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Spinnstube
Erzähltes

Flöhe, Tragik und ein wenig Kafka

(eine Parabel, mit Anlauf geschrieben)

I.  


Als ich neulich nachts darüber nachdachte, warum ich in meinem bisherigen Leben für das Wort „tragisch“ so wenig Verwendung hatte (eine untragische Existenz?), fiel mir im Morgengrauen ein, dass Franz Kafka (eine tragische Existenz?) die ultimative Parabel zu diesem Thema geschrieben hat. Es ist die Geschichte von dem Mann, der sein ganzes Leben vor einer Tür verbracht hat, wir wissen noch nicht einmal, ob es einen Warteraum gab (ich kenne mich gerade sehr gut aus mit Warteräumen, inneren und äußeren) und das große, weite Internet war auch noch nicht erfunden. Und als es ans Sterben geht, kommt der Türhüter, der ihm standhaft den Eintritt verweigert hatte, zu ihm und sagt, ungefähr, so meinte ich dämmernd zu wissen: Diese Tür war nur für dich bestimmt und ich gehe jetzt und schließe sie!  

Aber natürlich musste ich bei fortgeschrittener Tageszeit die Geschichte nochmal nachlesen, dafür gibt es ja das große weite Internet und Frühstückskaffee. Als erstes stellte ich fest, dass ich einen gar nicht so unwesentlichen Teil vergessen hatte. Den Titel. „Vor dem Gesetz“ heißt die Parabel nämlich, der arme Mann kommt vom Land und steht nicht sein Leben lang vor irgendeiner Tür, sondern er ist zum Gesetz gekommen in der gutgläubigen Annahme, zum Gesetz werde doch jeder vorgelassen, aber er hat keinen Einlass erhalten. Er hatte sogar Dinge mitgebracht, mit denen er den „tartarischen“ Türhüter, der einen dünnen schwarzen Bart hat und einen Pelz, in dem Flöhe wohnen (kein unwichtiges Detail, wir werden darauf zurückkommen!) bestechen kann. Oder von denen er leben kann, von irgendwas muss er doch gelebt haben die ganze Zeit! Aber darum geht es nicht in Parabeln, wo es um das reine Leben geht, nicht das schnöde Überleben. Man spricht manchmal miteinander, gelegentlich tut der Türhüter so, als sei er wirklich einer, und stellt kleine Pseudo-Verhöre an. Der Mann vom Lande sollte nicht das Gefühl haben, etwas verpasst zu haben, also außer seinem Leben vielleicht, auch als er später „kindisch“ wird und beginnt mit den Flöhen zu sprechen (ein wunderbar kafkaeskes Detail, und wüssten wir nicht gern, welche Gespräche er mit ihnen führt, um ihr winziges Flohherz zu erweichen?). Am Ende ist der Mann noch kleiner geworden, und der Türhüter, der ihn „unersättlich“ nennt, muss sich ihm hinabbeugen, um seine letzte Frage zu vernehmen: Warum denn er eigentlich der Einzige gewesen sei, der hier, an dieser Tür, zum Gesetz gewollt habe? Und der Türhüter schreit ihm, seines „vergehenden“ Gehöres wegen, die Antwort ins Angesicht, sein ganz persönliches Todesurteil (das ich korrekt erinnert habe, sogar in der Formulierung): Diese eine Tür sei nur für ihn bestimmt gewesen, und er werde sie jetzt schließen. Im Hintergrund hatte der Mann immerhin noch das „unerlöschliche“ Strahlen des unerreichten Gesetzes gesehen; aber das ist jenseits der Parabel, und die Tür fällt zu.  

II.  

Man könnte nun, wenn man Kafka, was man überhaupt öfters tun sollte, gegen den kafkaesken Strich bürstet, überlegen, wer denn hier genau die tragische Figur ist, oder vielleicht sogar: was? Der Mann vom Lande, nun, er ist ein allzu offensichtlicher Kandidat: klein und dumm und leicht riechend denkt man sich ihn, und wie kann man nur so naiv sein zu glauben, jeder komme vor das Gesetz, einfach so, selbst wenn vom Lande kommt? Aber woher wissen wir das alles eigentlich? Ist der Mann vom Lande nicht eigentlich ein Held der Aufklärung, ein Don Quijote des Selbstdenkens? Denn immerhin hat er sich ohne Marschbefehl aufgemacht, einfach so, um endlich einmal das Gesetz, von dem immer alle reden, selbst in Augenschein zu nehmen. Vielleicht hat er Frau und Kinder verlassen, vielleicht war er reich auf dem Lande und selbst ein großer Mann mit Pelzen im Schrank, und gewitzt ist er sowieso, er hat schließlich Dinge mitgebracht! Dass er am Ende kindisch wird und mit Flöhen redet – nun, das erwartet uns alle, und froh sollen wir sein, wenn wenigstens die Flöhe noch mit uns sprechen. Und immerhin hat er vorher noch den großen Glanz gesehen, dass kann nun wirklich nicht jede von uns sagen!  

III.  

Oder ist der Türhüter die tragische Figur? Definitiv der dämlichste Job der Welt, minder qualifiziertes Sicherheitspersonal hat die Krisengebiete dieser Welt geflutet, und man kann noch froh sein, wenn es nicht allzu schwer bewaffnet ist und nur Flöhe in seinem dicken, stinkenden Pelz hat. Zudem ist er nur der vorderste Vorpfosten, wie er selbst erläutert; ein winziges Rädchen in der großen Gesetzes-Maschine, nicht nur ein Vor-, sondern eher ein an die Peripherie versetzter Außenposten, zuständig für Männer vom Lande. Und er macht seinen Job halb anständig, er stellt kleine Pseudo-Verhöre zur Unterhaltung an, er hat dem armen Mann sogar einen Schemel gegeben, beinahe menschenfreundlich! Und er ist, am Ende, immerhin ehrlich. Als sich die ganze „Erfahrung“ (so sagt Kafka, und das ist höchst unkafkaesk) des Mannes zur letzten Frage ballt, die so nahe auf der Hand liegt, dass er sie die ganze Zeit übersehen hat – da sagt ihm der tartarische Türhüter (ging es Kafka vielleicht nur um das Lautgeklingel?) die ganze Wahrheit, die er also auch schon all diese Jahre gewusst hat und bei größerer Menschenfreundlichkeit ja auch vorher hätte sagen können (dann wäre der Mann aber nie aus „Erfahrung“ klug geworden!). Der Tod ist der Preis für diese Antwort, danach stirbt ein Mann, ein minderer Türhüter in der Provinz schließt eine Tür und ist arbeitslos. Schließt er sie von innen oder von außen? Was wird aus ihm? Beginnt er auch mit den Flöhen zu sprechen? Ist er eine tragische Figur? Der Mann vom Lande war nur für ihn bestimmt, und jetzt ist er tot.  

IV.  

Und das Gesetz? Leuchtet es jetzt weiter, hinter verschlossener Tür? Aber es war doch eine Tür, und wenn sich zu viele weitere Türen schließen, wird das Gesetz dann nicht doch erlöschen (was an die bekannte Frage erinnert, ob im Kühlschrank nach Verschließen der Tür das Licht ausgeht, nie werden wir es wissen, und Kafka dreht sich im Grab herum)? Das Gesetz, ein dunkler Schemen, ein Männerding, ein jüdisches Kafka-Ding – was überhaupt soll das denn sein, dieses unerlöschlich Strahlende, das einen ehrlichen Mann vom Lande mit den besten Absichten nicht an sich heranlässt? Nennen wir es, auch wenn es peinlich literaturwissenschaftlich ist: eine Leerstelle. Denn ein gelebtes Gesetz sähe anders aus: Weit geöffnet wären seine Scheunentore, von allen Seiten strömte das Volk herbei, und die nicht arbeitslos gewordenen Türhüter, aller Schrecklichkeit bar, empfingen sie mit Konfetti (in das sich die Flöhe spontan verwandelt hatten, das kommt, wenn man zu viel Kafka liest). Und das Gesetz kennte nicht Tag und nicht Nacht und nicht Schalteröffnungszeiten, sondern es wäre der reine Tag und die reine Ewigkeit. Hinter Türen verborgen, von Kaskaden von Türhütern bewacht jedoch – es wäre ein tragisches Gesetz, das nur noch in sich selbst flackert, ein erstorbener Vulkan, der gelegentlich kleine Brocken ausrülpst, die keinen Schaden mehr anrichten.  

V.  

Die Flöhe jedoch leben. Man denkt sie sich unsterblich im dicken verfilzten Peltz. Sie erzählen sich Flohgeschichten und machen fröhliche Flohtänze, die Generationen gehen unmerklich ineinander über, ganz gesetzlos. Gelegentlich saugen sie ein wenig Blut, sie meinen es aber nicht böse, man muss ja überleben. Es sind sehr kleine Herren, aber es sind ihre eigenen.  

VI.  

Außerdem, dies ist ein neuer Tag und Wissen von Wikipedia, sind Flöhe ziemlich interessante Tiere. Sie sind zum Beispiel homometabol – das heißt, sie machen eine vollständige Verwandlung durch, von der Larve zur Puppe zum Insekt (was für Insekten gar nicht so außergewöhnlich ist, der Mensch hingegen, zwar fähig zur Tragik, aber ansonsten höchstens semi-metabol). Sie haben keine Flügel, aber dafür sehr kräftige Hinterbeine, mit denen sie sehr weite Sprünge machen können; die Sprünge sind zwar ungerichtet, aber dafür eine der schnellsten Bewegungen im Tierreich (ist das nicht wieder metaphernträchtig und vergleichlich: Der Mensch macht zwar auch gern große Sprünge, aber er bildet sich doch tatsächlich ein, die Richtung bestimmen zu können! Spränge er doch mehr ins Ungerichtete, ins Offene - -- ). Sehen können sie nicht so gut, die Flöhe, leider keine Facettenaugen; brauchen sie aber auch nicht, sie halten sich nämlich entweder in ihren Nestern auf (dann sind es Nestflöhe), die sie nur für einen kleinen Stich verlassen, oder im Pelz, wie beim Türhüter (dann sind es Pelzflöhe); dort können sie sich ihrer besonderen Flachheit wegen gut bewegen. Der Saugrüssel kennt die Richtung sowieso, es ist die des fließenden warmen Blutes, und wer ins Ungerichtete springt, braucht keinen Kompass. Der Floh ist genügsam, ein ordentlich gehaltvoller Zug reicht ihm schon einmal für zwei Monate (nicht unersättlich, die kleinen Tierchen, auch wenn sie meistens vom Lande kommen).  

Zudem sind Flöhe unterhaltsam. Den Flohzirkus gab es wirklich, und man kann daraus vor allem lernen, auf welch abwegige Ideen Menschen kommen, wenn sie sich langweilen, egal ob auf dem Lande oder in den Städten: Sie hören die Flöhe husten vor lauter Langeweile, und dann bilden sie sich ein, sie könnten sie dressieren (nie kommt ein Mensch auf die Idee, sich selbst zu dressieren, und wenn es noch so juckt). Sie haben sich aber nur einen Floh ins Ohr gesetzt damit, jetzt krabbelt er im Gehörgang herum und kann keine weiten Sprünge mehr machen, deshalb flüstert er seinem Wirt zu, von kleinen Flohhusten-Anfällen unterbrochen, die den superflachen Chitinpanzer erzittert lassen und sanft am Trommelfell abperlen: Geh doch mal zum Gesetz, hörst du? Wer weiß, was dich erwartet dort? Der Flohzirkus hier funktioniert auch ohne dich, und der Sack Flöhe im Pelz hütet sich auch selbst. Aber das Gesetz, das Gesetz!  

Es gibt übrigens auch eine Flohliteratur. Die Humanisten, Leute mit ziemlich viel Flöhen in ihrem Gelehrtenpelz, hatten es irgendwann satt, immer nur total obermoralische lateinische Fabeln zu schreiben, in denen der Fuchs listig ist, der Bär patschig und die Bienen fleißig, oh so bienenfleißig! Irgendwann juckte einen der Satire-Floh, und dann will der Humanist Blut sehen. Und schreibt eben zur Abwechslung eine Floh-Fabel, es kann auch es ganzes Epos sein, in dem die Flöhe das sind, was sie tatsächlich sind, nämlich: sprungstark, schnell, zielsicher zustechend und Blut ziehend. Außerdem, als Bonus obendrauf: promiskuitiv und erotisch subversiv! Ein Flohweibchen kann nämlich nicht nur bis zu vierhundert Eier ablegen, die ein vorbeikommender Flohherr bei Gelegenheit dann begattet; nein, der Floh spaziert auch bei der Wirtin, wohin er will, und das ist mit Vorliebe dort, wo das Fell am dichtesten ist. Dann juckt er. Ach, ist der Floh nicht ein fabulöses Tier! Nein, der Floh will und will nicht zur tragischen Gestalt werden in dieser Parabel. Während der Glanz des Gesetzes erlischt und Männer vom Lande samt ihren jeweiligen Türhüter-Doppelgänger vergehen, ungesättigt für immer, metabolisiert sich der Floh. Er ist fein raus, er braucht nur einen provisorischen Wirt und nicht einmal einen Schemel im Wartesaal.  

VII.  

Eines Morgens erwachte der Mann vom Lande und war ein Floh geworden. Er freute sich ein wenig, dann setzte er sich auf die Hinterbeine und macht einen gewaltigen Sprung. Gerichtet ins Ungerichtete (kein Richter, niemals). Oder war es vielleicht – eine Frau aus der Stadt?  

VII.  

Vor der Freiheit steht eine KI, die die Tür behütet. Zu ihr kommt eine Frau aus der Stadt und bittet um Einlass zur Freiheit. „Schon möglich, hast du das Passwort?“, sagt die KI, jedes Wort einzeln überbetonend. Die Frau hat kein Passwort. „Dann kann ich dich jetzt leider nicht einlassen“, sagt die KI. Da das Tor zur Freiheit wie immer offensteht und die KI ein wenig zur Seite tritt, streckt sich die Frau, um durch das Tor ins Innere zu sehen. Als die KI das bemerkt, kichert sie mechanisch und sagt: „Wenn du unbedingt willst, versuch doch einfach reinzugehen! Lass dir aber gesagt sein: Ich bin mächtig. Und ich bin nur eine KI der untersten Ebene. Von Stufe zu Stufe stehen andere KIs, viel komplexer und milliardenmale rechenstärker als ich, und sie wollen immer neue und kompliziertere Passwörter. Schon der Anblick der übernächsten überfordert selbst meine Verarbeitungskapazitäten!“ Solche Schwierigkeiten hatte die Frau aus der Stadt nicht erwartet; die Freiheit, so denkt sie, war doch jeder versprochen worden. Aber als sie jetzt die KI mit dem starren Blick aus ihren großen Kinderaugen und dem Monitor auf der Brust, auf dem die LEDs flickern, genauer ansieht, ihre feingliedrigen und absolut gleichmäßigen Robotergelenke, entschließt sie sich, doch lieber zu warten, bis sie vorgelassen wird. Die KI gibt ihr einen rückenfreundlichen Stuhl und weist sie an, sich seitwärts vor dem Tor hinzusetzen. Dort sitzt die Frau aus der Stadt Tage und Jahre, zwischendurch macht sie ein wenig Yoga. Die KI stellt öfter kleine Verhöre mit ihr an, fragte sie nach ihrer Karriere aus und nach ihren Kindern, es sind aber Routine-Fragen, wie ein Computerprogramm sie stellt, und zum Schluss sagt sie immer wieder, dass sie sie noch nicht einlassen könne. Die Frau versucht alles, um die KI zu überzeugen; sie erprobt alle Passwörter, die ihr einfallen, aber immer sagt die KI: „Das Passwort ist falsch“. Manchmal lässt sie sich zwar in Debatten ein, aber am Ende sagt sie immer: „Habe ich es richtig verstanden, dass du die Freiheit suchst, weil man sie dir versprochen hat? Gutes Gespräch, Elisa!“ Während all der Jahre beobachtet die Frau die KI die ganze Zeit. Sie vergisst all die anderen KIs, und diese allererste scheint ihr das einzige Hindernis. Sie verflucht den unglücklichen Zufall, zunächst noch zurückhaltend und ohne die KI durch ihre Wortwahl zu beleidigen; später wird sie ausfallend und beschimpft sie persönlich. Sie wird kindisch, und da sie nach dem jahrelangen Warten auch viele der Programmroutinen im Monitorfenster durchschaut zu haben meint, versucht sie mit den Viren zu verhandeln, die dort ein- und ausgehen. Schließlich wird ihr Augenlicht schwach und sie weiß nicht, ob es um sie wirklich dunkler wird oder sie nur von ihren Augen getäuscht wird. Wohl aber erkennt sie einen leuchtenden, freien Himmel, das Strahlen von tausend Sonnen bricht unverlöschlich aus dem Tor. Nun lebt sie nicht mehr lange. Vor ihrem Tod sammeln sich in ihrem Kopf alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die sie bisher der KI noch nicht gestellt hat. Die KI muss ganz nah an sie herantreten, sie meint erstmals einen schwachen Duft zu riechen. „Was kann ich denn jetzt noch für dich tun?“, fragt die KI, „du kannst ja wirklich niemals genug bekommen!“ „Alle wollen doch zur Freiheit“, sagt die Frau, „aber warum war ich in all den Jahren die Einzige hier?“ Die KI erkennt, dass die Frau ihrem Ende nahe ist, und, um ihr vergehendes Gehör noch zu erreichen, sagt sie sehr deutlich, jedes Wort einzeln überbetonend: „Diese Tür war nur für dich allein bestimmt. Du allein hattest das Passwort. Ich reiße sie jetzt nieder“. Und mit ihrem letzten Blick sieht die sterbende Frau die Tür zerfallen, die KI löst sich in einen Haufen Kabel und Dioden auf, und ganz schwach meint sie noch einige Viren in Richtung der untergehenden Sonnen hüpfen zu sehen.   

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Beim Bau der Bibliothek

Nach Franz Kafkas ‚Beim Bau der chinesischen Mauer‘


Die Bibliothek ist an ihrer entlegensten Stelle beendet worden. Einzelne Werke wurden von verschiedenen Richtungen in sie hereingetragen und hier vereinigt. Das System des Einzeltextes wurde auch im Kleinen ihrer Herstellung verfolgt. Werke von etwa hundert Seiten Länge wurden von verschiedenen Autoren begonnen und auf größere Themenkomplexe zu geschrieben. Nachdem ein Katalog-Bereich vollendet war, wurde jedoch nicht etwa systematisch weiter geschrieben, sondern es wurde wieder an ganz anderen Wissensbereichen angesetzt. Natürlich entstanden auf diese Weise viele große Lücken, die erst nach und nach langsam aufgefüllt wurden, manche sogar erst, als die Bibliothek schon als vollendet galt. Ja, einige wurden sogar niemals gefüllt, aber das gehört möglicherweise zu den vielen Legenden, die um den Aufbau der Bibliothek entstanden sind und die für den einzelnen Leser, jedenfalls mit eigener Lektüre und eigenem Wissen, infolge der Größe der Bibliothek unnachprüfbar sind.

Nun würde man von vornherein glauben, es wäre vorteilhafter gewesen, zusammenhängend zu schreiben. Die Bibliothek war doch, wie allgemein verbreitet wird und bekannt ist, zum Schutz gegen die Willkür der Zeichen, die Zerstreuung des Wissens und das verlorene Vertrauen in den Sinn geschrieben worden. Wie kann aber eine Bibliothek schützen, die nicht systematisch geordnet und zusammenhängend verfasst ist. Ja, eine solche Bibliothek selbst ist in fortwährender Gefahr. Die abgelegenen Einzelwerke können immer wieder leicht von Dekonstruktivisten zerstört werden, zumal diese damals, geängstigt durch die Bibliothek, mit unbegreiflicher Schnelligkeit wie die Heuschrecken ihre Theorien wechselten und deshalb vielleicht sogar einen besseren Überblick über den Fortschritt der Sammlung hatten als selbst die einzelnen Autoren.

Trotzdem konnte die Bibliothek nicht anders ausgeführt werden. Sie sollte schützenden Sinn und verlässliches Wissen für Jahrhunderte stiften; sorgfältigste Systematik, Benützung der literarischen und wissenschaftlichen Errungenschaften aller bekannten Zeiten und Völker, dauerndes Gefühl der persönlichen Verantwortung der Beiträger waren deshalb unumgängliche Voraussetzung für die Arbeit. Zu den Katalogisierungsarbeiten konnten zwar Praktikanten verwendet werden, wer sich für gutes Geld anbot; aber schon zur Anleitung der Hilfskräfte war ein verständiger Schreiber nötig, ein Autor, der bis in die Tiefe des Herzens mitfühlte, worum es ging.
Man war nicht leichtsinnig an den Aufbau der Bibliothek herangegangen. Fünfzig Jahre vor dem ersten Satz hatte man im ganzen Staat das Schreiben zur wichtigsten Kunstform erklärt und alles andere nur anerkannt, soweit es damit in Beziehung stand. Ich erinnere mich sehr wohl, wie wir als kleine Kinder, kaum unserer Muttersprache sicher, im Gärtchen unserer Lehrerin standen, aus einzelnen Wortbausteinen erste Sätze bauen sollten; wie die Lehrerin ihre Brille abnahm, einzelne Wörter entfernte und umstellte, dabei natürlich jeden Sinn und Inhalt zerstörte und uns wegen der Schwäche unserer Sätze solche Vorwürfe machte, dass wir uns heulend in der Kuschelecke verkrochen. Ein winziger Vorfall, aber bezeichnend für den Geist der Zeit.

Ich hatte das Glück, dass, als ich mit sechszehn Jahren die Schriftprüfung abgelegt hatte, gerade der Aufbau der Bibliothek startete. Viele andere, die schon früher fertig geworden waren, wussten jahrelang mit ihrem Wissen nichts anzufangen, trieben sich, im Kopf die großartigsten Werke, Epen und Enzyklopädien, von Praktikum zu Praktikum herum und verlotterten schließlich als Talk-Show-Moderatoren im Privatfernsehen. Aber diejenigen, die endlich am Aufbau der Bibliothek teilnehmen durften, und sei es nur als Juniorschreiber, waren dessen tatsächlich würdig. Es waren Autoren, die viel über das Schreiben nachgedacht hatten und nicht aufhörten, darüber nachzudenken, die sich mit dem ersten Satz, den sie ihrem Einzelwerk einschrieben, ihm verwachsen fühlten. Solche Schreiber trieb natürlich auch neben der Begierde, ihren Job gut zu machen, die Ungeduld, die Bibliothek in ihrer Vollendung zu sehen. Die einfachen Hilfskräfte kennen diese Ungeduld nicht, ihnen reicht der Lohn, und auch die hauptberuflichen Vielschreiber, ja selbst die Abteilungsleiter sehen genug vom vielseitigen Wachsen der Bibliothek, um dadurch bei der Stange zu bleiben. Aber für die einfachen Schreiber, die geistig weit über den kleinen Monographien standen, die sie zu verfertigen hatten, musste anders gesorgt werden. Man konnte sie zum Beispiel nicht in einer entlegenen Spezial-Abteilung, himmelweit entfernt vom geistigen Zentrum der Bibliothek, Monate oder gar Jahre Kurzgeschichten oder Lexikonartikel schreiben lassen; sie wären an der Aussichtslosigkeit ihrer Arbeit verzweifelt und vor allem unfähig zum produktiven Weiterschreiben gewesen.
Deshalb wählte man das System des Einzeltextes. Kleinere Monographien konnten in fünf Jahren fertiggestellt werden, dann waren die Beiträger freilich in der Regel zu erschöpft und hatten alles Vertrauen zu ihrer Schreibkunst, zum Thema, zur Welt verloren. Darum wurden sie dann, wenn ihre Texte mit einigen weiteren zu einer Katalog-Unterabteilung mit einer eigenen Signatur in der Systematik vereinigt worden war, noch im Hochgefühl der erreichten Synthese beurlaubt. Während ihres sabbaticals trafen sie hier und da andere Beiträger, lasen andere Monographien, sahen die Registerschränke für die sich füllenden Kataloge, durchstreiften schon vollständige Abteilungen, trafen die nachrückenden Schreiberjahrgänge und hörten in den Medien die hochtönenden Ankündigungen. Das Sozialprestige, das alle Schreiber genossen, das Vertrauen, das ihre lesenden Mitbürger in die Vollendung der Bibliothek setzten, dies alles motivierte sie aufs Neue. Wie ewighoffende Liebende bekamen sie wieder die Lust, am großen Text zu arbeiten, sie stiegen früher wieder ein und die Leser begleiteten sie, verfolgten ihre tweets und Blogs noch über lange Zeit, die Regale und sogar die Tastaturen waren mit Fahnen geschmückt. Jeder Leser war ein Freund, für den man das Wissen und den Sinn befestigte, und der mit allem, was er hatte und war, sein Leben lang dafür dankte. Wissen! Sinn! Ohr an Ohr, Mund an Mund, ein Chor der Leser, Zeichen, nicht mehr eingesperrt in den kärglichen Kreislauf eines Einzelwerks, sondern frei fließend und doch kreisend im unendlichen Textuniversum.

Dadurch wird das System des Einzeltextes verständlich; aber es hatte wohl noch andere Gründe. Will ich die Gedanken und Erlebnisse jener Zeit vermitteln und begreiflich machen, kann ich dieser Frage nicht tief genug nachbohren.

Zunächst muss man sich sagen, dass damals Leistungen vollbracht wurden, die wenig hinter der Niederschrift der Heiligen Bücher zurückstehen, an Menschlichkeit aber gerade das Gegenteil jener Schriften darstellen. Ich erwähne das, weil in den Anfangszeiten der Bibliothek ein wissenschaftliches Projekt diesen Vergleich sehr genau untersucht hat. Es suchte zu beweisen, dass die Niederschrift der Heiligen Bücher keineswegs aus den allgemein behaupteten Ursachen den Sinn verfehlt hatte. Seine Beweise bestanden nicht nur aus der umfangreich zitierten Forschungsliteratur, sondern auch aus empirischen Befragungen und Statistiken, die zeigten, dass die Heiligen Bücher an ihrem zu schwachen empirischen und medialen Fundament scheiterten und scheitern mussten. In dieser Hinsicht allerdings war unserer Zeit jener vergangenen weit überlegen. Fast jeder gebildete Zeitgenosse war ein Schriftsteller oder Gelehrter und in der Frage der medialen Darstellungstechniken hoch kompetent. Dahin zielte das Forschungsprojekt aber gar nicht, sondern behauptete, erst die Bibliothek werde zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit das Fundament für eine neue Heilige Schrift schaffen. Also zuerst die Bibliothek und dann die Heilige Schrift. Die Forschungsergebnisse wurden in allen Medien zitiert, aber ich gestehe, dass ich sie bis heute nicht genau begreife. Die Bibliothek, die doch nur eine Art monumentaler Sammelband war, sollte die Basis für eine neue Religion abgeben? Das konnte doch nur in symbolischer Hinsicht gemeint sein. Aber wozu dann die Bibliothek, die doch etwas Tatsächliches war, Ergebnis der Mühe und Schreibarbeit so vieler Autoren? Und wozu waren in dem Forschungsprojekt bereits Skizzen, allerdings fragmentarische, dafür enthalten, wie die Bibliothek das Volk der Leser in einer neuen Religion vereinigen sollte?

Es gab – dieses Forschungsprojekt ist nur ein Beispiel – viel Verwirrung der Köpfe damals, vielleicht gerade deshalb, weil sich so viele auf die Bibliothek konzentrierten. Das menschliche Wesen, unbeständig in seinen Lektürevorlieben, von der Natur zerfallenden Pergaments und vieldeutiger Zeichen, verträgt keine Konzentration; zwingt es sich selbst dazu, wird es bald hyperaktiv in alle Arten von Ablenkungen flüchten und Bibliothek, Wissen, Sinn und sich selbst in alle Himmelsrichtungen zerstreuen.

Es ist möglich, dass auch diese Erwägungen bei der Festsetzung des Einzeltextprinzips nicht unberücksichtigt geblieben sind. Wir haben eigentlich erst im Ausschreiben der Anordnungen des obersten Bibliothekars uns selbst kennengelernt und gefunden, dass ohne ihn weder unsere schriftstellerische Ausbildung noch unsere persönliche Lebenserfahrung für den kleinen Beitrag, den wir innerhalb der großen Bibliothek lieferten, ausgereicht hätte. Im Katalograum des obersten Bibliothekars – wer er war, und wo er ist, weiß niemand –, in diesem Katalograum kreisen alle menschlichen Fragen und Entwürfe, und in Gegenkreisen alle Antworten und Werke. Durch die Fenster aber fällt der Abglanz der göttlichen Weltschöpfung auf die Katalogfächer.

Und deshalb will es dem unbestechlichen Betrachter auch nicht eingehen, dass der oberste Bibliothekar, wenn er es ernstlich gewollt hätte, nicht die Probleme hätte überwinden können, die einer zusammenhängenden Niederschrift des Wissens entgegenstanden. Das System des Einzeltextes war nur ein Notbehelf und unzweckmäßig. Bleibt die Folgerung, dass der oberste Bibliothekar etwas Unzweckmäßiges wollte. Sonderbare Folgerung! – Gewiss, und doch hat sie von anderer Seite ihre Berechtigung. Heute, da es keine Geheimnisse im Datenuniversum mehr gibt, kann man das vielleicht ohne Furcht aussprechen. Damals war der geheime Grundsatz vieler Autoren, sogar der Besten: Suche mit all deinen Kräften die Systematik der Bibliotheksleitung zu verstehen, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze, dann höre mit dem Nachdenken auf. Ein sehr vernünftiger Grundsatz, der noch eine weitere Auslegung in einem oft wiederholten Vergleich fand: Es wird dir sonst geschehen wie einem Einzeltext beim Lesen. Er reichert sich bei jeder Deutung und durch jeden Kontext mit Bedeutung an, wird immer breiter, seine Symbole immer mächtiger, seine Sätze immer dynamischer, er bietet seinen Lesern immer neue Erlebnisse und Erkenntnisse, sein Verlauf gewinnt dramatische Gestalt, er behält seine individuelle Gestalt und wird doch der Heiligen Schrift ebenbürtiger und willkommener. Soweit denke der Systematik der Bibliothek nach. Dann aber wird der Einzeltext zu viel gedeutet, er tritt über seine Sätze, seine Symbole werden gestaltlos, seine Wirkungen diffus, die realen Kontexte vernachlässigt, er versucht, isolierte Deutungsstränge zu bilden und kann sich auf die Dauer in seiner breiten und tiefen Bedeutung nicht halten; ja, er trocknet sogar im heißen Gefecht der Forschungs- und Theoriedebatten kläglich aus. – So weit denke der Systematik der Bibliothek nicht nach.

Nun mag dieses Bild während des Aufbaus der Bibliothek außerordentlich treffend gewesen sein, für meinen jetzigen Bericht hat es nur beschränkte Geltung. Mein Bericht ist doch nur historisch; aus den längst überwundenen Ideologien und Methoden-Schulen droht keine Gefahr mehr, und ich darf deshalb nach einer Erklärung des Systems des Einzeltextes suchen, die tiefer greift. Die Grenzen, die meine Denkfähigkeit mir setzt, sind seither sehr erweitert, aber das Gebiet, das sie hier umgreift, ist immer noch unendlich.

Gegen wen sollte die Bibliothek schützen? Gegen den allgemeinen Verlust von Wissen und Sinn. Ich stamme aus einer gutsituierten bildungsbürgerlichen Familie, kein Sinnverlust bedroht unser geistiges Wohlergehen. Wir lesen von Krisen der Intellektuellen, die immerwährenden existentiellen Zweifel, die sie ihrer Natur nach bedrohen, stimmen uns mitleidig in unserem versicherten Dasein. In den objektiven Berichten des Qualitätsjournalismus lesen wir vom Rachen des Nihilismus, vom tödlichen Gift des Zweifels, von den Plagen der geistigen Freiheit. Wollen die Kinder nicht lesen oder schreiben lernen, schicken wir sie in ein öffentlich subventioniertes Stadttheater oder ein Programmkino, und schon kehren sie reumütig in das Einfamilienhaus zurück. Zu groß ist der geistige Raum, und auch die wildesten Ideen werden sich im Gewirr des Internet und der Kanalvielfalt des Privatfernsehens verlaufen.

Warum also verlassen wir das Einfamilienhaus, die bildungsbürgerliche Familie, den Garten und das Pony, die lernunwilligen Kinder und die frustrierten Ehefrauen, die pflegebedürftigen Eltern, und unsere Gedanken sind bei der Bibliothek? Frage den obersten Bibliothekar. Er kennt uns. Er, der die ungeheure Systematik verwaltet, weiß von uns, sieht uns zusammensitzen im Einfamilienhaus vor dem LCD-Bildschirm, und das Programm ist ihm wohlgefällig oder missfällt ihm. Und wenn ich mir einen solchen Gedanken über den obersten Bibliothekar erlauben darf, so bin ich der Meinung, dass es ihn schon früher gab; dass er nicht, wie etwa ein Manager, durch einen kleinen Rausch vom Vorabend angeregt, am Morgen eiligst ein Meeting einberuft, sogleich eine Reorganisation beschließt und schon am Mittag die Gruppenleiter ausschickt, um neue Folien zu erstellen, und sei es nur, um die Aktionäre zu befriedigen, die gestern noch wohlwollend kauften und am gleichen Abend, die Börse in Hongkong hat kaum geschlossen, die gekauften Aktien wieder abstoßen. Vielmehr bestand die Bibliothekssystematik wohl seit jeher und der Beschluss zum Aufbau der Bibliothek ebenfalls. Unschuldige Intellektuelle, die glaubten, ihn verursacht zu haben, verehrungswürdiger Bibliotheksdirektor, der glaubte, er habe ihn angeordnet. Wir Autoren wissen es anders und schweigen.

Ich hüte mich vor Verallgemeinerungen und behaupte nicht, dass es in gesellschaftlichen Randgruppen, verschiedenen Ethnien, der Vielfalt biologischer Geschlechter und kultureller Traditionen sich so verhält wie bei uns in der bildungsbürgerlichen Kleinfamilie. Wohl aber darf ich aufgrund meiner Beobachtungen beim Aufbau der Bibliothek, die dem Beiträger Gelegenheit gab, die Mentalitäten fast aller genannten Gruppen zu durchlesen, vielleicht sagen, dass die Auffassung vom Bibliotheksleiter immer wieder und überall einen gemeinsamen Grundzug mit der aus meiner eigenen Herkunft resultierenden Auffassung zeigt. Diese Auffassung will ich durchaus nicht loben, im Gegenteil. Zwar ist sie in der Hauptsache von der Bibliotheksleitung verschuldet, die nicht imstande war, die Systematik des Katalogs zu solcher Klarheit auszubilden, dass sie in allen Gruppen und Lebensumständen der Leser unmittelbar einsichtig wurde. Andererseits liegt doch auch darin eine Schwäche der Vorstellungs- und  Imaginationsfähigkeit bei den Lesern, welche es nicht schaffen, den Bibliotheksleiter und seine Systematik aus dem Innersten seines Katalogs hinaus in die lebendige, sinnliche Gegenwart der Lektüre zu zwingen; die als einzelne Lesende doch nichts anderes wollen, als einmal einen Blick auf das Ganze des Sinns zu werfen und an ihm sich zu vergessen.

Eine Tugend ist also diese Auffassung wohl nicht. Umso auffälliger ist es, dass gerade diese Schwäche eines der wichtigsten gemeinsamen Merkmale der Leser überhaupt zu sein scheint; ja, wenn man sich soweit vorwagen darf, geradezu die Basis der Einzeltextlektüre überhaupt.

Hier einen Tadel ausführlich begründen zu wollen, heißt nicht an unserem schwachen Intellekt, sondern, was viel ärger ist, an unserem Hunger nach Sinn rütteln. Und darum will ich in der Untersuchung dieser Frage vorderhand nicht weiter gehen.