Gelegentlich kommt er sich vor wie der Panther in Rilkes berühmten Gedicht: „Sein Blick ist vom Vorübergehen der Seiten / so trüb geworden, dass er nichts mehr hält. / Es ist als ob es tausend Bücher gebe / unter hinter lauter Büchern keine Welt“. Bücher, immer nur Bücher; er ist umgeben von Büchern, er lebt unter Büchern, die Regale biegen sich, die Tische sind voll davon, überall machen sie sich breit, sie haben schon längst die Küche erobert – obwohl er niemals, das hat er sich geschworen, Kochbücher rezensieren würde, niemals! -, sind von da aus über den Flur gewandert, die Toilette ist längst zum belesenen Örtchen geworden und im Schlafzimmer lauern die Schwergewichte, dicke Bild- und Prachtbände, von denen er einmal dachte, dass sie ein gutes Schlafmittel wären. Aber er schläft nur noch schwer ein, obwohl ihm am Tag häufig die Seiten vor den Augen verschwimmen, die Augen fallen ihm sanft zu, das Buch entgleitet ihm und fällt, und er möchte so gern auch fallen – aber dann schreckt er doch wieder schmerzvoll hoch, die Buchkante hat ihn auf dem Mittelfuß getroffen, wie so oft schon, die Bücher machen ihn fußkrank, das ist es, sie fesseln ihn an den Sessel, an den Schreibtisch, und je weniger er sich bewegt, desto mehr übernehmen sie die Herrschaft über sein Leben. Wenn er doch einmal träumt, dann träumt er schwere Literatenträume. Meistens beginnen sie damit, dass er ein Käfer ist, ein unförmiges Insekt, das auf dem Rücken liegt und hilflos mit den Beinen strampelt; umgeben aber ist er von Büchern, in ihnen sind alle Arten von Kreaturen abgebildet, aber keines sieht so aus wie er. Da kommt urplötzlich ein eifriger junger Autor auf ihn zu gerannt, man erkennt schon an dem etwas starren Blick, dass er sich wie ein junger Kafka vorkommt, aber seine Ohren sind nicht groß genug, er versucht sich selbst an den Ohren immer wieder größer zu ziehen, aber es sprießen nur Schreibfedern aus ihnen heraus, mit denen er jetzt auf den Käfer losstürzt, der mit seinen dürren Beinchen strampelt, aber nun sprießen auch Schreibfedern aus den Insektenfüsschen, und es hilft nichts, er muss, während ihn der junge Möchtegern-Kafka mit seinen literarischen Versuchen traktiert - abgerissene Satzfetzen schweben durch den Raum und mutieren zu krebsartigen Gebilden, einzelne Wörter fliegen klagend vorbei, Schmetterlinge mit eingerissenen Flügeln - er muss, es ist die einzige Rettung, Sätze schreiben, die er schon tausendmal geschrieben hat, Floskeln, die ihm im wachen Zustand die Schamröte ins Gesicht treiben und im Traum zu Schlingpflanzen werden, „ein Jahrhundertwerk“, „ein Triumph des Erzählens“, „nobelpreisverdächtig“, „Bestsellermaterial“. Sie kringeln sich um die Satzkrebse und senken sich dann schwer auf die dünne Käferbrust, wo schon all die Bücher liegen, die gelesenen und ungelesenen; sie schreien nach seiner Aufmerksamkeit, in jämmerlichen Tönen, wie von ihrem Schöpfer achtlos in irgendeiner Klappe abgelegte Säuglinge, lies mich! schreien sie, und „liebe mich!“, und er schüttelt sie alle von sich und flieht im Käfergalopp. Aber dann ist er schon die riesenhafte Bibliothek geraten, oh, wie gut kennt er seine Traumbibliothek, dort sitzt auf jedem Buch ein Autor, den er verrissen hat, den er missverstanden hat, den er gedemütigt hat, oder, am schlimmsten: den er gelobt hat! Und alle stürzen sich auf ihn, den Kritiker, gemeinsam mit einer unübersehbaren Horde wütender, enttäuschter, begeisterter Leser, und er rennt, weiter und weiter, die Regale entlang, sind es denn immer noch nicht genug Wörter, er schreibt doch schon seit Ewigkeiten, gab es überhaupt einmal eine Zeit, in der er nicht geschrieben hat? Aufwachen, ach, wenn man doch aufwachen könnte – aber wenn er aufwacht, sind die Bücher immer noch da, sie umlagern ihn, sie ersticken ihn und der Paketbote hat schon eine neuen Stapel Rezensionsexemplare abgegeben.
Eine Zeitlang war er dazu übergegangen, die Bücher gar nicht mehr zu lesen, die er besprach. Er besah ein wenig meditativ das Titelblatt, las den Klappentext, dem jeder nur halbwegs begabte Leser ja entnehmen konnte, wie der Autor das Buch verstanden und der Verlag das Buch besprochen haben wollte, und ließ schließlich das Buch – das war der Höhepunkt des Vorgangs, er war immer noch ein klein wenig aufgeregt dabei! – spielerisch auseinanderfallen, auf irgendeine Seite. Dann las er zwei, drei Sätze, mehr brauchte er nicht – und schon formten sich in seinem Kopf die ihm zur zweiten Natur gewordenen Kritikerformeln, er musste nur noch entscheiden, ob es eine Lobeshymne oder ein Verriss werden sollte. Dafür würfelte er auch gelegentlich, wenn er übermütig war und die Träume ihn nicht allzu sehr gequält hatten; oder er fragte seinen Papagei, er hieß Gottsched: Gottsched, sprich, sollen wir ihn krönen oder köpfen, den Poeten? Und der Papagei schrie, je nach Laune: Kopf ab! Oder: Es lebe der Dichterkönig! Dann schrieb er, die erforderliche Anzahl Wörter, auf den Punkt: es war sein besonderer Ehrgeiz, nie ein Wort zu viel oder zu wenig auf ein Buch zu verschwenden, und sein Redakteur liebte ihn dafür – auch wenn er ihm sonst eher unheimlich war, mit seinem stumpfen Pantherblick und seiner papiernen Blässe und den vielen Schnittwunden in den hageren Fingern, vom Schneiden der Blätter; einmal nur, so hatte er früher gehofft, werde ihn ein Satz, eine Geschichte, eine Figur, ein Gedanke so tief schneiden, wie das immer stumpfer werdende Druckpapier es immer noch konnte; aber es blieb bei oberflächlichen Schnitten, die das Blut nicht wert waren, seines nicht und das des Autors. Ausgeblutet, so fühlte er sich; in seinen Adern floss nun Druckerschwärze, sein Herz schlug in einem stumpfsinnig-gleichmäßigen Jambus: „Der weiche Gang geschmeidig leerer Floskeln / der sich im allerkleinsten Kreise dreht, / ist wie ein Tanz um eine hohle Mitte / in der betäubt ein großer Autor steht“, so flüsterte er sich selbst gelegentlich zu. Denn natürlich hatte er eigentlich, wie alle seine Kritikerkollegen, mit denen er aber schon lange nicht mehr sprach, Bücher schreiben wollen, etwas schaffen, das ein eigenes Leben hatte, und nicht nur das Leben anderer sezieren, Tag für Tag. Und wie gut kannte er inzwischen das Innenleben der Bücher, die Mechanik der Romane, ihre Triebfedern und ihre knirschenden Zahnräder; wie konnte er selbst durch die tiefste und hermetischsten Gedichte hindurchschauen bis in ihren tiefen Grund, und wie oft sah er dort nur ein armes zitterndes Wesen sitzen, Wörter zerkauend, bis sie kaum einen Sinn mehr ergaben und Unverständliches erbrechend. Wenige Hausheilige hielt er sich. Aber er las sie niemals mehr, er hatte sogar ihre Bücher weggegeben, um nicht in Versuchung zu geraten; er hätte sie ja doch nur seziert, weil er nicht mehr anders konnte, und am Ende, wer weiß, wären sie vielleicht auch in Fetzen dagelegen, weil sie seinem spitzen Messer nicht standhielten, und dann wäre es Mord gewesen. Nur der Papagei erinnerte sich noch an sie und warf gelegentlich einen Satz heraus, der sich direkt in sein Herz bohrte, weil er ihn vergessen hatte und weil er ihn immer noch traf. Um die Wunde zu schließen, musste er dann Rilke zu Ende zitieren: „Nur manchmal schiebt der Vorhang des Gehöres / sich lautlos auf. Dann geht ein Wort hinein / geht durch des Geistes angespannte Stille / und hört im Herzen auf zu sein“.
Die Literaturkritik ist tot. Und nein, sie kann nicht wiederbelebt werden. Lassen wir sie in Frieden ruhen, neben der Gelehrsamkeit, ihrer Großmutter, und der Bildung, ihrer jüngeren Schwester. Denn die Zeiten sind zwar kritisch geworden, kritisch sogar im Übermaß; Kritik ist ein Imperativ, nein, schlimmer: ein moralischer Imperativ der Moderne. Aber sie möge bitte konstruktiv sein, so heißt es allenthalben, und das ist, wie wenn man einer boa constrictor ihren Zahn zieht: Sie ist dann nur noch gut dafür, sie sich schmückend um den Hals zu legen und mit dem eigenen, leider aber zahnlos gewordenen Mut zu prahlen. Denn was heißt konstruktive Kritik eigentlich? Ein schwacher Einwand, verpackt in Zuckerwatteweiche Berge von Schmeichelei: Ich finde es ja so gut, dass du – aber! Das Aber aber fällt dann meistens aus. Wenn es wahrhaft konstruktiv sein sollte, müsste es zudem nicht nur sagen, was falsch ist (destruktiv, pfui!), sondern wie man es besser machen sollte; eine Konstruktion ist eine diffizile Arbeit, wenn sie denn halten soll und nicht nur Luftschlösser wohnlich ausstatten. Dann aber wäre der Kritiker endgültig und offiziell der universale Oberlehrer geworden, der er inoffiziell schon immer war: Er kann alles am besten, ohne es jemals selbst gemacht zu haben (siehe Fußballtrainer, Stammtisch).
Die Literaturkritik ist tot. Sie ist erstickt an einem Übermaß an Feedback, das früher, in technisch-eindeutigeren Zeiten, noch ein fancy word für Rückkopplung war: Ein Ausgangssignal wird wieder in den Eingang eingespeist, so einfach ist das. Das führt nicht nur zu den schönsten Schleifen, sondern auch, wie jeder Hörende weiß, zum durchaus unangenehmen Phänomen der akustischen Rückkopplung: ein schrilles Pfeifen, das jedes sinnvolle Geräusch übertönt. Heute jedoch wird solange gefeedbackt, dass man sich vorkommen könnte wie eine polnische Weihnachtsgans, immer mehr und mehr bekommt man in den Hals zurückgestopft, und am Ende ist man fett und unverträglich und reif für den Schlachthof. Genau das ist der Literaturkritiker: die Weihnachtsgans des Literaturbetriebs. Zeit für eine Weihnachts-Diät!
Die Literaturkritik ist tot. Die chinesische Sprache hat, man höre und staune, fünfzig verschiedenen Wörter für Kritik, und jeder Mandarin, der seine Drachenrobe wert ist, kann sie in allen möglichen und unmöglichen Formen deklinieren. Die westliche Kultur hingegen hat es geschafft, das Wort auf einen eher entfernten Nebensinn zu reduzieren: Gesellschaftskritik. Was nicht „die Gesellschaft“ kritisiert, ist sein kritisches Schrot und Korn nicht wert. Deshalb ist auch Literaturkritik zu einer eher unbedeutenden Filiale von Gesellschaftskritik geworden, die im Übrigen mit den gleichen Phrasen handelt wie alle anderen Kritik-Filialen auch, ein Euro das Stück. Schließen wir sie, keiner wird sie vermissen. Das Personal wird umgeschult auf Blog oder amazon-Kundenrezension.
Die Literaturkritik ist tot. Es lebe das Leseerlebnis! Denn wenn irgendetwas gerettet werden kann vom Lesen, diesem persönlichsten aller Buchstabenakte, dann das Persönliche. Jede gelungene Lektüre (what the hell, auch jede misslungene!) birgt eine Geschichte. Sie bringt zwei Dinge zusammen, ein Buch und einen Leser, und je nachdem, was beide zu dieser Begegnung mitbringen, entsteht daraus ein hohles Echo oder eine Symphonie. Nur so pflanzen sich Bücher fort: durch Leser. Die ganze Welt hat inzwischen erkannt, dass die ganze Welt nicht Gesetzen oder Regeln folgt, sondern Narrativen: Wenn die Geschichte gut ist, ist uns die Logik schnuppe, die Rationalität ein abgelegtes Wintermäntelchen, die Wahrheit ein Wechselbalg. Erzählen wir, vom Lesen. Uns. Gegenseitig. Werden wir nicht konstruktiv (das können sowieso nur die großen Baumeister, und sie kennen sich aus), werden wir: produktiv! Die Welt ist ein Textgewebe, an dem jeder mitstrickt.
Wenn sich alle Welt über etwas einig ist, sollte man misstrauisch werden; und noch mehr, wenn gar lateinische Zitate in den allgemeinen Schatz endgültiger Lebensweisheiten aufgenommen werden. „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir!“, das hat noch jeder Drittklässler gesagt, wenn er wieder mal mit einem miesen Zeugnis heim kam, und alle nicken heftig und mitfühlend, jaja, haben schon die Alten gewusst. Nur leider war es im Original umgekehrt: Natürlich lernt man in der Schule für die Schule, was denn sonst, das wussten schon die alten Römer, mit einer anderen Haltung wäre man auch nie ein Weltreich geworden!
Vielleicht war es ja mit dem Geschmack ganz genauso? Irgendein alter Römer oder Grieche mag gesagt haben: Über den Geschmack ist zu streiten, täglich, immer wieder, auf dem Forum und im Dampfbad, wo auch immer – aber mal wieder hat niemand richtig zugehört, der Schreiber kannte die Geschichte auch nur aus fünfter Hand und nun tönt es aus jedem auch nur halbambitionierten Radioprogramm: „Über Geschmack kann man nicht streiten!“ – und schon darf jeder schmecken, finden, meinen, was er will (die drei Hauptformen des beliebigen Urteilens)! Begründung ist nicht nötig, weil: nicht möglich! Es leben die Individualität und die Freiheit! Meine Pommes sind deine Nouvelle Cuisine, meine zerrissene Jeans dein Business-Kostüm, meine Soap Opera dein Hamlet. Über Geschmack streitet man eben nicht!
Wenn wir noch einmal genau hinschauen, könnten wir in der Ferne zwei Männer in seltsamen Gewändern auf einem antiken Marktplatz stehen sehen. Es ist das große Forum in Athen, die Menschen gehen ihren Geschäften nach, kaufen ein paar frisch eingetroffene Sklaven, verwalten die polis oder opfern den Göttern. Aber die zwei Männer (es sind ganz sicher Männer, weil Frauen nichts zu suchen haben auf dem Forum, sollen sie sich doch zuhause mit den Kindern oder den Sklaven herumstreiten) streiten; sie zausen sich den Bart, raufen sich die wenigen Haare und erheben anklagend die Hände. Und während der eine noch ruft: „Natürlich kann man über Geschmack streiten, du hirnloser Hornochse, im Namen des bissigen Polemos“, keift der andere zurück: „Wie kommst du nur darauf, du lallender Lackaffe, niemals kann man sich über Geschmack streiten, was für eine absurde Idee, im Namen der friedliebenden Eirene!“ Und beinahe wären sie übereinander hergefallen, aber da kommt eben Sokrates um die Ecke, man erkennt ihn an seinem Silenengesicht, der verwegenen Nase, dem immer etwas ironischen Ausdruck um die alten Augen, und er neckt die beiden: „Seht doch, ist es nicht seltsam, da streitet ihr euch darum, ob man sich streiten kann; ihr tut es aber doch die ganze Zeit, ist das nicht wirklich erstaunlich und nachdenkenswert, im Namen der alleswissenden Athene! Vielleicht sollten wir darüber gelegentlich ein kleines Symposion abhalten, ich habe da schon eine Idee, wenn wir noch einladen könnten; und ihr sorgt für die Getränke, ihr beiden Streithähne, denn mit durstiger Kehle werden die Argumente leicht trocken, beim allüberfließenden Dionysos!“ Man hört noch eine Zeitlang, wie sich die beiden beim Weggehen über die Qualität der verschiedenen Weinsorten streiten. Sokrates aber ist stehengeblieben und lächelt milde; und vielleicht murmelt er noch in seinen Bart: „Ich weiß wenigstens, dass ich nichts weiß, aber das weiß ich wirklich gründlich und könnte es euch auf Nachfrage auch gern erklären! Aber das ist ganz bestimmt nicht nach eurem Geschmack!“
Das Internet ist böse. Amazon ist böse. Foren sind böse. Insofern kann logischerweise nur eines das Ultimativ-Böse schlechthin sein: Leserkritik von Büchern bei Amazon. Sie sitzt mitten im Herzen des bösen Internet sozusagen: Jeder schreibt irgendeinen Mist über irgendein Buch, das er gerade gelesen – oder eher doch: nicht gelesen? – hat, in einem definitiv rechts- und rechtschreibfreien Raum, unzensiert, unbedarft, unverschämt, und die Trolle sind überall. Und dann bekommt man, wenn man endlich ein Buch gekauft hat, auch noch einen Vorschlag, welches man als nächstes kaufen soll, wie schlimm ist das denn? Nur weil jemand anders, dem das erste Buch gefallen hat, das wir gekauft haben, auch das zweite, dritte oder vierte Buch gefallen haben! Aber wir werden darauf hereinfallen, träge und gedankenlose Schäfchen, die wir sind. Und niemals werden wir mehr, rein zufällig, in einer idyllischen Spartenbuchhandlung ganz hinten rechts an einem schummrigen Novemberabend auf ein Buch treffen, von dem wir noch nie gehört hatten und das unser Leben verändern wird; der etwas ältliche Buchhändler schlägt es uns noch sorgfältig in Pergamentpapier ein, bevor wir seinen Laden verlassen, der sich beim Zurückschauen schon im Novembernebel aufgelöst hat, war er eben nicht noch da? Immer nur werden wir das gleiche, das noch gleichere, das absolut gleiche lesen wie alle anderen, die sich zufällig in der gleichen Echokammer getroffen haben und nun daran arbeiten, sie noch etwas schalldichter zu machen und die Eingangskontrollen zu verschärfen!
Ach ja, so gehen sie, die Geschichten, die wir so gern lesen! Sind ja auch ganz schön, nur leider stimmen sie nicht ganz. Natürlich gibt es Zufallsfunde, dann und wann, ganz analog, in einer Buchhandlung. Meist ist sie am Bahnhof, weil der ICE mal wieder weg war, sie ist immer zu eng und immer zu voll und immer zu zugig, und das Angebot ist nicht das Tollste, vor allem wenn man näher zur Kasse kommt. Aber, um ehrlich zu sein: Die interessanteren Lektürevorschläge habe ich von Amazon bekommen. Es waren nämlich die, wo man zuerst ein wenig den Kopf schüttelte und dachte, was haben die Big Data da nun wieder gemacht? Ich bin doch eigentlich gar nicht – und dann schaut man näher hin, weil man schon mal da ist, und liest sich durch, was die Leser so darüber schreiben. Dann filtert man die Trolle raus und die Fangemeinde ebenso, ist ja wirklich nicht so schwer, und am Ende denkt man sich so manches Mal: Ist ja interessanter, als ich gedacht habe! Guck mal, probieren wir doch!
Und schon hat die Echokammer ein großes Loch. Sie war nämlich eigentlich in unserem Kopf; und nicht in einem bösen Medium, das nur das tut, was es besonders gut kann, nämlich: Dinge speichern, kombinieren und wieder ausspucken und damit Geld verdienen. Das Internet ist nicht böse, Amazon ist nicht böser als jedes Unternehmen, dem mehr an seinem Umsatz liegt als an seinen Kunden (also: alle), und Foren sind genauso böse wie die Summe der Leute, die sich dort aufhalten. Um ehrlich zu sein: Ich liebe Big Data inzwischen; ich liebe, dass es so viele Vorurteile bestätigt, einfach ganz unsentimental mit Zahlen jenseits von gut und böse (dass Vorurteile Vorurteile sind, ist nämlich auch nur eines!), und ich liebe, dass es mich manchmal überrascht. Warum soll ich mich fürchten, wenn es mich besser kennt als ich mich selbst? Andere Leute gehen dafür zur Psychotherapie und bezahlen teures Geld! Glaubt irgendjemand noch, dass er sich selbst am besten kennt? Dann müsste die Welt aber wirklich anders aussehen!
Inzwischen träume ich gelegentlich sogar davon, eine ganze Literaturgeschichte mithilfe von Auswertungen von Big Data zu schreiben. Sie würde die Verkaufszahlen bei Amazon und anderswo daraufhin analysieren, welche Bücher besonders dicht beieinander liegen im Leserinteresse; oder sie würde die Leserkritiken und Blogs durchgehen und daraus Rezeptionsmuster generieren. Sie würde ganz sicher nicht eine Formel für den tollsten Bestseller aller Zeiten ausspucken (das ist gar nicht so schwer, wie man denkt), aber vielleicht ein Netzwerk voller Bücher, die über die Zeiten und die Nationalliteraturen hinweg über Themen, Formen, Stile, Ideen mit Hyperlinks verbunden wären. Man könnte an jeder Stelle eintauchen und käme von Goethe zu Edward Wilson, von Wittgenstein zu Terry Pratchett, von Sherlock Holmes zu Madame Scudery, von Doonesbury zu Aristophanes. Vielleicht würde man dabei sogar herausfinden, dass es gar nicht die größten Ideen, der revolutionärste Stil, das ganz und gar nicht verstehbare Genie sind, die große Literatur (wenn man denn daran glaubt) machen! So haben stilometrische Untersuchungen (also quantitative Analysen von literarischen Texten im Blick auf die verwendeten Wörter und den Satzbau) schon gezeigt, dass es gar nicht die besondere und unverwechselbare Schreibart ist, die den Autor so individuell und einzigartig machen. Nein, seine Identität erkennt das jeglichem Geniekult abholde (böse) Analyseprogram vor allem an den kleinen Wörtern – also denen, die nicht das ganze Gewicht der Aussage tragen müssen, den Underdogs der Sprache. Oder an Wortpaaren, die immer zusammen auftreten. Das Schöne an der Methode ist, dass man sie testen kann – was man von Interpretationen, selbst beim besten Willen und viel Glauben an ihre Begründbarkeit und ihre relative Angemessenheit, leider nicht sagen kann. Aber vielleicht, verwegener Gedanke, wollen das all die bezahlten Literaturspezialisten unserer Tage auch gar nicht?
Vielleicht werden wir eines Tages dahin kommen, dass es eigentlich eine ungeheure Verirrung oder wenigstens Naivität war, Wörter und Ideen in einzelne Bücher zu stecken, zwischen zwei Buchdeckel, real oder virtuell. Schreiben nicht alle einzelnen Bücher mit am universalen Hypertext der Welt, man muss nur die richtigen Hyperlinks finden, und schon kann man durch ganze Universen reisen, quer zu den ausgetretenen Straßen, mit immer neuen Sprüngen in neue Welten? Natürlich braucht es trotzdem Autoren, die Texte schreiben. Aber vielleicht werden wir dann auch verstanden haben, dass Schreiben nicht eine Tätigkeit seltsamer Spezialisten ist, sondern eine natürliche Lebensäußerung von Wesen, die aufgrund nicht ganz geklärter Umstände und vielleicht sogar gegen ihr besseres Interesse zu Selbstbewusstsein gekommen sind und nun daran verzweifeln, sich selbst und die Welt zu verstehen (sie war nicht dazu gemacht, dass Menschen sie verstehen; sonst wäre sie buchförmig). Man würde dann auch sehen, dass die Zahl der Geschichten durchaus endlich ist, ebenso wie die Art und Weise, sie zu erzählen; Literaturgeschichte ist zu einem großen Teil Variationsgeschichte. Aber vielleicht, noch ein verwegener Gedanke, macht das gar nichts, weil es auch auf Menschen zutrifft?
Zum Glück mag ich Varianten. Die Evolution, seit dem Urknall, besteht aus Varianten, und sie ist sehr einfallsreich dabei. Originalität wird definitiv überschätzt.