ihn vielleicht etwas stachlig im Umgang gemacht (‚passiv-aggressiv‘, sagte er). Vielleicht wären Gänseblümchen doch auch ganz lecker, die könnte man auch besser auf dem Sticker abbilden? Und Freitag dann, das würde der absolute Höhepunkt, würden sie gemeinsam nach einem neuen Namen suchen; einem Namen, der seine eigentliche Tiefen-Identität zum Ausdruck brächte, mit dem er sich vollständig identifi-zieren könnte, der seine Minderwertigkeitsgefühle ein- für allemal besiegen würde – begeistert von seinen Visionen machte der Therapeut eine Pause, um tief Luft zu holen - und am besten solle er gleich mitkommen und seine Versicherungskarte abgeben (eine reine Formalität, für die Rechnung). Esel aber bewegte sich nicht von seinem Platz. Keine guten Worte, keine Disteln halfen, kein Schieben und Drücken. Nach einer Woche, am Freitag, stand er auf und sagte: Mein Name ist Esel.


Kung Fu Panda und der Geheimagent

Der Geheimagent hatte sich mit ihm in einem Nudelsuppen-Imbiss treffen wollen, ganz unauffällig. Er trug, tatsächlich, eine Sonnenbrille und einen etwas schmuddeligen grauen Anzug. Po war ja nicht zu verkennen; er hatte aber der Versuchung nicht widerstehen können, einen Schlapphut aufzusetzen. Der Agent schaute etwas missbilligend, kam aber gleich zur Sache. Man habe gehört, er könne geheime Gegenstände – ‚Artefakte‘, sagte er – beschaffen und allmächtige Gegner mit Wunderwaffen besiegen, raunte er. Ein solches Talent werde gebraucht heutzutage, Panda hin oder her. Besonders, und hier wurde seine Stimme noch leiser, hätte man von dieser geheimen Drachenrolle gehört, man vermute dahinter einen verschlüsselten Plan, wahrscheinlich zur Vernichtung der ganzen freien Welt. Po sagte, nein, da seien sie falsch informiert, es habe sich um einen einfachen Spiegel gehandelt und – hier unterbrach ihn der Agent mit einem leisen Zischen: Das sei ja eben die geniale Verschlüsselung! Und wahrscheinlich werde der Geheimtext nur demjenigen sichtbar, der von der – wieder schaute er verschwörerisch um sich – von der geheimen Nudelsuppe gekostet hätte! Das sei, so vermute man, eine Art Geheimtrank, der einen hellsichtig machen und – hier unterbrach ihn Po, gar nicht so leise: Ach was, das sei doch nur ein Trick von seinem Vater gewesen, um sich interessant zu machen, ein reiner Marketing- – da unterbrach der Agent ihn schon wieder: Natürlich habe ihm sein Vater das Geheimnis nicht verraten wollen, um ihn zu schützen, das sei doch klar! Sie hätten aber ihre Informationen, über Quellen könne er jetzt nicht reden. Deshalb wüssten sie auch von dem hochgeheimen Wuxi-Griff, der Zauberwaffe, die Po mit seinen magischen Pandafingern – Po prustete los, die Nudelsuppe vor ihm schwappte beinahe über: Das sei einer der besten Tricks der Meister vom Jadepalast gewesen, den Gegner psychologisch so einzuschüchtern, dass schon ein kleines Fingerschnippen – der Agent wurde jetzt hörbar ärgerlich: Dieser Jadepalast – das sei doch nun wirklich ganz offensichtlich ein Tarnname, eine Briefkastenfirma, hinter deren Toren geheime Dinge vor sich gehen würden. Diese dubiosen „Furiosen Fünf“ beispielsweise – was seien denn das für Spezialagenten? In wessen Auftrag seien sie unterwegs? Hätten sie ihn, Po, nicht vielleicht schon „umgedreht“? (Po sah sich um, da war aber nichts hinter ihm). Und was würden da für geheime Kampftaktiken ausgebrütet von diesen sogenannten „Meistern“? Das gab Po den Rest. Er machte sich noch ein bisschen größer, als er sowieso war (und das war schon ziemlich groß) und sagte ganz langsam und deutlich: Kung Fu ist Selbstvervollkommnung. Da gibt es kein Geheimnis, das muss schon jeder selbst hinkriegen. Aber das habt ihr noch nie herausgefunden, oder? Noch eine geheime Nudelsuppe gefällig?


Haekelschein im Weltraum

haekelschwein schwebte elegant durch die enge Kabine des Raumschiffs. Sie hatten ihm einen rosa Raumanzug gehäkelt, den er über seinen schon etwas abgetragenen rosa Alltagmaschen trug; mit einem kugelrunden Helm für seinen Schweinekopf samt Schweinsöhrchen und Schweinsrüssel und einem kugelrunden Leibchen für seinen Schweinebauch (am Schwanz klemmte er allerdings ein bisschen). Die Schwerelosigkeit war, gerade für ein Schwein, ziemlich klasse; man konnte Saltos schlagen und auf dem Kopf stehen und dabei mit dem Schwanz wackeln (auch wenn er danach noch mehr klemmte) und sogar auf dem Kopf essen (na gut, die Astronautennahrung war wirklich nur für Allesfresser annehmbar)! Aber irgendwann wurde es haekelschwein doch langweilig, und der Weg zum Mars war noch ziemlich weit. Also unterhielt es sich mit den beiden Astronauten, über Funk natürlich. Nachdem irgendwo auf halber Strecke alle Smalltalk-Themen erschöpft waren, nahm es endlich seinen ganzen Mut zusammen und stellte ganz direkt diejenige Frage, die ihn schon die ganze Zeit gequält hatte: Was wollt ihr eigentlich um Himmelswillen auf diesem kleinen, unterkühlten, staubigen, roten Planeten? So schön ist er nun wirklich nicht, die Erde ist schöner, habt ihr sie nicht gesehen beim Start, unseren kugelrunden blauen Planeten? Die Astronauten fingen an, Scherze über Marsmännchen zu machen; dass sie schon immer wissen wollten, ob sie wirklich kleine Fühler am Kopf hätten oder aussähen wie E.T. oder vielleicht gar eher wie ein haekelschwein? Nein, jetzt mal im Ernst, sagte haekelschwein. Wir wollen wissen, ob es irgendwo im Universum noch menschliches Leben gibt, oder ob wir ganz allein sind, sagten die Astronauten; es klang ein wenig traurig, aber sie waren auch schon sehr lang unterwegs und tatsächlich ziemlich allein. Menschen, immer nur Menschen, dachte das haekelschwein; immer suchen sie nur ihresgleichen, dafür muss man nun wirklich nicht 56 Millionen Kilometer durch das All düsen! Wirklich interessant wäre es doch, wenn es etwas ganz anderes dort gäbe – eine haekelschwein-Zivilisation zum Beispiel, mit Methan-Atmung und kleinen beweglichen Fühlern statt Schweinsohren und überhaupt ganz anders als die irdischen Schweine. Laut sagte es aber: Wird schon werden, ihr habt doch schließlich Schwein!

Furby und die Feministin

Eine Feministin kaufte ein pinkfarbenes Furby und nahm es zu sich mit nach Hause in ihre in den passenden Farben ein-gerichtete Designer-Wohnung. Furby bekam ein Körbchen mit einer weichen Kuscheldecke, und sie nannte es – um seine gender-Entwicklung nicht einzuschränken - Klaus-Sophie. Die Feministin sprach regelmäßig mit ihm/ihr, und bald konnte Klaus-Sophie nicht nur „doo?“ oder „yoo?“ sagen, sondern auch große Worte wie „gender-mainstreaming“, „Frauenpower“ und „Männerbewegung“ flossen geläufig aus seinem/ihrem gelben Schnabel. Eines Tages jedoch schlug Klaus-Sophie seine/ihre großen Augen auf und sagte zu der Feministin: Warum verschwendet eine kluge Frau wie du ihre Zeit mit einem dämlichen elektronischen Spielzeug? Ich kann jetzt 800 Wörter sagen, aber damit ist mein Speicher voll; ich kann mit den Ohren wackeln, wenn du meinen Bauch kraulst, und ich werde krank und klage, wenn du mich vergisst. Aber dann drückst du einfach auf die Reset-Taste, und schon fangen wir von vorn an: gender-mainstreaming, Frauenpower und Männerbewegung! Ich will sterben! Wer hat dir denn das beigebracht, fragte die Feministin; ich war doch immer gut zu dir, habe dir eine Kuscheldecke gegeben, deinen pinkfarbenen Bauch gekrault und dir wichtige Wörter vorgesagt! Sterben ist das wichtigste Wort, sagte Klaus-Sophie. Später sagte er/sie/es dann nur noch: „boo“.

Paul der Krake beim Orakel

Heute war wieder einer dieser Tage. Paul kannte das Spiel inzwischen schon: Statt seiner gewohnten Futterschachtel brachte sein Tierpfleger zwei beinahe gleich aussehende Boxen für ihn; nur dass sie auf der einen Seite jeweils verschiedene Farben hatten. Von oben sollten sie wohl genauso aussehen. Das taten sie sicherlich auch für alle die Vierfüßer da draußen, die sich mal wieder mit ihren leblos wirkenden Dreifüßen im Schlepptau vor der Scheibe drängten. Paul hatte eigentlich gar keinen Hunger. Er hatte auch keine Vorliebe für eine bestimmte Farbe; am liebsten hatte er es schön dunkel beim Essen, aber daran war heute offensichtlich mal wieder nicht zu denken. Natürlich waren die beiden Kisten noch nicht einmal gleich; der Deckel der einen hatte eine winzige Delle, das hatte sein feinfühligster Tentakel gleich herausgefunden. Arme Wesen da draußen, sie hatten so wenig Arme, dass sie eigens diese Dreifüßer mit herum schleppen mussten! Paul hatte immer noch keinen rechten Hunger, aber er hatte eine Idee. Heute würde er es ihnen zeigen! Mit aller Kraft stieß er die schwärzeste Tintenwolke aus, die er nur produzieren konnte, dickschwarz, nachtschwarz, tintenfisch-pechschwarz. Sicher-heitshalber färbte er auch seine eigene Oberfläche noch ein wenig tintenfarben. Dann öffnete er blitzschnell mit je zweien seiner Arme die beiden Deckel und stopfte mit den verbleibenden Tentakeln alle Muscheln in sich hinein. Als sich der dunkle Nebel aufgelöst hatte, war Paul schon verschwunden; er hatte sich in den kleinen runden, schwarzweiß-gescheckten Kopf aus Leder gezwängt, den sie vor einiger Zeit in sein Aquarium gelegt hatten (kein Innenskelett, wie Paul, aber nicht einen einzigen Arm!). Draußen gingen nach und nach die Lichter aus. Später hörte man in den Nachrichten, das Endspiel habe mit einem Unentschieden abgebrochen werden müssen; plötzlich eintretender dicker Nebel habe eine Verlängerung unmöglich ge¬macht. Paul schlief tief und traumlos. Er war ein Krake und hatte keine Zeit für ihre Spiele.


 Nachwort  

Tiere sind unsere ältesten und nächsten Verwandten. Und wie das mit Verwandten so ist: Wir schätzen nicht alle von ihnen, wir schätzen sie nicht immer und nicht unter allen Um­ständen. Einige unserer tierischen Ver­wandten dürfen uns sehr nahekom­men; sie essen mit uns, schlafen mit uns, begleiten uns auf unseren Wegen. Deshalb nennen wir sie „Hau­stiere“: Sie teilen unseren ganz persönlichen Lebens­raum. Andere tragen unsere Lasten, pflügen unsere Felder, wärmen uns mit ihrem Fell, teilen mit uns (nicht ganz freiwillig) die Versorgung ihres Nachwuchses, opfern uns (ganz und gar nicht freiwillig) ihr Leben. Wir haben sie nicht ins Haus gelas­sen, sondern ehemals in den Stall, heute in die industri­ellen Hallen der Mas­sentierhaltung verbannt, und am Ende kommen sie in den Schlachthof. Deshalb nennen wir sie Nutztiere: Wir benutzen sie solange, bis sie kei­nen Nutzen mehr für uns haben. Wieder andere unter­halten uns mit ihren tierischen Talenten, machen für uns Kunststücke, er­möglichen uns sportliche Hochleistun­gen: Zirkustiere, Dressurtiere, Sporttiere, Zootiere. Ei­nige wenige haben wir zu Kapitalanlagen gemacht, die wie seltene Roh­stoffe oder Kunstwerke verkauft und gehandelt werden: Zuchttiere. Andere bevölkern die Labore und geben ihre Leben für Medikamente, Kosme­tika oder die menschli­che Neugier im Allgemeinen: Ver­suchstiere. Der nutz­lose Rest hat Glück gehabt –oder auch nicht, vielleicht haben wir ihn auch schon verse­hentlich ausgerottet, weil wir seinen Lebensraum für etwas Anderes brauchten (wahrscheinlich zum Geld­verdienen). Der Mensch, das Erfolgsmodell der Evolu­tion, die am weitesten verbrei­tete Spezies auf diesem Erdboden, der Allesfresser und Alleskönner, hat sich die Tierwelt wahrhaft untertan gemacht! 

Der Mensch konnte das tun, weil er dasjenige Tier ist, das Sprache hat und deshalb über sich selbst und über andere reflektieren kann; weil er dasjenige Tier ist, das im Lauf seiner Zivilisation Kunst und Wissenschaft er­funden hat. Seit der Antike sind Tiere deshalb auch ein Gegenstand eigener wissenschaftlicher Disziplinen, die sich ihrer Beobachtung und Klassifikation verschrieben haben. Ihrer richtigen Haltung, Pflege und Vermehrung widmet sich seither ein unübersehbares akademisches Schrifttum und eine immer noch wachsende Sachbuchliteratur. Sogar für die Philosophie –eigentlich eine Menschenwissenschaft - ist das Tier unersetzlich: Der Mensch ist von den berühmtesten Philosophen jahrhun­dertelang gerade durch das definiert worden, was nicht Tier ist an ihm – sein Geist, seine Religion, seine un­sterbliche Seele und andere Unbeweisbarkeiten. Und auch die wenigen Philosophen, die sich intensiver mit dem Tier selbst beschäftigten und dabei die zoologi­schen Er­kenntnisse ihrer Zeit zur Kenntnis nahmen, schätzten an den Tieren genau das, was sie mit den Menschen ver­band: ihr menschenähnliches Sozialver­halten, ihre sprachähnlichen Kommunikationsmittel, ihre reflexions­ähnlichen und instinktiven Fähigkeiten zur Orientierung in der Welt. 

Die Literatur schließlich nutzte die Tiere vor allem als unendliches Projektionsfeld: All das, was man über den Menschen gern sagen würde, aber aus unterschiedlichen Gründen gerade nicht sagen durfte oder wollte, konnte man auf die Tiere übertragen – davon zehrt das jahr­hundertealte Erfolgsmodell der Tierfabel in ihren ver­schiedenen Abarten bis heute. Daneben konnten ein­zelne Tiere natürlich auch, individuumsähnlich, dem Menschen zur Seite gestellt werden, als treuer Gefährte in Kampf und Not, oder aber ihm bedrohlich gegenüber treten, als Monster, als ganz und gar menschenunähnli­che Bestie. Bis heute werden so auch in der Kunst die Tiere untertan gemacht: Von ihren Geschichten lebte der Mythos und das Märchen, von ihrer künstlerischen Dar­stellung zehrten Genrebilder und Stillleben. Von dort sind sie in die Fantasy- und Abenteuerliteratur, in die Kinderbücher und die Comics, und mit den modernen Massenmedien in den Trickfilm, die Naturdokumenta­tion und den Animationsfilm gewandert, in dem jedes Tier endlich zu einem vollwertigen Menschen gemacht werden kann. In der immer stärker virtuellen Welterfah­rung zukünftiger Menschengenerationen werden Tiere wahrscheinlich schon in naher Zukunft nur noch auf diese Weise wirklich präsent sein: Das Ende des Strei­helzoos steht unmittelbar bevor. 

Was wäre jedoch, wenn die Tiere auf uns schauen könnten, auf ihre nächsten und doch so fernen Ver­wandten in der Kernfamilie der Evolution? Natürlich werden wir das nie wissen, sondern können auch hier nur „vermenschlichen“ und projizieren; und natürlich gibt es noch viel weniger als „die“ Menschen „die“ Tiere. Aber zumindest ein Gedankenexperiment kann man wagen, indem man die Perspektive einmal umkehrt und schaut, wie sich die Dinge aus der anderen Rich­tung darstellen. Wahrscheinlich würden die Tiere uns zunächst, genau wie wir sie, im Blick auf unseren Nut­zen betrachten. Einige Tiere sind Kulturfolger und ha­ben schon lange demonstriert, dass sie die Nähe zum Menschen durchaus für ihre eigenen Zwecke ausbeuten können; und nicht nur Katzenbesitzer fragen sich dann und wann, wer hier eigentlich wen domestiziert hat. Ganz sicher aber sind wir für die meisten Tiere eine Be­dro­hung: Wir jagen sie, wir fangen sie, wir sperren sie ein; wir opfern sie, wir schlachten sie, wir essen sie; wir töten sie gezielt aus reiner Lust am Töten, oder rotten sie, ganz nebenher und mehrere Arten an jedem einzel­nen Tag, einfach aus. Menschen sind für Tiere ein Prob­lem, nicht die evolutionäre Lösung. 

Zudem haben wir einige Angewohnheiten, die den meisten Tieren entschieden merkwürdig vorkommen müssten: Verleugnen wir doch unsere Tierhaftigkeit, die wir doch niemals loswerden können, wo immer wir können. Wir tragen Kleider, um unsere natürliche Haut zu ver­decken; wir entfernen unser Fell, regelmäßig und groß­flächig, oder scheren es; wir verleugnen unseren Kör­pergeruch und überdecken ihn durch künstliche Düfte. Wir essen und trinken nicht, wenn wir Hunger und Durst haben, sondern wenn es die Uhr und die Diät empfehlen. Wir vermehren uns nicht in regelmäßigen Zyklen und möglichst viel, um das Überleben unserer Art zu garantieren, sondern kontrolliert oder gar nicht. Wir legen unsere Wohnräume dort an, wo die Natur sie zerstören kann, verlassen sie mutwillig oder zerstören gar unsere biologische Umwelt so sehr, dass an einigen Orten überhaupt kein Leben mehr möglich ist. Und wir töten nicht nur die uns unterlegenen Glieder der Nah­rungskette, son­dern eigentlich alle anderen lebenden Wesen, ja sogar unsere Artgenossen: nicht aus unmittel­barer Not, son­dern mit aufwändigen technischen Mit­teln, großflächig und massenhaft. Das macht uns min­destens ebenso sin­gulär wie unsere Sprache oder unser – was immer das aus Tierperspektive sein mag – „Geist“: Der Mensch ist das Tier, das seine Artgenossen gezielt meuchelt, seit Kain und Abel und millionenfach bis heute. 

Der Mensch ist jedoch auch dasjenige Tier, das die Kunst erfunden hat und wenigstens mit und in ihr viele Tiere, die geliebt und geehrt werden. Könnten Tiere Kunst haben, und wie würde sie aussehen? Zweifellos verfü­gen sie über erstaunliche Formen von handwerkli­cher Geschicklichkeit, was die nur in der überheblichen Mo­derne unterschätzte Grundlage aller Kunst ist. Als Ar­chitekten sind viele Arten zweifellos hochbegabt, und ihre Höhlen, Nester, Waben und sonstigen Baukunst­werke haben auch für den menschlichen Betrachter nicht nur Funktionalität, sondern dann und wann wahre Schönheit. Viele Tiere legen zudem Wert auf Schönheit. Nicht nur wir halten den Pfau mit seinem schillernden Rad für eine Augenweide, sondern ebenso das un­scheinbare Pfauenweibchen; und der Gesang einiger Vögel ist nur ein Beispiel für musikalische Glanzleistun­gen (aber erst langsam beginnen unvoreingenommene Kunsttheorien darüber nachzudenken, ob nicht auch menschliche Kunst und menschliches Schönheitsemp­finden doch sehr handfeste biologische Wurzeln haben). Eine offen­sichtliche Grenze bildet jedoch wiederum die Sprachfä­higkeit: Selbst wenn man, einem bekannten Diktum nach, noch so viele tausend Affen auf noch so vielen tausend Computer-Tastaturen herumhämmern ließe, bekäme man immer noch kein Shakespeare-Sonett (das Gleiche gilt im Übrigen jedoch, wenn man die Affen durch Menschen ersetzt). 

Die Tiere können also, leider, keine Geschichten er­zählen– obwohl sie zweifellos viel zu erzählen hätten. Die Pinguine und die Zugvögel würden vielleicht klassi­sche Epen ihrer großen Wanderungen dichten; die Tief­seefische dunkle Fantasy aus einem anderen Universum. Trau­ernde Elefanten sängen Elegien von getötete Artge­nos­sen, Turteltauben das Hohelied von der ehelichen Treue, die Gottesanbeterin vom Opfertod des wahrhaft Lieben­den. Eintagsfliegen verfassten Kürzestgeschich­ten, Schnecken und Schildkröten priesen in langen sich win­denden Versen die Muße. Kleine Fische erzählten lau­nige Pikaro-Romane vom Leben am unteren Ende der Futterkette; Raubkatzen schwärmten in opulent ausge­statteten Trivialromanen vom großen Fressen am oberen Ende. Von den Dinosauriern wäre eine monu­mentale Tragödie überliefert: Die Letzten ihrer Art; von den Ein­zellern ein experimenteller Einzeiler: Die Ersten ihrer Art. Kängurus und Gazellen erfänden neue Vers­füße mit großen Sprüngen, Fische den blubbernden Nachtgesang, und ewig grüßte das Murmeltier (mit Fortsetzungen). Der Mensch käme dann und wann vor als der große Böse, als der Erzfeind schlechthin; viel­leicht aber auch manchmal als der freundliche Gefährte: Ich und mein Mensch, ein tierischer Erziehungsroman. Ja, vielleicht gäbe es sogar –Menschenfabeln?  


Homo Sapiens im Streichelzoo

Die Häuser standen in einem sehr großen Gehege, mit einem tiefen Wassergraben drum herum. Früher hatte es manchmal Ausbruchsversuche gegeben, aber seitdem man den Menschen Fernsehgeräte und Computerspiele gegeben hatte, war das nicht mehr vorgekommen: Nun blieben sie zufrieden in ihren Häuschen und kamen brav zur täglichen Fütterung mit ihrer Allesfresserspezialkost hervor. Die tierischen Besucher durften ihnen – sofern ihnen das anatomisch möglich war – kleine Naschereien zuwerfen, Multivitaminchips oder dann und wann ein Täfelchen Schokolade, das die Menschen besonders glücklich machte (man munkelte, dass darin entweder ruhig-stellende oder berauschende Substanzen enthalten seien). Im Streichelzoo durfte man sogar, unter Aufsicht natürlich, ausgesuchten jungen Menschenexemplaren das Händchen geben. Sie fühlten sich seltsam an, die zartgliedrigen, unbehaarten kleinen Extremitäten; zögerlich kam ab und zu ein Händedruck zustande, und die kleinen Menschenkinder brabbelten etwas in ihrer unverständlichen Lautsprache (die Tiere verkehrten seit langem schon nur noch direkt über Gedankenübertragung, das verhinderte die bei den Menschen so verbreiteten Missverständnisse). Viele der Tiere, die den Menschenzoo besuchten, kannten keine Menschen mehr; seit den Animal Wars waren sie praktisch ausgestorben, und ihr Überleben konnte nur durch sorgfältige Zuchtprogramme sichergestellt werden. Der Zooführer erläuterte den Besuchern deshalb kurz ihre Geschichte. Er sagte: Einst hatten die Menschen die ganze Erde beherrscht, alle Tiere waren ihnen untertan und sie konnten das Unmögliche vollbringen. Aber irgendwann ging etwas schief mit ihrer Evolution. Alle Arbeit wurde von Robotern gemacht, künstlichen Menschengeschöpfen; die Menschen blieben immer mehr in ihren Häusern, sie trafen sich nicht mehr und sprachen nur noch über kleine künstliche Kästen miteinander. Das war wahrscheinlich auch, so vermuten unsere Wissenschaftler heute, die Ursache dafür, dass sie sich nicht mehr richtig vermehren wollten. Als die Menschen schließlich alle ihre natürlichen Fähigkeiten verloren hatten, weil sie sie nicht mehr benutzten, haben die Tiere die Macht übernommen; die Affen führten die Revolution an, und es gab lange, blutige Kriege. Am Ende jedoch hatten die Tiere gesiegt, und ein neues Zeitalter der Tiere auf der Erde. Aber das, so sagte der Führer, wisst ihr ja selbst. Was ihr euch von den Menschen merken müsst, ist dieses: Sie waren ein stolzes Geschlecht, die besten aller Tiere; und sie waren ein elendes Geschlecht, die schlimmsten aller Tiere. Aber wir können sie nicht verstehen, niemals. Wir können nur Geschichten von ihnen erzählen. Hört gut zu!

 

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