Vom Wert der Tugenden * Wer nicht kommt zur rechten Zeit! – Pünktlichkeit und Respekt * Was ist faul an der Faulheit? – Fleiß und Tätigkeit * Das Genie beherrscht das Chaos – Ordnung und Schönheit * Frisch gewagt ist halb fertig – Zuverlässigkeit und Charakter * Darf es auch ein bisschen weniger sein? – Bescheidenheit und Demut * Auf der Überholspur – Geduld und Nachhaltigkeit * Das Zauberwort – Höflichkeit und Menschenfreundlichkeit * Durchgemogelt – Treue und Wahrheit * Nein danke! – Dankbarkeit und Grazie * Bloß nicht normal! – Von der Mäßigkeit zur work-live-balance
Von Moral spricht man entweder nicht gern oder viel zu viel, und noch unangenehmer ist es, wenn man zuhören muss, wie andere davon sprechen (in beiden Fällen). Aber noch schlimmer ist es, von „Sekundärtugenden“ zu sprechen. Sie sind zu trauriger Berühmtheit gelangt, als Oskar Lafontaine 1982 in der Debatte um den NATO-Doppelbeschluss Helmut Schmidt entgegen warf, mit dem von diesen beschworenen Sekundärtugenden wie Pflichtbewusstsein oder Standhaftigkeit könne man auch ein Konzentrationslager leiten. Der Vergleich ist nicht grundsätzlich falsch, dient jedoch rhetorisch dazu, eine Debatte abzuwürgen, bevor sie begonnen hat – denn wie soll etwas zu rechtfertigen sein, dass man in einem Atemzug mit den schlimmsten Monstrositäten der deutschen Vergangenheit nennen kann? Der Trick wird leider vielfach missbraucht, und man kann ihm nur dadurch entkommen, dass man Rechenschaft darüber fordert, was genau in Bezug auf was miteinander verglichen wird, und ob der Vergleich fair ist, oder ob er hinkt. Außerdem entgeht einem dabei, dass die so diffamierten Sekundärtugenden vielleicht sogar notwendig sein könnten für die hohen, unangezweifelten „Primärtugenden?
Was ist Tugend?
Aber was sind eigentlich "Tugenden"? "Tugend" ist eigentlich ein schönes altes Wort, das zu Unrecht vor die Hunde gegangen ist. Sprachgeschichtlich komms er von dem sehr alten Verb „taugen“, also zu etwas gut sein, zu etwas nutzen; genauso wie seine beiden griechischen und lateinischen Gegenstücke arete und virtus. Beide akzentuierten, wurden sie in antiken Texten zur Moralphilosophie gebraucht, unterschiedliche Aspekte moralischer Tauglichkeit, die offensichtlich mit einem unterschiedlichen Selbst- und Weltbild zusammenhingen: Die Griechen dachten (sehr vereinfacht) das moralisch Gute nach dem Modell des tüchtigen Handwerkers oder eines nützlichen Werkzeugs; die Römer nach dem Modell der Tapferkeit des guten Mannes in der Schlacht. Das christliche Mittelalter produzierte dann schon ganze Moralkataloge: Den unverzeihlichen Todsünden (Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Faulheit) wurden die positiven Tugenden des Christenmenschen (Demut, Mildtätigkeit, Keuschheit, Geduld, Mäßigung, Wohlwollen, Fleiß) entgegengesetzt. Wie man sieht, sind die Laster bis heute allgegenwärtig, während einige der positiven Tugenden doch sehr in Vergessenheit geraten sind. Haben sich nun die Menschen geändert oder nur unser Bild von ihnen? Oder sind die christlichen Werte mit der Vorstellung von Himmel und Hölle als Sanktionsmechanismen unmoralischen Handelns ausgestorben – keiner praktiziert sie mehr, weil weder Anerkennung noch Strafe droht?
Zudem gibt es inzwischen zu viele Spezialtugenden, die um gesellschaftliche Anerkennung und Verbindlichkeit streiten. Zu den christlichen Tugendkatalogen (und denen aller anderen Religionen, die ähnliche Listen aufgestellt haben) gesellen sich spezielle männliche und weibliche Tugenden (die sich natürlich erledigen, wenn man den Geschlechtsunterschied prinzipiell leugnet oder abschafft, aus welchen Gründen auch immer). Politische Systeme haben ihre eigenen Lieblingstugenden hervorgebracht, wie die höfische, die bürgerliche oder die sozialistische Tugend (die dann an den mit dem jeweiligen System verbundenen ideologischen Altlasten leiden); Berufsgruppen haben sich Normensysteme geschaffen wie die soldatische oder die kaufmännische Tugend. Auf allgemeine Anerkennung pochen können aber historisch und bis heute eigentlich nur die sogenannten „Primär“- oder auch „Kardinaltugenden“. „Kardinal“ (von lat. cardinalis, wichtig, vorzüglich, abgeleitet von cardo, die Türangel) heißen sie seit dem Kirchenvater Ambrosius von Mailand, weil an ihnen die einzelnen Spezialtugenden befestigt sind wie die Tür an einer Angel: Entfernt man die Angel, verlieren also die Primärtugenden ihren Halt, stürzen die Sekundärtugenden mit ihnen. Sie sind im Blick auf die Kardinaltugenden immer nur zweitrangig, können sich selbst nicht halten und nicht allein auf Geltung pochen.
An der Angel der Primärtugenden: Sekundärtugenden
Damit man jedoch etwas hat, woran man die so schnöde gescholtenen Sekundärtugenden festhalten kann, damit sie eine kardinale Angel bekommen, muss zuerst ein Wort über Primärtugenden verloren werden. Seit der frühen Antike sind sie überliefert, zumeist im Viererpack. Die allgemeingültigste und für uns heute wohl am leichtesten aktualisierbare Version stammt von Cicero, und seine Kandidaten sind: Gerechtigkeit (iustitia, ein Klassiker; kein Tugendkatalog kommt ohne Gerechtigkeit aus); Mäßigung (temperantia, ersetzt die vor Cicero meist aufgezählte Frömmigkeit); Tapferkeit, im Sinne von Hochsinn oder Seelengröße (fortitudo oder magnitudo animi); und Weisheit oder Klugheit (sapientia oder prudentia, was nicht genau das gleiche ist). Dieses sind und bleiben auch für die meisten Nachfolger Ciceros Tugenden, die in jedem Fall, unter allen Umständen und bei jedem Menschen bedingungslos gut und erstrebenswert sind. Mehr noch, für die antiken Philosophen ist sogar nur ein solches Leben ein gutes, gelingendes – und damit „glückliches“ – Leben, in dem diese Tugenden gezielt ausgebildet und angewandt werden. Das beginnt sinnvollerweise mit der Erziehung und endet mit dem guten Sterben, dem euthanatos, als Frucht eines guten Lebens. Und es geht dabei nicht nur um theoretische Erkenntnis („Ethik“), sondern in erster Linie um gutes Handeln. Aber dem guten Handeln geht die gründliche Reflexion zwingend voraus, weshalb man eben doch – wenn schon nicht moralisieren, dann zumindest über ethische Grundfragen wiederholt und gründlich und wahrscheinlich lebenslang nachdenken muss.
Denn schon ein oberflächlicher Blick zeigt: Solch heroische Tugenden wie Weisheit oder Gerechtigkeit sind weder angeboren, noch werden sie einem geschenkt. Man muss sie sich erarbeiten, praktisch und theoretisch und vor allem kontinuierlich. Auch Mäßigung widerstrebt unserer Bedürfnisnatur und unseren Konsumgewohnheiten zutiefst und muss deshalb in langer Disziplin eingeübt werden. Und Großmut, Seelengröße, Tapferkeit schließlich sind uns in unserer domestizierten und behüteten Lebenswelt so fremd geworden, dass wir sie uns erst mühsam übersetzen müssen: Hat es vielleicht damit zu tun, großzügig zu sein, nicht nur in einem materiellen, sondern auch in einem geistigen, seelischen, emotionalen Sinn? Nicht allzu kleinlich-selbstbezogen, sondern fähig, Größe in sich selbst und anderen zu sehen und zu wollen, ohne jedoch in Übermut und Größenwahn zu verfallen? Menschenfreundlich zu sein, auch wenn die Umstände dagegen sprechen, und Freundlichkeit gegenüber allen Mitmenschen zu praktizieren? Oder meint es sogar einfach nur, überhaupt etwas erreichen zu wollen in seinem Leben, tätig zu werden für Dinge, die einem wichtig sind, etwas zu schaffen und zu hinterlassen und nicht nur zu konsumieren und Dinge mit sich geschehen zu lassen? Unpopuläre Ideen zu vertreten, auch wenn sie keiner hören will? Sich für etwas zu engagieren, das langfristige und schmerzhafte Entscheidungen verlangt? Vielleicht wird an den Schwierigkeiten mit der Großmut sogar am deutlichsten, dass für die Antike die vier Kardinaltugenden untrennbar zusammenhingen: Man kann sie nicht einzeln haben, sondern wer großmütig sein will, muss auch gerecht, weise und mäßig sein; er muss die Ansprüche anderer anerkennen, sie gegen die eigenen abwägen, wahrscheinlich seine eigenen Ansprüche daraufhin mäßigen. Selbst die Primärtugenden stehen also in dieser Sichtweise nicht unbedingt für sich allein: Tugend kommt immer im Paket; und die Frage ist, ob man in diesem Paket von Primärtugenden nicht vielleicht auch eine – oder mehrere – oder gar alle Sekundärtugenden mitkaufen muss.
„Sekundärtugend“ nun ist ein relativ neuer Begriff in der Debatte um die Moral, und er war von Anfang als Schimpfwort gemeint. Die anti-bürgerliche Studentenbewegung spießte mit diesem Begriff die alten „preußischen“, „kleinbürgerlichen“, „repressiven“ Moralvorstellungen der Altvorderen auf, die allesamt dadurch entwertet worden seien, dass sich der Nationalsozialismus besonders gern auf sie berief. Das Ziel war eine Umwertung der Werte: Gefragt waren nun emanzipatorische und soziale Tugenden wie Menschlichkeit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, Solidarität, Gleichberechtigung, Konfliktfähigkeit. Tatsächlich spricht wenig gegen diese neuen Werte – außer dass sie natürlich in Teilen genauso sekundär sind wie die alten bürgerlichen (Solidarität mit was? Selbstverwirklichung wozu? Konflikt um jeden Preis?) und dass sie ja vielleicht auch mit den alten Werten friedlich koexistieren statt konkurrieren könnten (Konsensfähigkeit könnte ja die notwendige Komplementärtugend zur Konfliktfähigkeit sein). Wie alle revolutionären Bewegungen jedoch war auch diese nicht so sehr daran interessiert, ihre Vorgänger gerecht, weise und mäßig, um nicht zu sagen: großherzig zu würdigen, sondern das Neue (und sich selbst als dessen Erfinder), das für alle Revolutionen letztlich der überragende Wert ist, um jeden Preis durchzusetzen. Es ging also wie immer in der Geschichte nicht so sehr um Moral-, sondern um sehr konkrete Machtfragen, und sei es auch „nur“ um die der moralischen Deutungshoheit.
Aber das heißt ja nicht, dass man die Kritik nicht ernst nehmen muss, auch wenn man das Missbrauchs-Argument (mit Sekundärtugenden kann man auch ein KZ leiten) als eine rhetorische Totschlag-Strategie erkannt hat. Missbrauchen kann man nämlich alles auf dieser Welt, gerade das Beste – was Immanuel Kant letztlich zu dem kategorischen Schluss führte, das einzige, was unter allen Umständen gut sei, sei ein guter Willen. Nein, ebenso wenig wie die Religion als solche zu verdammen ist, weil man sie überwältigend gut missbrauchen kann; ebenso wenig, wie politische Macht an sich böse ist, weil sie zum Missbrauch geradezu einlädt; ebenso wenig, wie Geld an sich schlecht ist, weil man auch Massenvernichtungswaffen damit kaufen kann, ebenso wenig sind Sekundärtugenden dadurch entwertet, dass zur Führung von Konzentrationslagern missbraucht werden können. Man muss nur sorgfältig und reflektiert mit ihnen umgehen, wie mit allen Dingen auf dieser Welt, die moralische Konsequenzen haben.
Rettet die Sekundärtugenden: eine Verteidigungsschrift
Deshalb verfolgt dieser Text eine dreifache Strategie. Er listet eine Reihe von Sekundärtugenden auf, die im Übrigen weder vollständig noch hierarchisch geordnet ist, sondern vor allem diejenigen aufnimmt, die in der Moderne besonders stark gelitten haben – und „Moderne“ meint im Folgenden summarisch: das 20. und 21. Jahrhundert als Epoche, die sich bewusst und gezielt von den vorherigen absetzt und dabei eigene ideologische Grundannahmen und moralische Präferenzen entwickelt hat, die von den in ihr Lebenden aber eher selten als solche erkannt und reflektiert werden. Die Reihe beginnt mit der Pünktlichkeit und geht über „Kopfnoten“- Klassiker wie Fleiß und Ordnung, eher traditionell-christliche Kandidaten wie Bescheidenheit und Geduld hin zu schon fast primären Tugenden wie Treue und Mäßigkeit (die hier, ihrer Geschichte als Kardinaltugend zum Trotz, als Gipfel der Sekundärtugenden auftaucht, da sie in besonders hartem Kontrast zu verbreiteten zeitgenössischen Haltungen und Werten steht). Um die Argumentation möglichst nachvollziehbar zu halten, werden dabei drei Aspekte unterschieden. Unter den ersten beiden Aspekten (die sich teilweise überschneiden) kommen die „Kritiker“ der Anklage zu Wort, denen unter dem dritten Punkt der „Retter“ als Anwalt der Verteidigung widerspricht (als Richter muss, wohl oder übel, der Leser/die Leserin fungieren):
Was ist falsch an dieser speziellen Sekundärtugend? Warum ist sie aus der Mode gekommen, welchen zeitgemäßen Werten und Vorstellungen widerspricht sie? Was genau kritisiert die Moderne an ihr? Warum brauchen wir sie nicht mehr, und was ist an ihre Stelle getreten?
Was ist sekundär an dieser speziellen Sekundärtugend? Welcher Aspekt macht sie zu einer von den Primärtugenden abhängigen, zweitrangigen Tugend, und was unterscheidet sie von diesen? Was disqualifiziert sie in moralischer Hinsicht, was ist gefährlich an ihr?
Was ist zu retten an dieser speziellen Sekundärtugend? Gibt es verdeckte Ursachen für die Abwertung und Verurteilung in der Moderne? Gibt es Verdienste, die übersehen werden? Was war historisch und was könnte aktuell der Wert dieser Sekundärtugend sein, und zwar in möglichst vielen Bereichen und auf unterschiedliche Art und Weise? Was ist dabei zu beachten, wo liegen ihre Grenzen?
Lektüregewinne: Wozu Sekundärtugenden? - einige Thesen
Sekundärtugenden bieten Handlungsrichtlinien von mittlerer Tragweite; das ist gleichzeitig ihre Grenze wie ihre Leistung. Einfacher gesprochen: Sekundärtugenden machen nicht weise (jedenfalls nicht allein), aber lebensklug und lebenstüchtig. Viele von ihnen können auf eine lange religiöse und kulturelle Tradition zurückblicken, deren Inhalte man jedoch nicht automatisch mit ihnen übernehmen muss. Aber ihre traditionelle Funktion, nämlich in immer unübersichtlicher werdenden Zeiten stabilisierend zu wirken, das Bleibende gegenüber der Veränderung zu betonen (die deshalb ja trotzdem stattfinden kann und soll und muss, aber geht das meiste nicht ein bisschen zu schnell für uns?), modern gesprochen: zur Reduktion von Komplexität beizutragen, ohne zu simplifizieren, könnte auch heute von Nutzen sein.
Sekundärtugenden wirken zivilisierend; sie machen dadurch das Leben nicht nur einfacher und beherrschbarer, sondern sogar schöner. Sie haben, historisch betrachtet, unsere moderne Zivilisation entscheidend mit hervorgebracht, indem sie Regeln für ein gedeihliches Zusammenleben aufstellten. Erst Sekundärtugenden wie Zuverlässigkeit und Treue haben Wissenschaft und Handel eine feste Basis verschafft; erst Sekundärtugenden wie Höflichkeit oder Dankbarkeit haben unserem menschlichen Zusammenleben schöne Formen gegeben; erst eine Sekundärtugend wie Ordnung ermöglichen überhaupt menschliche Erkenntnis, die im Chaos Regeln ausmacht, Kontinuitäten feststellt, Kausalzusammenhänge reproduziert. Das schränkte natürlich die freie Willkür des Einzelnen ein. Aber ob eine vollständig uneingeschränkte Entfaltung aller Subjekte in jede beliebige Richtung überhaupt in irgendeiner Form gesellschaftlicher Organisation möglich ist, kann man mit guten Gründen bezweifeln: Regeln sind nötig, ob man will oder nicht, und besser, man macht sich das rechtzeitig bewusst.
Sekundärtugenden wirken gemeinschaftsstiftend; sie etablieren eine grundlegende Form von Respekt im menschlichen Zusammenleben. Pünktlichkeit beispielsweise ist nur der Anfang davon, moralische und soziale Verpflichtungen ernst zu nehmen. Geduld ist gerade für den Umgang mit den schwächeren Gliedern der Gesellschaft unentbehrlich; Dankbarkeit schafft schafft Verbindlichkeit auch jenseits des reinen Nutzens. Und ohne zumindest den guten Willen zu Treue und Zuverlässigkeit sind wechselseitige menschliche Beziehungen eigentlich nicht zu denken. Als geteilte Werte bilden sie zudem eine Form sozialer und gesellschaftlicher Identifikation und Identität, die auch und vielleicht gerade in multikulturellen Gesellschaften nötig ist – nicht um die Anderen auszuschließen, sondern um den Anderen überhaupt als Anderen erkennen und anerkennen zu können.
Sekundärtugenden wirken reflexionsfördernd und distanzierend. Sie sind disziplinierend in einem massiv verlorengegangen positiven Sinn: Sie zwingen uns, einen Moment von unseren allzu natürlichen materiellen und psychischen Bedürfnissen und Interessen zurückzutreten und sowohl diejenigen anderer Menschen als auch die der Gesellschaft als Ganzes ins Auge zu fassen. Sie zwingen uns darüber nachzudenken, was wir von uns selbst und von anderen erwarten – und vor allem dazu, nicht von anderen etwas zu erwarten, zu dem wir selbst nicht bereit sind. Sie ermöglichen dadurch auch Nachhaltigkeit, die aufs engste mit Tugenden wie beispielsweise Geduld und Bescheidenheit verbunden ist und nicht umsonst einen steilen Aufstieg als genuin moderne Tugend in einer immer schneller werdenden Welt erlebt hat.
Sekundärtugenden wirken erzieherisch und selbstverstärkend. Zwar beruhen sie zum Teil auf leicht erlernbaren äußeren Regeln und Routinen, aber das kann ein Vorteil sein: Denn auch zu Beginn rein äußerliche Verhaltensformen werden irgendwann verinnerlicht; zwischen äußerer Form und innerer Charakterbildung besteht eine kontinuierliche Wechselwirkung. Wer lange genug mechanisch aufgeräumt hat, wird die Schönheit der Ordnung entdecken (und nicht nur in seinem Arbeitszimmer, sondern in der Welt); wer nur gewohnheitsmäßig pünktlich war, dem wird ein produktives Zeitmanagement zur zweiten Natur werden und ihm ermöglichen, sein Leben bewusster und reicher zu gestalten. Und wer lange genug höflich war, wird irgendwann die äußere Voraussetzung der Höflichkeit – die Anerkennung des Anderen als gleichberechtigte Person – auch verinnerlicht haben und damit einen entscheidenden Schritt hin zu einer umfassend verstandenen – primärwertigen – Humanität gemacht haben.
Sekundärtugenden müssen maßvoll angewandt werden; sie sind eine Form moralischer Urteilskraft, die immer situationsbezogen ist. Das unterscheidet sie zu Recht von Primärtugenden, die ohne Unterschied immer gut sind (aber in ihrer Anwendung natürlich auch eine gewisse Urteilskraft voraussetzen). Es ist deshalb gefährlich, und davon warnt der schon mehrfach erwähnte KZ-Vergleich zu Recht, Sekundärtugenden zu verabsolutieren; sie sind keinesfalls um jeden Preis zu verfolgen. Aber gerade in der notwendigen Abwägung – wann und wo, gegenüber wem, in welchem Maße, und wann vielleicht auch nicht oder etwas weniger – bieten sie eine unentbehrliche moralische Grundausbildung, auf der dann die höheren Tugenden aufbauen können. Pünktlichkeit ohne Peinlichkeit; bedingte Zuverlässigkeit; individuelle Ordnung; freiwillig geschenkte Dankbarkeit unter Gleichen; vor allem jedoch die allgegenwärtige Mäßigung – sie alle geben Beispiele dafür, wie man reflektiert und bewusst Sekundärtugenden praktizieren könnte, ohne zu ihrem Sklaven oder zu griesgrämigen Pedanten zu werden. Dafür muss man weder seinen freien Willen verkaufen noch seinen Anspruch auf Selbstverwirklichung oder materiellen Lebensgenuss. Aber wenn es schon den meisten von uns nicht gelingt, weise zu werden, wäre es doch vielleicht auch ganz schön, wenigstens das zweitbeste – das sekundäre, im besten Sinne – zu erreichen, und damit das zu werden, was die Tugend eigentlich meinte, bevor sie zur „Moral“ verkam: gesteigert lebenstauglich.
Ob das alles stimmt? Nun, das kann ja jede für sich erproben. Es gibt aber auch ein literarisches Mittel, das noch stärker als Literatur überhaupt als Versuchsfeld für die Praxis von Tugenden im Leben betrachtet werden kann: die Charaktere nämlich.
Charaktere: Sekundärtugenden bei der Arbeit
Vorangestellt ist allen Artikeln eine kurze Charakterskizze. Charaktere sind ein altehrwürdiges Genre, das als erster Theophrastos von Ephesos im 4. Jahrhundert vor Christus entwickelt hat: Kleine Erzählungen, die eine bestimmte menschliche Eigenschaft gezielt isolieren, aufspießen und dann die Lebensgeschichte einer Figur erzählen, die diese menschliche Eigenschaft besonders eindrucksvoll ausgebildet hat. Meist handeltes sich dabei um schlechte Eigenschaften – der Schmeichler, der Prahler, der Flegel, der Feigling, der Geizige. Sie alle werden in ihrem täglichen Leben gezeigt: wie sie mit anderen Menschen umgehen, wie sie moralische Entscheidungen treffen, wie sie leben und sterben. Charaktere zeigen die Tugenden sozusagen bei der moralischen Kleinarbeit, im Alltag; sie spitzen dabei natürlich zu, sie übertreiben zum Klischee, zur Karikatur, zum Typus – im Dienst der Deutlichkeit, der Anschaulichkeit, durchaus auch der abschreckenden Wirkung. Nun sind wir Modernen darauf gedrillt, Klischees und Stereotypen für nahe Verwandte von Vorurteilen und mindestens genauso schädlich zu halten – aber leider sind die meisten von ihnen eben nicht aus der hohlen Luft gezogen oder böswillig erfunden, sondern haben eine sehr reale Basis. Und wir verwenden sie, ob wir wollen oder nicht, ständig, da wir weder genug Zeit noch genug Lebenserfahrung haben, um in jeder einzelnen Situation, angesichts jedes neuen Menschen zu einem umfassenden, gründlichen, alle Aspekte gleichmäßig einbeziehenden gerechten Urteil zu kommen. Charaktere sind ein bewährtes Mittel zur Reduzierung von Komplexität im Alltag – und wenn man sie im Bewusstsein dessen liest, dass es sich um willentliche Zuspitzungen und nicht um böswillige Denunziationen handelt, sollte das genug Distanz schaffen, um einen eigenständigen Vergleich zwischen Abziehbild und Realität anstellen zu können.
Die im Folgenden entworfenen literarischen Charaktere sind teilweise positiv, häufiger jedoch negativ – schon die traditionellen Charakter-Schreiber, die sich nicht umsonst vor allem in der moralistischen Tradition der Aufklärung finden, wussten, dass eine negative Satire nicht nur einfacher zu schreiben, sondern auch lustiger zu lesen ist als eine positive Würdigung eines Idealbildes, das dem Leser dann doch immer heimlich moralisierend zuflüstert: Schau, es geht doch, warum bist du eigentlich so faul, so leichtsinnig, so unverantwortlich? Nimm dir doch endlich ein Beispiel!
Wer nicht kommt zur rechten Zeit - Pünktlichkeit und Respekt
Nennen wir ihn Pauli. Eigentlich heißt er Paul-Wilhelm, aber das ist so lang und umständlich, und wenn er wieder einmal zu spät kommt, ruft er fröhlich in die Runde: „Nennt mich einfach Pauli!“ Schon bei der Geburt war Pauli zu spät gewesen: drei Wochen über der Zeit, aber seine Mutter hatte es trotzdem erst auf die letzte Minute ins Krankenhaus geschafft, weil sein Vater mal wieder zu spät aus der Kneipe gekommen war. Genetisch sei das, sagt Pauli gern, mein Daddy war schon so, ich kann einfach nicht pünktlich sein! Dafür hatte er dann nach der Geburt umso lauter geschrien, und das tat er auch später gern. Seine Mutter allerdings war ganz anders gewesen. Einer ihrer ewigen Lieblingssprüche war gewesen: „Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muss nehmen (oder häufiger: essen), was übrig bleibt!“ Voll neurotisch, hatte sich Pauli gedacht, und war noch später nach Hause gekommen, auch wenn er wusste, dass seine Mutter auf ihn wartete. Morgens stand er dafür eben später auf, auch wenn es – „wer nicht kommt zur rechten Zeit!“ – nur noch kalten Kaffee gab. Und wenn er zu spät zur Schule kam, machte er umso mehr Lärm, wenn er sich zu seinem Platz in der letzten Reihe durchdrängelte; mal wieder nichts verpasst, sagte er dann in der Pause, oder? Es hatte ja auch gereicht fürs Abi (mit Verspätung, klar). An der Universität gab es das berühmte „akademische Viertel“, und wenn man sowieso schon eine Viertelstunde später kommen sollte, konnte man eigentlich auch gleich eine halbe daraus machen. Wer damals zu einer Party pünktlich gekommen wäre, hätte auch gleich wieder gehen können – zwar wurden die Partys nicht direkt besser davon, dass die meisten Leute erst nach Mitternacht auftauchten, wenn das Essen kalt war und die Getränke warm, aber es war auf jeden Fall irre cool. Seine Freundinnen allerdings schätzten es weniger, wenn er zu wirklich jeder Verabredung entweder zu spät oder gar nicht erschien, so dass die durch mühsames Anstehen (der Freundinnen natürlich) ergatterten Konzertkarten verfielen oder im Kino mal wieder nur die erste Reihe und ein steifer Nacken blieben; von so manchem Abendessen mit einem liebevoll bereiteten Soufflé, das nach Paulis Ankunft eher ein Fladen war, oder Braten, die die Konsistenz von Schuhleder angenommen hatten, ganz zu schweigen. Es kam deshalb am Ende so, wie es seine Mutter immer gesagt hatte: Pauli musste die Freundin nehmen, die übrig blieb. Sie war selbst nicht besonders pünktlich, und nun ärgerte sich Pauli, wenn er allein vor dem Kino stand oder seine Spaghetti Bolognese – zu mehr reichten seine Kochkünste sowieso nicht – zu Matsch gekocht waren. Am meisten ärgerte er sich aber über das verpasste Bewerbungsgespräch. Eine läppische Stunde war er zu spät gewesen, und der Personalchef hatte ihn nicht einmal mehr empfangen, obwohl er sein bestes Hemd trug und die Schuhe geputzt hatte – deshalb hatte er sich natürlich auch verspätet, weil das Hemd erst noch gebügelt und die Schuhe geputzt werden mussten. Die Sekretärin hatte gegrinst, ganz ähnlich wie seine Mutter, und irgendetwas gemurmelt wie: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ Blöde Kuh, als ob das Leben aus Pünktlichkeit bestünde, hatte Pauli gedacht, wahrscheinlich verspätet sich sogar der Tod, wenn er mich abholen will. Das hatte sich als falsch herausgestellt. Als Pauli wenige Tage später auf die viel befahrene Straße vor seiner Wohnung trat, obwohl das Grün der Ampel schon sehr dunkelrot geworden war – er war natürlich wieder einmal zu spät unterwegs und hatte an ganz etwas anderes gedacht, es war aber nicht wichtig gewesen –, war der Bremsweg des LKW zu kurz, und der Fahrer musste pünktlich zum Ablieferungstermin kommen. „Pauli“, steht jetzt auf dem Grabstein, und: „Er kam zu spät und ist zu früh von uns gegangen“.
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Was ist falsch an Pünktlichkeit? Früher war Pünktlichkeit etwas ganz Anderes. In noch nicht auf Millisekunden getakteten, auf immer kleinere „Zeitfenster“ optimierenden, Zeit in Geld messenden Epochen sprach man allgemein von Pünktlichkeit, wenn etwas exakt, vorschrifts- und schulmäßig war: „pünktlich sein, die sorgfalt und genauigkeit“,so ist es im Wörterbuch der Gebrüder Grimm festgehalten, und erst nach einer ganzen Reihe von Beispielen über die „strengsten Regeln der Pünktlichkeit“ und die „größte logische Pünktlichkeit“ (Kant) hinweg kommt die zeitliche Bedeutung, au fdie wir das Wort heute größtenteils eingeschränkt haben. Eben dadurch aber ist es zu einer besonders kleinbürgerlichen Sekundärtugend verkommen, mit denen uhrenverliebte Pedanten ihren temporal liberaler gesinnten Zeitgenossen auf die Nerven gehen. Wäre es bis heute ein Synonym für Präzision geblieben, dafür, etwas auf den Punkt zu bringen, könnte es gar nicht zeitgemäßer sein. Im zeitlich eingeschränkten Sinne schätzen wir Pünktlichkeit heute aber nur noch bei Zügen – wo ihr Fehlen oft umso lauter von denjenigen beklagt wird, die in ihrem eigenen Alltag Pünktlichkeit naserümpfend als kleingeistig abtun. Insofern haben wir Pünktlichkeit offensichtlich an die Maschinen delegiert, die unser Leben erleichtern, uns aber auch immer mehr von ihnen abhängig werden lassen – von ihrer Pünktlichkeit ebenso wie ihrer Genauigkeit und Präzision.
Zudem variiert Pünktlichkeit kulturell bekanntlich sehr stark; Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang vom Unterschied zwischen „monochronen“ und „polychronen“ Zeitkulturen. In monochronen Kulturen, die zumeist hochindustrialisiert und auf Effizienz getrimmt sind, gibt es nur eine Normalzeit; absolute Pünktlichkeit wird im Arbeitsleben, relative auch privat erwartet, und ihr Fehlen wird sanktioniert. Polychrone Zeitkulturen hingegen, bezeichnenderweise meist in südlicheren, gemeinhin als lebensfroher bekannten Ländern angesiedelt, gehen großzügig mit der Zeit um, verabreden sich nicht auf die Minute und halten Fahrpläne oder Ladenöffnungszeiten eher für Vorschläge als für Vorschriften. Inzwischen hat diese suggestive Verbindung von Lebensfreude, Unbeschwertheit und Unpünktlichkeit aber zumindest mental auch auf die eher nördlichen Monochronien abgefärbt, wo es im privaten Bereich vielerorts geradezu als Fauxpas aufgenommen würde, zur rechten Zeit zu erscheinen – eine Tendenz, die durch die jederzeitige Erreichbarkeit noch gesteigert wird und dazu führt, dass Verabredungen häufig nur noch spontan, sozusagen von Telefonat zu Telefonat oder von SMS zu SMS geplant bzw. hin und her verschoben werden können: „Wir telefonieren dann noch mal!“ (und das im Drei-Minuten-Abstand wiederholt, bis man einander dann gegenübersteht, jeder das Handy am Ohr, im Anderen ein seltsames Spiegelbild seiner selbst erkennend).
Was ist sekundär an Pünktlichkeit? Durch ihren Geruch von Pedanterei, verbunden mit dem geringen geistigen Aufwand, den Pünktlichkeit eigentlich verursacht, ist sie die kleinbürgerliche Tugend schlechthin: Wer gar nichts kann, kann immer noch pünktlich sein und damit den Anderen auf den Nerven gehen, die schließlich wichtigeres zu tun haben, als einfach nur einfallslos und völlig unkreativ und unter allen Umständen überpünktlich zu sein. Sie ist darüber hinaus auch besonders moralisch indifferent: Pünktlich kann man zur eigenen Hinrichtung wie auch als Henker sein; pünktlich kann man zum Gottesdienst kommen, aber auch zu einem Bankraub. Was soll also verdienstvoll sein an einer Handlung, die nur eine Uhr – heutzutage auch gern: ein Smartphone –, zwei Augen im Kopf sowie die Kenntnis der jeweils kulturell vorherrschenden Stundenzählung erfordert,also rein technische Fähigkeiten und Werkzeuge?
Was ist zu retten an Pünktlichkeit? Aber vielleicht hat es doch mehr auf sich mit der Pünktlichkeit; hat sie doch zu tun mit einem unserer grundlegenden Erfahrungsmuster als Menschen schlechthin, mit dem, was für Immanuel Kant eine der „reinen Formen der Anschauung“ schlechthin ist, nämlich mit der Zeit. In der Natur haben alle Dinge ihre eigene Zeit; es gehört zu den frühesten Kulturleistungen der meisten Völker, durch Sternbeobachtung eine wiederkehrende Zeitstruktur zu entwickeln, mit dessen Hilfe die besten Zeitpunkte für Aussaat und Ernte bestimmt oder natürliche Gefahren wie wiederkehrende Fluten besser beherrscht werden konnten. Dafür brauchte man natürlich keine Pünktlichkeit im strengen Sinne, aber doch so etwas wie eine messbare Zeit, einen Kalender, der eine erste Einschränkung der persönlichen Willkür des Einzelnen darstellte. Pünktlichkeit ist dadurch, wie es Gottfried Keller einmal bemerkte, ganz natürlich mit der Ordnung verbunden: „Die Stellung der Sterne gehörte auch zu den wenigen Dingen, die ich während meines Müßigganges gemerkt, und da ich darin eine große Ordnung und Pünktlichkeit gefunden, so hatte sie mir immer wohlgefallen, und zwar umso mehr, als diese glänzenden Geschöpfe solche Pünktlichkeit nicht um Tagelohn und um eine Portion Kartoffelsuppe zu üben schienen, sondern damit nur taten, was sie nicht lassen konnten, wie zu ihrem Vergnügen, und dabei wohl bestanden“. Auch wenn die Orientierung an der Natur in intellektuellen Kreisen zumindest in den letzten zweihundert Jahren sehr stark aus der Mode gekommen ist – und es lohnt sich,einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken, warum eigentlich: Hat es nicht eine gewisse Logik der Macht, dass gerade Intellektuelle daran interessiert sind, ihre eigene Spezialkompetenz (den „Geist“) über alles andere zu stellen und damit die so unerfreulich ungeistige und für alle verfügbare Natur zu diffamieren? –, hat sie doch etwas Beruhigendes und Stabilisierendes. Und wer jemals versucht hat, sein eigenes natürliches Zeitgefühl nur etwas zu kultivieren, wird auch bald merken, dass er eigentlich gar keine technischen Hilfsmittel benötigt, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hat: Pünktlich können wir ganz von allein und als Naturwesen sein, und wie die Sterne sogar ganz zu unserem Vergnügen und ohne Aussicht auf Kartoffelsuppe!
Zudem ist die Pünktlichkeit, wenn auch auf einem kleinen Umweg, mit dem verbunden, was die alten Griechen den kairos nannten: den rechten Moment, die besondere Gelegenheit, die man nicht verpassen darf, weil sie sich vielleicht nie wieder bietet. Verbildlicht wurde sie im gleichnamigen Gott, dem Kairos – keiner Großgottheit,wie der alte Chronos als Hauptgott der Zeit, sondern eher einer der minderen Götter, sicherlich, aber doch verschwägert und eng verbunden mit Tyche, dem Zufall, und Nemesis, die den menschlichen Über- und Hochmut bestraft, also zwei sehr gefährlichen Göttinnen. Kairos war leicht zu erkennen an seiner eigenwilligen Haartracht: Auf der Stirn trug er eine Locke, die man ergreifen musste, wenn man ihn festhalten wollte, den Glücksmoment; am Hinterkopf aber war er kahl,und wenn man zu spät kam, konnte man die Gelegenheit – daher stammt auch unser Sprichwort – eben nicht mehr beim Schopf packen, sondern hatte sie verpasst. Natürlich bietet es andererseits auch keine Garantie auf Glück, wenn man Kairos und seiner Tolle mit der Uhr in der Hand ständig auflauert. Aber ein wenig auf der Hut sollte man schon sein, und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich – auch wenn das Zitat falsch überliefert ist, aber seine Verbreitung hat es umso mehr bewahrheitet – nicht nur Kairos, sondern auch das Leben.
Wer aber nicht an die Natur glauben mag, kann immerhin auf Pünktlichkeit als Voraussetzung von Zivilisierung setzen. Durch ihre alte Verbindung mit den Tugenden von Genauigkeit und Buchstabengetreue und zusammen mit ihrer engen Beziehung zur allgemeinen Verlässlichkeit bildet sie die Grundlage für Handel und Industrie, die bei aller Kritik am niederen Erwerbssinn gemeinhin als Motor des Fortschritts gesehen werden; und wer in Forschung und Wissenschaft, zumindest ihren „härteren“ Varianten, nicht pünktlich und verlässlich verfährt, braucht eigentlich gar nicht mehr aufzustehen und ins Labor zukommen. Warum aber soll eine Eigenschaft, die ihren Nutzen in so wichtigen Bereichen des Lebens und der Kultur bewiesen hat, ausgerechnet im Privaten auf einmal überflüssig, altmodisch und irgendwie anrüchig sein? Lästig ist sie, dann und wann, natürlich; und wer meint, dass er die unvermeidlichen Einschränkungen der persönlichen Freiheiten im „Prozeß der Zivilisation“ (Norbert Elias) – wie beispielsweise die Einschränkung von öffentlich vollzogenem Sexualverkehr oder das Essen mithilfe von dazu gedachten Werkzeugen und nicht mit bakterienverseuchten Händen – dadurch kompensieren muss, dass er sich wenigstens nicht dem Pünktlichkeitsterror der Pedanten unterwirft, mag versuchen, unpünktlich und glücklich zu sein; die Wahrscheinlichkeit und die heimliche Verschwörung der Sekundärtugenden untereinander (samt ihrer Verwandtschaft zu den primären) sprechen allerdings dagegen.
Am wichtigsten und moralisch am stichhaltigsten aber ist wohl, dass Pünktlichkeit eine sehr grundlegende Form von Respekt ist: Respekt nicht nur vor der Zeit als Naturkonstante oder Glücksbringer, sondern vor der Lebenszeit Anderer. Von dem französischen König Ludwig XVIII. ist der Aphorismus überliefert, Pünktlichkeit sei die Höflichkeit der Könige, und das bringt immerhin auf den Punkt, dass man sich wenigstens im Umgang mit der Zeitplanung anderer Personen möglichst demokratisch verhalten möge. Denn Unpünktlichkeit im sozialen Umgang ist, das weiß jeder, der lange genug in seinem Leben auf Andere gewartet hat, nichts anderes als verkappte Respektlosigkeit und gründet in Gedankenlosigkeit und Egozentrik. Die ersten fünf Minuten murmeln noch beruhigend: „Jetzt stell dich doch nicht so an, sind doch nur fünf Minuten“, die nächsten sagen, schon etwas lauter: „Was verpasst du schon?Gedulde dich halt ein bisschen“, bis einen die erste halbe Stunde anschreit: „Jetzt sieh doch endlich ein, dass ich wichtiger bin als du; ich habe offensichtlich Dringenderes zu tun, als auf meine Uhr zu schauen und mich zu beeilen, nur weil du wartest!“ Wenn sogar der Herrscher die Lebenszeit seiner Untertanen respektieren kann, sollte das in unserer aller demokratischem Alltag, trotz permanentem Stress und ewigem Zeitdruck, eigentlich nicht unmöglich sein, und schon gar nicht belanglos.
Schließlich ein letztes Argument für überzeugte Egozentriker, denen an der Achtung Anderer nicht viel liegt, aus welchen Gründen auch immer: Pünktlichkeit ist auch eine Form des Respekts vor der eigenen Lebenszeit. Keiner von uns lebt ewig, auch wenn man sich das nicht recht vorstellen kann; und wenn man eine begrenzte Lebenszeit hat, sollte man sinnvoll mit ihr umgehen, allein aus Selbstachtung. Das kann man modisch Zeitmanagement nennen, und wer mag, kann dafür sogar aus einer breiten Selbsthilfeliteratur wählen, aber die Sache ist eigentlich ganz einfach: Wer sich einmal angewöhnt hat, Dinge auf die lange Bank zu schieben, bei dem wird die Bank erfahrungsgemäß immer länger, bis sie sich schließlich unter der Last all der vielen kleinen, sorglos aufgeschobenen Dinge biegt und bricht. Gerade sehr vielbeschäftigte und deshalb auf pünktliche Nutzung der Zeit bedachte Zeitgenossen (erwerbstätige Mütter beispielsweise) machen oft die Erfahrung, dass sie sehr viel mehr fertig bekommen als diejenigen, die eigentlich alle Zeit der Welt haben und auch mit dieser so umgehen, als hätten sie sie wirklich: Produktivität entsteht häufiger aus der kreativen und konzentrierten Nutzung knapper Ressourcen, und nicht aus der unendlichen Freiheit der persönlichen Beliebigkeit und Willkür und der Philosophie des „Morgen ist auch noch ein Tag“.
Aber wie bei allen vermeintlichen Sekundärtugenden kommt es letztlich auf das rechte Maß an. Immanuel Kant gilt als einer der verrufensten Pedanten der Pünktlichkeit schlechthin – „es kann noch nicht sieben sein, Professor Kant ist noch nicht vorbeigegangen“, war eine fest stehende Redewendung in Königsberg; pünktlich um fünf Uhr stand der Philosoph nämlich auf, pünktlich um sieben Uhr ging er zu seiner Vorlesung an der Universität (über die Pünktlichkeit der Studenten ist hingegen nichts überliefert), pünktlich von neun bis ein Uhr arbeitete er an seinen Büchern, pünktlich um halb vier am Nachmittag ging er spazieren, immer die gleiche Strecke, pünktlich um zehn Uhr abends begab er sich zu Bette, allein, nach allem, was man weiß. Auch im Denken hielt er auf die größte Pünktlichkeit, im altehrwürdigen Sinn von Genauigkeit natürlich – aber in seiner Grundschrift zur Ästhetik, der Kritik der Urteilskraft, heißt es mit feiner Abwägung: „Als Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst dadurch, daß zwar alle Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das Produkt das werden kann,was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne Peinlichkeit, ohne daß die Schulform durchblickt, d.i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt habe“. Pünktlichkeit ohne Peinlichkeit – das wäre wohl eine gute Richtschnur nicht nur für die schöne Kunst, sondern auch für ein schöneres (Zusammen-)Leben.
Nennen wir ihn Friedolin. Friedolin war ein Einzelkind; niemals hatte er sich mit jemand um ein Spielzeugauto ge-stritten, nie musste er einem anderen etwas abgeben vom sowieso viel zu großen Kuchen, immer stand er und nur er allein im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er war noch dazu ein Wunschkind, das kam, als die Eltern eigentlich die Hoffnung schon aufgegeben hatten. Kein Wunder, dass sie ihn vor allen möglichen Gefahren behüteten, selbst wenn beim besten Willen keine in Sicht waren. Vor allem seine Mutter. „Pass auf“, schrie sie entsetzt auf dem Spielplatz, „du könntest ja schmutzig werden, fass den Sand lieber nicht an, wer weiß, was da alles drin ist!“ Oder etwas könnte zu anstrengend sein – „lass nur“, rief die Mutter, „das räum ich schon auf, da hast du noch mehr Spielzeug!“ Oder es könnte ihn überfordern – „ach was“, rief die Mutter, „da bist du doch noch viel zu klein für, es reicht, wenn du später in der Schule schwimmen lernst!“ In der Schule lernte er das Schwimmen dann auch nicht mehr. Aber er fand immer schnell jemand, der seine Mutter vertrat und ihm half, wenn es schwierig oder anstren¬gend wurde. Friedolin wusste, wie man auf eine bestimmte Art lächelte und große Augen machte – „ist er nicht süß?“, hatte seine Mutter dann immer gequiekt – und dass man notfalls auch „bitte“ sagen musste, mit einem etwas weinerlichen Unterton; das war das Einzige, was er als Kind wirklich gelernt hatte. Friedolin machte niemals Hausaufgaben in der Schule, er schrieb sie allenfalls in der Pause schnell ab, wenn er schon wusste, dass einer der Lehrer seinem Charme gegenüber unempfänglich war – meistens waren das die Männer, aber zum Glück gab es nur wenige von ihnen in der Grundschule. Im Gymnasium hatte er manchmal sogar Lehrer, die gewillt waren, seine völlige Untätigkeit als eine Art passiven Widerstand gegen ein „repressives Erziehungssystem“, wie sie es nannten, aufzufassen. Friedolin war das egal, Hauptsache, er musste keine Hausaufgaben machen. Ein Studium wäre ihm auch viel zu anstrengend gewesen, das erkannte er gleich, obwohl eine Karriere als Bummelstudent ihn einen flüchtigen Moment reizte. Ein Blick auf das Bibliotheksgebäude heilte ihn aber schnell. Also wurde er doch lieber Beamter; das sei der einzige Beruf, so sagte er – nur halb im Scherz – zu seiner Mutter, bei dem Faulheit eine Qualifikation sei und kein Hindernis. Die Ausbildung überstand er auf bewährte Weise: Noch wirkte der Charme, den er inzwischen sehr verfeinert hatte, und seine Freundinnen fanden ihn genauso süß wie früher seine Mutter, wenn er leichthin scherzte, Müßiggang sei zwar aller Laster Anfang, aber er sei in seiner Lasterhaftigkeit schon sehr fortgeschritten, und ob sie vielleicht einige Proben davon sehen wollten? Als er nach seiner Ausbildung ausgerechnet dem Arbeitsamt zugeteilt wurde, entwickelte er anfangs beinahe so etwas wie Arbeitseifer: Die Faulen erkannte er nämlich sofort, an ihrem Blick und ihrem etwas müden Charme, und es war ihm ein besonderes Vergnügen, sie von seinem gemütlichen Schreibtisch aus zu sinnlosen Fortbildungsmaßnahmen zu verdammen. Die meisten waren allerdings nur verzweifelt, und ihnen konnte Friedolin ebenso wenig helfen wie er es wollte. Allerdings war er inzwischen selbst etwas verzweifelt: Mit zunehmenden Alter wirkte seine Faulheit nicht mehr charmant, sondern verwahrlost, und das Grinsen war auch schon reichlich faltig geworden um die Mundwinkel. Deshalb holte er sich, dazu war kein großer Aufwand nötig, eine Frau aus Asien. Fleißig sollte sie sein, und fleißig war sie auch: Sie putzte fleißig, bekam fleißig kurz nacheinander zwei Kinder, lernte nebenher fleißig deutsch und machte dann fleißig Karriere bei einem internationalen Konzern, der ihre Strebsamkeit, ihre multikulturelle Erfahrung und ihre Sprachkenntnisse zu schätzen wusste. Friedolin hatte sie zu diesem Zeitpunkt schon verlassen, die Scheidung ging effizient über die Bühne, und sie hatte die Kinder mitgenommen. Das tat Friedolin überraschenderweise weh, aber der Streit um das Sorgerecht erschien ihm dann doch zu mühevoll. Eigentlich fand Friedolin jetzt alles zu anstrengend; zwar kam für die Wohnung eine Putzfrau, und im Amt hatten sich die Kollegen schon daran gewöhnt, seine Kunden mit zu betreuen. Aber niemand kaufte ihm neue Unterhosen mehr, kochte ihm dann und wann ein gesundes Essen oder schleppte ihn vor die Tür, und sei es nur zum Friseur oder zum Zigaretten kaufen. Als dann die stechenden Schmerzen in seiner Schulter und der Brust immer häufiger kamen, fiel ihm irgendwann ein, dass er wohl zum Arzt gehen müsste. Seine Mutter hatte ihn immer gezwungen regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, und seine Frau hatte später alle Termine für ihn ausgemacht, ihn hingefahren und sogar die Formulare für ihn ausgefüllt. Aber das alles wäre Friedolin nun endgültig zu anstrengend gewesen.
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Was ist falsch an Fleiß? Wahrscheinlich, dass er Arbeit macht. Viel Arbeit. Aber, so meint man leichthin, eben auch nur viel Arbeit, mechanische Arbeit, Arbeit um der Arbeit willen; Arbeit wie Hausarbeit beispielsweise, die „fleißige Hausfrau“ schwebt einem vor Augen, ausgerüstet mit Staubwedel, Putzeimer und Kopftuch – oder, in modernen Zeiten, mit Hochleistungs-Markenstaubsauger, Kärcher, Mikrofaser-Zauber-Putztüchern und einem schicken Designer-Kittel. Schaffe, schaffe, Häusle baue, so tönt es dazu monoton im Ohr – wer fleißig schafft, wird reich, wird bieder und kann am Ende nichts mehr anderes als immer nur schaffen, schaffen, schaffen. Schon Friedrich Nietzsche diagnostizierte sein eigenes Zeitalter als „das fleißigste aller Zeitalter“, das aber leider „aus seinem vielen Fleiße und Geld nichts zu machen“ wisse, als „immer wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiß“; es gehöre, so Nietzsche, „eben mehr Genie dazu, auszugeben, als zu erwerben!“ Dieses besondere Genie wurde in den seither vergangenen hundert Jahren zwar reichlich ausgebildet; die Aussicht, Geld auszugeben beflügelt offensichtlich auch noch den faulsten Zeitgenossen, und beim Shopping erlahmt der Fleiß nicht so schnell! Ob wir dadurch allerdings dem Nietzsche’schen „Übermenschen“ näher gekommen sind, steht stark zu bezweifeln.
Zudem wird Fleiß leicht mit angepasster Bravheit verwechselt; das mag in der Erinnerung der Älteren an die berühmt-berüchtigten Kopfnoten im Zeugnis – „Ordnung“, „Betragen“, „Aufmerksamkeit“ und natürlich „Fleiß“ – gründen: Wer fleißig seine Hefte führt und fleißig seine Hausaufgaben macht und fleißig für die Klausuren lernt, der wird schon ein ordentlich-langweiliger Streber sein, der davon lebt, es dem Lehrer und den Eltern und überhaupt jeder Autoritätsperson möglichst recht zu machen! Im Umkehrschluss ist dann Faulheit geradezu ein Akt politischen Widerstands und ein heroischer Ausweis moralischer Autonomie gegenüber pädagogischer Repression: Schließlich kommt es im Leben nicht darauf an, dass man seine Lektion gelernt hat, sondern dass man fähig ist zum kritischen Denken! Und Autoritäten sind dazu da, dass man sie in Frage stellt, hat uns das nicht die Geschichte gelehrt? Gibt es insofern nicht geradezu eine Pflicht zur Nicht-Kooperation durch Nicht-Fleiß, also: Faulheit?
Faulheit galt vor sehr langer Zeit einmal als eine veritable Todsünde, und das ist schon erstaunlich angesichts der inzwischen eingetretenen Umwertung der Werte, die den Fleiß erniedrigt und die Faulheit beinahe zu einer Tugend erhoben hat. Tatsächlich ging es aber bei der religiösen Verdammung der Faulheit nicht so sehr darum, ob man sein Zimmer aufgeräumt oder die Hausaufgaben gemacht oder den Müll ordnungsgemäß entsorgt hatte. Faulheit wirkte vielmehr fundamental korrumpierend auf den ganzen Menschen. Sie wurzelte in einer Trägheit des Herzens, einer Unempfindlichkeit, die ihren Träger nicht nur unfähig machte, zu handeln (und damit beispielsweise seinen religiösen Pflichten nachzukommen), sondern die ihn auch melancholisch und düster und damit unsozial, krank und lebensunfähig werden ließ. Der Melancholiker galt letztlich als dem Teufel verfallen, weil er gegenüber dem Reichtum von Gottes Schöpfung teilnahmslos blieb, weil ihn sein Glauben nicht zu einem besseren Menschen machte, weil er die Gnade Gottes damit verleugnete. Heutzutage nennen wir das mangelnde Motivation oder verminderten Antrieb und therapieren es: Die alte Melancholie ist die neue Depression, und es handelt sich dabei um ein ernstzunehmende Krankheit. In gemäßigter Form jedoch ist Faulheit heute nicht nur gesellschaftsfähig, sondern als Laissez-faire und entspannte Lebenshaltung zumindest in der Jugend geradezu geboten: erstmal ein bisschen chillen, und dann in Ruhe relaxen. Ist ja auch gesünder, gell, bei all dem Stress!
Was ist sekundär an Fleiß? Fleiß ist insofern eine besonders sekundäre Sekundärtugend, weil an ihm geradezu überdeutlich wird, dass er nicht nur keinerlei inhaltlichen Wert transportiert, sondern auch beliebig ausgebeutet werden kann: Der Inbegriff des Fleißes ist die Arbeitsbiene, die sich blind und instinktgetrieben für ihre Königin zu Tode schuftet. Nietzsche, der dem Fleiß als Untergebenen-Tugend ganz besonders feindlich gegenüberstand, analysierte bissig: „Man lobt den Fleißigen, ob er gleich die Sehkraft seiner Augen oder die Ursprünglichkeit und Frische seines Geistes mit diesem Fleiße schädigt“ – gerade weil er sich dem Nutzen der Gesellschaft aufopfert, ohne Rücksicht auf eigenen Vorteil, Gewinn oder auch nur im Blick auf seine Gesundheit. Und selbst Immanuel Kant, nun wirklich die philosophische Arbeitsbiene schlechthin, gab zu bedenken: „Geschicklichkeit und Fleiß im Arbeiten haben einen Marktpreis; Witz, lebhafte Einbildungskraft und Launen einen Affektationspreis; dagegen Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus Instinkt) haben einen innern Wert“. Auch hier wird dem Fleiß seine Nähe zur Ökonomie zum Verhängnis: Wer fleißig ist, sagt ja zur Arbeit, und zwar, so wird zumindest unterstellt: aus niederen wirtschaftlichen Motiven.
Zudem, so ein besonders originelles Argument, mache gerade die Faulheit besonders kreativ: Die größten und segensreichsten Erfindungen der Menschheit seien demnach nur dadurch entstanden, dass sich Faule (wir können sie auch gern „weniger Leistungsbereite“ nennen) die Arbeit leichter machen wollen – ergo Hochleistungs-Markenstaubsauger und Kärcher. Hat der Faule nämlich Genie – im Unterschied zur Arbeitsbiene –, erübrigt sich Fleiß vollständig, da ein Genie bekanntlich sowieso ohne Anstrengung, mühsames Lernen und aufopferungsvolles Üben all das zustande bringt, wozu der Fleißige lange Jahre mühsam schaffen, schaffen, schaffen muss und dabei noch seine Gesundheit ruiniert. Leider besteht jedoch begründeter Verdacht, dass etwas faul ist an der schönen Theorie vom arbeitsscheuen, aber erfinderischen Genie. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel, aber in der Regel gilt, auch für Wunderkinder und sonstige Hochbegabte (die eben nur ein bisschen weiter vorn starten und es leichter haben mit dem Fortschritt): Ohne Schweiß und Fleiß kein Preis! Hätte Mozart niemals Klavierspielen oder Notenschreiben gelernt, aus Faulheit, hätte er genial sein können bis zum Abwinken, und er wäre trotzdem und zu Recht vollständig vergessen! 626 Werke zählt das Köchel-Verzeichnis, darunter umfangreiche Symphonien und ganze Opern, und das in einem relativ kurzen Leben. Nein, Genies sind sehr selten faul, sondern tatsächlich eher das Gegenteil.
Was ist zu retten an Fleiß? Die moderne Abwertung des Fleißes zur besonders mechanischen Sekundärtugend geht zunächst wieder auf eine moderne Begriffsverengung zurück: Ursprünglich bezeichnete Fleiß Eigenschaften wie Zielstrebigkeit, Sorgfalt und Eifer (das ist in Ansätzen bewahrt in der Wendung: „etwas mit Fleiß tun“ im Sinne von absichtlich und besonders gezielt) – und wenn wir das zeitgemäß als „ergebnisorientiertes Handeln mit maximaler Effizienz“ reformulieren würden, hätte kein Management-Berater der Welt Probleme damit und es gäbe eine blühende Ratgeberliteratur zum Thema („Fleißig in zehn Schritten“; „Wie werde ich fleißig ohne Arbeit?“; „Der Preis des Fleißes“ usf.).
Wichtiger aber ist, dass es ohne Fleiß wohl keine Wissenschaft, kein Fortschritt und keine Zivilisation gäbe, so sehr auch die Faulen aller Zeiten vom Schlaraffenland träumen mögen, wo einem die gegrillten Würstchen in den Mund fliegen, der Alkohol in Strömen fließt und jeden Tag Endspiel der Fußball-WM im Public Viewing übertragen wird (spielen müssen ja zum Glück die Anderen ...). Da sind sich zumindest die Philosophen, egal welcher Zeit und welcher Geistesrichtung, einmal überraschend einig. Schon in Platons politeia ist Fleiß eine der wichtigsten Eigenschaften für den Politiker, spezieller noch: für das Staatsoberhaupt: Natürlich sei „auf gutes Gedächtnis, auf unverwüstlichen Fleiß und allseitige Arbeitslust zu sehen; oder glaubst du, daß jemand auf sonstige Weise neben den Anstrengungen des Körpers noch so vieles Lernen und Studieren fertigbringe?“ Ohne Anstrengung, so auch Montaigne, schafft nur Gott: „Gott ist seiner Natur nach gut; der Mensch aber durch seinen Fleiß; welches mehr ist“. Und David Hume, Empirist durch und durch, befindet: „Um die meisten Übel des menschlichen Lebens zu heilen, fordere ich nicht, daß der Mensch die Flügel des Adlers, die Schnelligkeit des Hirsches, die Stärke des Stiers, die Waffen des Löwen, die Haut des Krokodils oder Rhinozeros' habe, viel weniger verlange ich den Scharfsinn eines Engels oder Cherubims. Ich bin zufrieden einen Zuwachs an einer einzigen Kraft oder Fähigkeit seines Geistes zu erhalten. Er sei begabt mit einer größeren Neigung zu Fleiß und Arbeit, einer stärkeren Schnellkraft und Regsamkeit des Geistes, einem anhaltenderen Hang zu Geschäftigkeit und Tätigkeit“.
Müssen wir deshalb nun alle noch mehr zu emsigen Arbeitsbienen werden? Auffällig ist, dass das Lob des Fleißes, wie die Philosophen es singen, bestimmte Formen der Arbeitsamkeit propagiert: Es geht eben nicht um bienen-fleißiges Schaffen und Horten (zumindest nicht in erster Linie), sondern um „Lernen und Studieren“ (Platon) als Voraussetzung für verantwortliche Tätigkeiten in Staat und Gesellschaft; es geht um moralische Exzellenz (Montaigne); es geht um „Verbesserung von Kunst und Industrie“ ebenso wie um Pflichtbewusstsein und die „wohlgeordnetste Regierung“ (Hume). Während die Notwendigkeit einer gewissen Arbeitsdisziplin um des wissenschaftlichen Fortschritts oder der künstlerischen Perfektion vielleicht auch dem eher Denkfaulen einleuchtet, ist es aber wahrscheinlich gerade die Kopplung von Moralität und Fleiß nach dem „Kopfnoten“-Modell, die den Fleiß in der Moderne so umfassend diskreditiert hat: Warum eigentlich soll der Arbeitsame ein besserer Mensch sein als der Faule? Die Antwort auf diese Frage ist es offensichtlich, die den Fleiß aus seinem sekundären Status befreien könnte; mit ihr steht und fällt sein Schicksal in der Moderne.
Nun: Die Notwendigkeit einer moralischen Orientierung des Menschen einmal zugestanden – und wenn man dazu nicht bereit ist, muss man auch nicht über Primärtugenden verhandeln: Ist es möglich, aus einer Haltung der Faulheit, der Trägheit oder auch nur des indifferenten Gewährenlassens moralisch gut zu handeln? Offensichtlich nicht, denn man handelt ja nicht, wenn man faul ist; die Welt durch Faulheit zu verbessern, könnte insofern nur im zynischen Sinne des „Wer nicht handelt, macht wenigstens keine Fehler“ begründet werden. Und allein gut zu denken und das Gute theoretisch zu wollen, ohne aus diesem Bedürfnis heraus tätig zu werden, wäre schon ethisch sehr sparsam gedacht. Nein, der moralische Wert der Tätigkeit an sich, den die Philosophen so gern betonen, besteht eben darin, dass nur derjenige, der tatsächlich handelt, in der Lage ist, seine moralischen Überzeugungen durch Erfahrungen auszubilden, in der Realität zu erproben und seine Fehler dadurch zu korrigieren – und damit, sagen wir es ruhig: ein besserer Mensch zu werden und für eine bessere Welt zu arbeiten; natürlich immer mit dem Risiko, dass beides scheitert, aber ohne Scheitern gäbe es genauso wenig eine Moralität wie ohne Handeln.
Leichter wird das dadurch, dass Tätigkeit ein selbstverstärkender Prozess ist: Wer einmal angefangen hat, fleißig zu sein, dem fällt es auf die Dauer auch immer leichter. Das gleiche gilt leider auch für die Faulheit. Das demonstriert am besten der Roman Oblomow (1847-1869) von Iwan Gontscharow. In immerhin drei Bänden – was für einen ziemlich fleißigen Autor spricht – erzählt er die Geschichte eines reichen, gebildeten Russen des 19. Jahrhunderts, der die Faulheit zu seiner Lebensform gemacht hat (im Wesentlichen: aus Faulheit). Er ruiniert dabei nicht nur sein Vermögen und seine Beziehungen, sondern auch seine Gesundheit und seinen Geist; als er am Ende durch einen Schlaganfall dahingerafft wird, bedauert der Erzähler: „Er ist um nichts zugrunde gegangen“. Ein verlorenes und dabei noch nicht einmal genossenes Leben – wäre Oblomow, selbst als emsige fremd-bestimmte Arbeitsbiene, nicht vielleicht doch, am Ende, ein wenig glücklicher gewesen, wenn er wenigstens „etwas“ anstelle von „nichts“ hinterlassen hätte, sei es auch noch so klein und unbedeutend oder vielleicht sogar falsch? Die gleiche Erfahrung bringt der Text eines modernen Popsongs von Eric Burdon and the Animals eingängig zum Ausdruck: „When I think of all the good times that I've wasted having good times!“ – noch nicht einmal eine substantielle Erinnerung wird einem bleiben von der diffus mit Chillen und Relaxen vertanen Zeit, in der man es sich doch so gut gehen lassen wollte!
Die heute so verbreitete Überschätzung des Werts des Nichtstuns speist sich nämlich daraus, dass man Faulheit mit Muße verwechselt, Chillen mit Entspannung und Trägheit mit Coolness. Natürlich muss auch die Arbeitsbiene zwischendurch Pause machen, jedenfalls wenn sie ein Mensch ist und nicht durch „unbedingte Tätigkeit bankrott“ werden will, wie schon der späte Goethe (im Übrigen ein Inbegriff des Fleißes und unbestritten eines der größten Genies deutscher Sprache) weise befand. Und natürlich sind gerade Dinge wie künstlerische Perfektion, wissenschaftliche Innovation oder philosophische Erkenntnis auf Muße angewiesen. Aber nur im Wechsel von Tätigkeit und Untätigkeit, Anspannung und Entspannung entwickelt sich menschliche Erkenntnis und Produktivität, welcher Art auch immer. Und nur durch aktive Teilnahme am Leben entwickeln sich soziale sowie moralische Beziehungen unter Menschen, und wahrscheinlich eher nicht durch passive Teilnahme an sozialen Netzwerken im virtuellen Trödelraum. Im Schlaraffenland mögen einem die gebratenen Würste in den Mund fliegen – aber wie lustig das am dritten Tag noch ist, selbst bei hundert verschiedenen Senfsorten, mag sich jeder selbst vorstellen! Die Hölle und das Paradies liegen hier wahrscheinlich ziemlich dicht beieinander; dazwischen aber liegt das menschliche Leben, das – mit Fleiß und dann und wann auch ein wenig Faulheit – gelebt werden will.
Nennen wir sie Caro . Eigentlich hieß sie Caroline, aber das war ihrer Mutter schon bald zu kompliziert und zu lang. Ihre Mutter schätzte es, wenn die Dinge einfach waren; sie hatte schon so genug damit zu tun, den Überblick zu behalten. Immer war etwas verschwunden in ihrem Haushalt, aber meist wurde das mit einem lachenden: „das Genie beherrscht das Chaos!“ abgetan. Leider war niemand in ihrer Familie ein Genie, und das Chaos herrschte in ihrem Alltag ziemlich unumschränkt. Aber Caro kannte es nicht anders. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, ihr Kinderzimmer aufzuräumen – wozu auch, es war danach gleich wieder unordentlich, und wenn man etwas nicht fand, dann kaufte man es halt neu; billig natürlich, denn irgendwie verschwand das Geld im Haushalt auf die gleiche Art und Weise wie die Schnullis und die Puppenkleider und die besonders bösartigen Socken, von immer nur eine zu finden war. Schon in der Grundschule war Caro dafür berühmt, dass sie immer etwas vergessen hatte, mal den Malkasten, mal die Sportschuhe, meist die Bücher, eigentlich immer die Hausarbeiten. Die meisten Sachen waren aber gar nicht verschwunden, sie konnte sie nur nicht rechtzeitig finden, und nachdem sie das dritte Buch aus der Stadtbücherei verloren hatten und Ersatz beschaffen mussten, gaben sie das Lesen auch auf – scheißbürgerliche Pedanterie, murmelte die Mutter, als wäre Ordnung das halbe Leben! Eine Zeit lang hatten sie sich alle zusammengerissen, damals, als das Chaos zuhause so schlimm wurde, dass sie sich von den schon etwas grünlich schimmernden Chicken Wings im Kühlschrank eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatten. Aber bald war alles wieder wie vorher, sie aßen jetzt eben häufiger auswärts, in irgendeinem Schnellrestaurant, die Tische waren wie zuhause leicht klebrig. Doch auch in der Schule wurde es immer schwieriger, allein mit dem berühmten Spruch durchzukommen. Gerade Fächer, die eine gewisse Ordnung im Denken erforderten, fielen Caro schwer, sie konnte ihre Gedanken ebenso wenig beisammen halten wie ihre Schulhefte, und immer fehlte am Ende eine Socke, sozusagen. Nach der Schule zog sie bald in eine Wohngemeinschaft, wo sie auf jede Menge Gleichgesinnte traf – Andersgesinnte zogen meist nach einer Woche wieder aus, nachdem sie gemerkt hatten, dass sie allein das Klo putzen und das Geschirr spülen mussten; die vielen Katzen machten es auch nicht gerade einfacher mit der Hygiene. Da ihr nichts Besseres eingefallen war, wurde Caro Grundschullehrerin; sie hatte die Zeit eigentlich in ganz guter Erinnerung, das Leben war noch einfach gewesen, und es gab einen Stundenplan, an dem man sich entlang hangeln konnte. Aber sogar die Schulkinder merkten schnell, dass sie mit Caro machen konnten, was sie wollten – vor allem, wenn sie wieder mal die Hausaufgaben vergaß oder die Klassenarbeiten verlegt hatte (hatten sie sich vielleicht zwischen den einzelnen Socken versteckt, in einem parallelen Universum)? In ihrer Wohnung gab es inzwischen einige Zimmer, die man nicht mehr recht betreten konnte. Es kam der Tag, an dem Caro selbst zugeben musste, dass sie kein Genie mehr war, sondern ein „Messie“ – immerhin, ein Krankheitsbild, und niemand konnte etwas für eine Krankheit, oder? Außerdem hatte sie es doch nie anders gelernt. Einige Zeit hatte sie einen Lebensgefährten gehabt, er war genauso unordentlich gewesen wie sie (alle Anderen waren nach dem ersten Blick auf das Schlafzimmer entflohen). Aber er hatte eine Katzenallergie, und eigentlich war sie ganz froh, als er weg war, es hatte sich nämlich herausgestellt, dass beide Unordnung an Anderen auf den Tod nicht leiden konnten (überall lagen seine Socken rum, widerlich!). Der Schulleiter schickte sie dann zu einer Therapie, aber das klappte auch nicht: Immer verlegte sie die Terminzettel, und eigentlich wollte sie auch gar nicht dorthin; das Büro des Therapeuten war so aufgeräumt, gerade ausgerichtet die Fotos der Kinder, an den Wänden in sauberen Winkeln seine Zertifikate, und sogar die Blätter der Grünpflanzen schienen aus reiner Bosheit symmetrisch angeordnet und glänzten ganz unnatürlich. Die Welt selbst war kein ordentlicher Platz, fand Caro, was man jeden Tag sehen konnte, wenn man den Fernseher anstellte (er war, komischerweise, immer zu finden, die Programmzeitschrift hingegen nie, aber irgendwann war jedes Programm recht). Und war die Natur nicht am allerunordentlichsten, überall Unkraut und nirgends Blumen? Ihr Grab war schlicht am Ende, so hatte sie es gewollt; eine einfache Steinplatte, weder Platz für Unkraut noch für Blumen. Wenigstens im Tode sollte Ordnung herrschen.
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Was ist falsch an Ordnung? Vor allem ihre Zwanghaftigkeit. Ordnung soll herrschen – die Sprache verrät es schon; am besten „Ruhe und Ordnung“, oder, noch schlimmer, „Zucht und Ordnung“! Diese unglückliche Zusammenstellung, eine Lieblingsfloskel im Nationalsozialismus (der beides durchaus wörtlich meinte), hat einer sowieso schon ungeliebten Tugend den Rest gegeben und sie ins „Wörterbuch des Unmenschen“ verbannt: als Synonym für autoritären Machtmissbrauch und Hierarchiehörigkeit, für Unterwerfung unter die Regeln eines rigiden Systems, seien es die des Militärs, der Kirche oder anderer „Ordnungsmächte“. Sogar in der Biologie herrscht die Ordnung autoritär – beispielsweise in Form der „Hackordnung“: Auf dem Hühnerhof steht das Alpha-Huhn ganz oben auf der Hühnerleiter, und das arme Omega-Huhn, ganz unten auf der letzten Stufe, hat wenig zu picken; das gleiche gilt für bei Menschen gemeinhin wenig beliebte Arten wie Wespen oder Wölfe. Evolutionsbiologen behaupten zwar, das erleichtere das soziale Zusammenleben ungemein, da nicht jeder Körner-Konflikt einzeln ausgehackt werden müsse, und stelle dadurch einen starken evolutionären Vorteil dar – aber ist das nicht wieder einmal biologistisch vereinfacht, und haben wir Menschen es nicht weiter gebracht? (außer in der Politik, natürlich).
Zudem ist Ordnung langweilig, und das betrifft nicht nur ihre Herstellung. Wenn alles schön ordentlich ist, so viele selbst ernannte „Kreative“, ist jede Phantasie zum Tode verurteilt; die stupide Regel hat gesiegt, die ermüdende Symmetrie, das ewige Gleichmaß. Die Kreativität jedoch sei eine Tochter des Chaos, ihre Mutter sei die unendliche Phantasie, und sie selbst ein unartiges Kind, das gegen jegliche Ordnungen und Regeln verstoße, aber gerade dadurch das Neue hervorbringe. „Das Genie beherrscht das Chaos“ ist deshalb ein Favorit unter den Bürosprüchen; er gedeiht vor allem in dem etwas staubigen Mikroklima zwischen Aktenstapeln, schmutzigen Kaffeebechern und verdorrten Grünpflanzen, bleibt aber meist der einzige Ausdruck von Originalität seines Besitzers.
Was ist sekundär an Ordnung? Am Anfang war das Chaos, nicht die Ordnung – so sagen jedenfalls die Bibel („die Erde war wüst und leer“) und die meisten anderen religiösen oder mythologischen Welterklärungsgeschichten. Das Chaos ist der Ursprung der Dinge, es ist primär schon im zeitlichen Wortsinn. Die Ordnung kam erst nachträglich hinterher gehinkt; und sie ist ein vergeblicher Versuch, das ursprüngliche Chaos zu domestizieren, das sich immer wieder Bahn bricht. Unsere allzu menschlichen Versuche, allenthalben Ordnung zu schaffen, sind nur das Eingeständnis unserer Unfähigkeit, mit dem freien, ungezähmten Chaos umzugehen; wir ersetzen es durch Sortiermechanismen und erkünstelte Begründungszusammenhänge, nennen das jämmerliche Mäntelchen über dem schönen wilden Chaos dann „Ordnung“ und verlangen, das selbige „herrschen“ möge. Ordnung ist insofern von sich aus weder ethisch verdienstvoll noch ästhetisch anspruchsvoll; sie ist das nachträgliche Ergebnis eines disziplinarischen Aktes von grauen Ordnungsmächten und verdirbt die freie Entwicklung der Persönlichkeit. Zuviel Ordnung, der berühmte „Ordnungswahn“, führt letztendlich sogar zur Krankheitsdiagnose eines „Ordnungszwangs“: Überall müssen ordentliche Symmetrien und Muster hergestellt werden, jedes Buch steht auf der gleichen Linie im Regal, die Abstände der Teller auf dem gedeckten Tisch werden mit dem Lineal abgemessen, und ein herumliegendes Taschentuch löst eine Panikattacke aus. Die Welt ist nur noch erträglich, wenn sie vollständig geordnet ist, wenn jedes Deckelchen seinen Topf findet und jede Socke ihre Sockenschublade. Ist es da nicht sogar gesünder, von Anfang an beide Augen fest zuzudrücken und dem Chaos seinen unvermeidlichen Lauf zu lassen?
Was ist zu retten an Ordnung? Tatsächlich jedoch bestand die erste Aktion des christlichen Gottes – und so ziemlich aller seiner andersreligiösen Verwandten – darin, Ordnung aus dem Chaos zu machen; er schuf, in ordentlicher Reihenfolge, zunächst das Licht aus der Finsternis, dann Land und Meer, dann Tiere und Pflanzen, und schließlich, als Krone der Schöpfung und Abbild seiner selbst, den Menschen (in zweifacher Ausfertigung, nämlich zweigeschlechtlich geordnet). Deshalb ist für sehr lange Zeit auch die Vorstellung jeglicher menschlicher Schöpfung unbedingt positiv besetzt gewesen: Wer als Mensch die Welt ordnete, sei es als Wissenschaftler, Künstler oder Gesetzgeber, betätigte sich als würdiger Nachfolger seines Erfinders, des größten Ordnungsschöpfers von allem. Und eben deshalb ist es auch ein altehrwürdiges Ziel aller metaphysischen Ver-suche des Menschen gewesen, der „Ordnung der Dinge“ auf die Spur zu kommen: Sie galt geradezu als Signum der Wahrheit. Schon der römische Stoiker auf dem Thron, Mark Aurel, sinnierte: „Entweder es ist Alles ein Gebräu des Zufalls, Verflechtung und Zerstreuung, oder es giebt eine Einheit, eine Ordnung, eine Vorsehung. Nehm' ich das Erstere an, wie kann ich wünschen in diesem planlosen Gemisch, in dieser allgemeinen Verwirrung zu bleiben? was könnte mir dann lieber sein, als so bald wie möglich Erde zu werden? Denn die Auflösung wartete meiner, was ich auch anfinge. Ist aber das Andere, so bin ich mit Ehrfurcht erfüllt und heiteren Sinnes, dem Herrscher des Alls vertrauend“. Daraus ergab sich für Mark Aurel gleichzeitig das ethische Gebot, auch eine angemessene „Lebensordnung“ zu finden: „Wir müssen in unser Leben Ordnung und Planmässigkeit bringen, und jede unserer Handlungen muss ihren bestimmten Zweck haben. Wenn sie den erreicht, ist es gut; und eigentlich kann sie Niemand daran hindern.“ In einem göttlich geordneten Universum kann nicht einzig der Mensch ein unordentliches, willkürliches, chaotisches Leben führen und Entscheidungen – und zwar vor allem: moralische, also eigentlich menschliche! – dem Zufall überlassen.
Ist man jedoch nicht oder nicht mehr gewillt, an einen ordnenden Schöpfer zu glauben und dementsprechend auch moralische Lebensordnungen auszubilden, kann man wenigstens an seine Stelle die Natur als universalen Ordnungszusammenhang setzen. Deshalb ist die Redeweise von der „Ordnung der Natur“ in Philosophie und Wissenschaft beinahe gleich wichtig wie die von der „Ordnung der Dinge“ in der Religion. Natur ist, seit Aristoteles, dadurch definiert, dass in ihr Dinge unter Ordnungsgesetzen existieren: „Allein nichts ist ungeordnet von dem, was von Natur oder naturgemäß ist. Denn die Natur ist Allem Ursache der Ordnung. Das Unbegrenzte nun steht zu dem Unbegrenzten in keinem Verhältniß. Alle Ordnung aber ist ein Verhältniß“. Die Geschichte der Naturwissenschaften lässt sich als die Entwicklung immer komplizierterer Ordnungssysteme beschreiben, die versuchen, aus dem Chaos, das uns umgibt, Gesetzlichkeit zu destillieren. Das geschieht, indem die Dinge, wie Aristoteles ausführt, in ein Verhältnis zueinander gebracht werden: Das kann eine Ordnung des zeitlichen Nacheinander sein (Chronologie), oder eine von Ursache und Wirkung (Kausalität) oder von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit (Analogie). Hat man das richtige Verhältnis jedoch gefunden, ergeben die geordneten Dinge auf einmal einen Sinn; sie verhalten sich einer Regel gemäß und werden dadurch zuverlässig prognostizierbar und reproduzierbar. Der Erfolg der technischen Moderne ist in erster Linie auf die Herstellung von Ordnungen be-gründet – eine Leistung, die jeder Chaos-Fan gern bemäkeln darf, der bereit ist, auf Antibiotika oder sein Auto zu verzichten, um weiter für sich im Chaos zu wursteln.
Die meisten Ordnungen sind zudem, das haben schon die frühesten Ästhetiker erkannt, schön: Wir sehen gern geordnete Dinge, wir empfinden Freude und Genuss angesichts einer harmonisch-wohlklingenden Komposition, wir stimmen einem strukturierten Gedankengang gern zu, wir hören eine Geschichte lieber, wenn sie uns einen Handlungszusammenhang erkennen lässt. Die göttliche Schöpfung als Inbegriff einer nicht nur sinnvollen und gesetzlichen, sondern auch schönen Ordnung war zunächst auch das Vorbild der ästhetischen Ordnung. Das demonstrierte sozusagen am vollständigsten ein Hamburger Dichter namens Barthold Hin¬rich Brockes mit seinem neun dicke Bände umfassenden Irdischen Vergnügen in Gott (1721-1748) – Gedichten auf insgesamt 5.500 Seiten, die in unendlichen Variationen die Schönheit der göttlichen Schöpfungsordnung priesen, die Brockes eben nicht nur in den Sternen oder den Jahreszeiten oder einem blühenden Kirschbaum, sondern auch im niederen Wurm oder einem profanen Kürbis verkörpert fand:
Bewund're doch, mein Hertz, die Ordnung der Natur,
In diesem Kürbs-Gewächs', aufs neu'!
Erwege, daß nicht nur
Die Zierlichkeit, nein, mehr hie zu bewundern sey!
Damit dieß Rancken-Werck von wegen seiner Schwäche
So bald nicht breche,
Wächst eine kleine Hand mit dreyen Fingern dran,
Wodurch sie hie und da sich halten kann.
Ach, lasst uns doch, wenn wir dergleichen sehn,
Den, Der dieß alles macht, den weisen Gott, erhöhn.
Kunst ist deshalb für die Zeitgenossen von Brockes sogar allgemein als die Herstellung von Einheit in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen definiert – sprich: das Schaffen von Ordnung aus dem Chaos –, jedoch ohne starre Regelhaftigkeit. Die Ordnung des Kunstwerks ist nie eine allgemeine, auf den Begriff zu bringende, sondern immer eine individuelle. Sie besteht nur für dieses eine Kunstwerk als Ensemble ästhetisch geordneter Einzelelemente, sei es nun eine harmonische Abfolge von Tönen, eine nuancenreiche Anordnung von Farben und Formen oder ein Gebilde aus geordneten Wörtern und Sätzen. Kunst gibt, so eine etwas spätere Definition von Immanuel Kant, „viel zu denken“: eben weil wir die individuelle Ordnung des Kunstwerks nicht auf den ersten Blick erkennen, sondern ihr auf die Spur kommen müssen – aber dann umso mehr ästhetische Befriedigung empfinden, wenn wir sie erkannt haben und verstehen, warum genau diese Ordnung in diesem Kunstwerk nötig und richtig ist. Selbst für die meisten Spielarten der avantgardistischen Künste in der Moderne gilt, wenn auch in eingeschränktem Maße: keine Kunst ohne Ordnung – und wenn ein dadaistisches Gedicht durch die Aneinanderreihung bedeutungsloser Silben auf den ersten Blick alle konventionelle Ordnung verleugnet, folgt es auf dem zweiten doch einer Ästhetik des Klangs, die sich in Ordnungsbegriffe bringen lässt; ebenso wie ein abstraktes Gemälde beispielsweise von Wassily Kandinsky geradezu in reine Form geronnene geometrische Ordnungsvorstellungen darstellt.
Warum aber finden Menschen Ordnung eigentlich schön? Eine sehr pragmatische Erklärung gab schon der Philosoph Baruch Spinoza: Zwar sei letztlich nicht erweislich, ob es Gott bei der Erschaffung der Welt um die Herstellung von Ordnung gegangen sei (was verstehen wir schon von Gott?); aber unsere Redeweise von der göttlichen Ordnung der Natur zeige zumindest: „Und weil uns das, was wir leicht vorstellen können, angenehmer ist als anderes, darum ziehen die Menschen die Ordnung der Verwirrung vor, als ob die Ordnung, auch abgesehen von unserer Vorstellung, etwas in der Natur wäre“. Ordnung lässt sich schlicht einfacher denken; es spart nämlich tatsächlich Energie, sich die Dinge geordnet vorzustellen, Regeln und Zusammenhänge zu erkennen, Verhältnisse und Ähnlichkeiten herzustellen, anstelle sich jedes Mal mit einem Chaos undurchsichtiger Phänomene konfrontiert zu sehen. Geordnete Dinge lassen sich leichter verstehen, leichter merken und leichter wiedererkennen. Ob wir dieses mentale Erfolgserlebnis dann als Freude oder als ästhetischen Genuss erleben, mag angesichts der Gegenstände variieren; aber es ist auf jeden Fall eine positive Bestätigung.
Schließlich ist Ordnung, gerade heute, überlebenswichtig. Der Soziologe Niklas Luhmann hat die „Reduktion von Komplexität“ als Zauberformel in allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens beschrieben: Wir alle sind von der Vielfalt und Undurchdringlichkeit der Verhältnisse in der globalisierten Welt überfordert (wenn auch einige mehr und andere weniger); vieles haben wir deshalb an Computer delegiert, an ebenfalls hochkomplexe Ordnungsmaschinen, die wir nun selbst kaum noch verstehen können. Es ist aber ein gefährlicher Trugschluss, sich deshalb kompensatorisch im privaten Leben in massive Ordnungsverweigerung zu stürzen und ein eigentlich „Menschliches“ gerade daraus abzuleiten, dass man letztlich nicht mehr in der Lage ist, die Dinge unter Kontrolle zu behalten. „Zucht und Ordnung“ will zwar wirklich niemand mehr, mit guten Gründen. Aber letztlich ging es unter dieser Formel immer nur um die Vereinfachung der Verhältnisse (hier die Guten, dort die Bösen), niemals aber um eine verantwortbare „Reduktion von Komplexität“, die Ordnungen versuchsweise herstellt, mit begrenztem Geltungsanspruch in begrenzten Bereichen, diese aber nicht verabsolutiert – sei es in der Wissenschaft oder der Kunst oder der Politik oder auch „nur“ im eigenen Leben. Ja, das Genie beherrscht das Chaos wirklich – aber nur, indem es Ordnung schafft!
Nennen wir ihn Hugo. Seine Eltern hatten von klein auf viel von ihm erwartet, vor allem sein Vater. Er hatte selbst große Pläne in seinem Leben gehabt; immer waren da ein neues Projekt, eine spektakuläre und noch nie da gewesene Geschäftsidee, die endlich den großen Erfolg bringen würden. „Frisch gewagt ist halb gewonnen“, das war sein Lieblingsspruch. Aber alles war irgendwie steckengeblieben, wie das Haus, in dem sie wohnten, mit seinem halben Swimmingpool (er war ungefliest, die Mutter benutzte ihn später als eine Art Vorratskeller für ihre Kartoffeln), einer verrottenden Minigolfanlage und den Überbleibseln diverser Gartenbauprojekte. Das gleiche war mit ihrer Erziehung passiert. So gut und so früh wie nur möglich sollten sie gefördert werden, er und seine Schwestern, am besten sollten sie zweisprachig aufwachsen, aber der Vater sprach selbst nur mühsam englisch und gab das Gestammel bald auf. Und natürlich sollten sie ein Instrument lernen. Mit der Geige hatte Hugo angefangen, aber das Gequietsche ging bald allen auf die Nerven; bei der Gitarre rissen ständig die Saiten, und als schließlich auch das Klavier mal wieder verstimmt und kein Geld da war für den Klavierstimmer, verstaubte es friedlich neben Geige und Gitarre. Er hatte Tennisunterricht bekommen, danach kam Hockey, dann Judo, danach Fußball; ein ganzer Raum im Keller war voller defekter Sportgeräte, aber auch sportlich hatte man mehr gewagt als gewonnen. Große Reisen waren ihnen als Kinder versprochen worden, aber meist kamen sie im Urlaub dann doch wieder nur an den Baggersee; nicht nur, weil das Geld häufig nicht reichte (es war gerade wieder ein vielversprechendes Projekt in Angriff genommen werden), sondern weil die Eltern es einfach vergessen hatten, einen Urlaub rechtzeitig zu buchen; oder es verschoben hatten, auf morgen, auf übermorgen, auf nimmermehr. So kam es, dass auch Hugo später gern Dinge versprach, die er nicht halten konnte. Aber war es denn nicht wichtiger, dass man große Pläne hatte, Träume, Ideen? Hugo hatte immer die verrücktesten Ideen von allen, aber meist scheiterten sie an den unvermeidlichen Schwierigkeiten ihrer praktischen Umsetzung, und er konnte noch froh sein, dass sein bester Freund ihn rettete. Der war eher langweilig und blass, ideenlos halt, ein wenig langsam auch, aber ein zuverlässiger Helfer in der Not. Hugo war nicht unbegabt, im Gegenteil; viele seiner Ideen waren wirklich gut, er konnte sich auch anfangs intensiv mit einer Sache beschäftigen, aber nur solange sie neu und interessant war – „frisch gewagt ist halb gewonnen“, aber die zweiten Hälften blieben immer liegen, unvollendet, eine Ruine, wie der halbe Swimmingpool, in dem die Kartoffeln austrieben. Später hielt es Hugo nie lange auf einer Stelle. Die Personalabteilungen stellten ihn gern ein, wie er so frisch und begeistert und ideenreich daherkam, aber seine Kollegen erkannten schnell, dass auf ihn wenig Verlass war, wenn es darum ging, Termine einzuhalten, Durchhaltevermögen zu zeigen oder mit begrenzten Ressourcen zu wirtschaften. Man trennte sich bald wieder voneinander, und Hugo bekam ein höfliches Zeugnis, in dem meist der Satz stand: „zeigte viel Engagement und Initiative“; von den Ergebnissen seiner Arbeit war weniger die Rede. Auch seine Ehen (vier waren es insgesamt) hielten nicht besonders lang, obwohl sie mit großem Enthusiasmus und den heißesten Liebesschwüren für alle Ewigkeit begonnen hatten. Hugo betrachtete auch seine Ehefrauen als eine Art Projekt, ohne selbst allzu viel in die kontinuierliche Beziehungspflege zu investieren, und wenn es schwierig wurde (und welche Ehe wurde nicht, früher oder später, schwierig?), machte er sich lieber schnell aus dem Staub. Kinder sammelten sich an wie früher die defekten Sportgeräte, aber irgendwann verlor Hugo dann den Kontakt zu ihnen; die Ex-Ehefrauen schätzten es auch nicht, dass sie den Kindesunterhalt meist gerichtlich eintreiben lassen mussten. Überhaupt, das Geld – Geld hat man, um es auszugeben, das hatte sein Vater immer gesagt, das ist wahres Unternehmertum; und wenn man kein Geld hatte, dann lieh man sich eben welches, davon lebten die Banken schließlich, ja eigentlich das ganze Wirtschaftssystem! Auch Hugo lieh sich gern Geld. Er sprach davon, als sei es eine besondere Ehre für seine Freunde, ihn bei seinen genialen Unternehmungen zu unterstützen; aber irgendwann wuchsen ihm die Schulden mitsamt den Unterhaltszahlungen einfach über den Kopf. Auf einem kleinen Grundstück, das er einmal gekauft hatte, um dort veganen Wein anzubauen, stand jetzt sein halber Swimmingpool. Er hatte ihn sogar zur Hälfte gefliest, immerhin, aber am Ende war ihm doch die Lust vergangen, und der Handwerker hatte ihn auch im Stich gelassen (dabei hätte er die aufgelaufenen Rechnungen sicherlich in den nächsten Tagen bezahlt!). Auf niemand konnte man sich mehr verlassen, dachte Hugo. Sein Vater allerdings war am Ende doch noch erfolgreich gewesen; seine Suchmaschine für Katzenvideos im Internet war ein Riesenerfolg gewesen, und er hatte Hugo einen Berg Geld hinterlassen. Aber Hugo war erschöpft. Ihm waren die Ideen ausgegangen wie die Freunde. Sollte er jetzt auf seine alten Tage gar noch bieder werden, sich eine Villa kaufen und noch einmal eine junge Frau und Staatsanleihen und festverzinsliche Wertpapiere? Irgendwann verschwand er einfach. Er hinterließ mehrere Halbwaisen, einen halben Swimmingpool, eine Gitarre mit zersprungenen Saiten und einen zerbrochenen Hockey-Schläger. Keiner sollte auf ihn rechnen können, niemals.
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Was ist falsch an Zuverlässigkeit? Es gibt sie gar nicht. Zuverlässigkeit spiegelt Stabilität und Verlässlichkeit vor in einer Welt, in der sich immer rasantere Veränderungen vollziehen und die Werte wie Mobilität, Flexibilität und die am besten tägliche Neuerfindung der eigenen Persönlichkeit ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat (die sowieso jeden Tag neu sortiert wird). Wer meint zuverlässig sein zu können, hat nur noch nicht verstanden, dass er einer altmodischen Illusion aufgesessen ist, die ihn in der schönen neuen Welt multipler Identitäten und kurzfristiger Zweckbündnisse zum Dinosaurier macht: Wer will schon morgen noch der gleiche sein wie heute, wenn man auf Facebook jeden Tag ein neues Profil einstellen kann? Man muss sich ja nicht einmal mehr endgültig entscheiden, ob man Mann oder Frau ist; wer heute noch ein braver Angestellter war, kann morgen ein aufstrebender Unternehmer sein, wer vorgestern noch eine Familie versorgte, hat übermorgen einen neuen Lebensabschnittspartner, wer seit Ewigkeiten eine bürgerliche Partei wählte, wählt nun spontan Pirat oder Protest! Wir lernen lebenslang und wechseln unsere Berufe im gleichen Rhythmus wie unsere Smartphones; wir fliegen von New York nach Tokio, von Kapstadt nach Anchorage – und das einzige, von dem wir dabei Zuverlässigkeit erwarten, sind die Flugpläne und das Flugpersonal (aber wehe, wenn einmal ein unzuverlässiger Vulkan dazwischenkommt!).
Noch grundlegender ist der in letzter Zeit mit guten Gründen von den Neurowissenschaften erhobene Einwand, dass Zuverlässigkeit und Zurechenbarkeit schon aufgrund unserer Konstitution als Mensch einfach nicht möglich sind: Wir sind ein Spielball unserer Hormone und Gehirnströme, ein mit Bewusstsein ausgestattetes Chamäleon, das sich in jeder Situation und Umwelt evolutionär anpasst und neu ausrichtet; wo soll da Raum für so etwas wie einen zuverlässigen und gleich-bleibenden Charakter oder auch nur ein verlässliches Handeln im Blick auf wechselseitige Beziehungen, gesellschaftliche Abhängigkeiten oder finanzielle Pflichten sein? Das „Ich“ ist noch nie der Herr im eigenen Haus gewesen, was immer die alten Philosophen und die neueren Psychologen dazu gesagt haben mögen. Wo aber kein „Ich“ als Träger ist, da kann auch keine Festigkeit, keine Zuverlässigkeit festgemacht werden, und das einzig Zuverlässige im Leben ist, am Ende, der Tod.
Zudem wirkt die Zuverlässigkeit unscheinbar, schon als Wort. Vage ist sie verbunden mit ähnlich blassen Tugenden wie Pflichtbewusstsein, Treue, Vertrauen oder Ehrlichkeit; aber sie bleibt seltsam inhaltlos, zudem schwer skalierbar: Kann man ein bisschen zuverlässig sein, oder ist das wie ein bisschen schwanger? Ihr Gegenteil hingegen, die Unzuverlässigkeit, kommt mit einem charmanten Augenzwinkern daher, das verspricht: Ist doch alles nur Spaß, regt euch doch nicht auf, seid keine Spielverderber, die Welt wird davon schon nicht untergehen, nach uns die Sintflut! Zuverlässigkeit gilt demgegenüber, wie alle Sekundärtugenden, als bieder, langweilig, spießig und ein Zeichen von Einfallslosigkeit und Passivität; sie schließt die spontane Kreativität aus, das unkalkulierbare Risiko, die Freude am Unerwarteten und Unberechenbaren, auf das man eben nicht bauen kann wie auf einen Bausparvertrag mit zuverlässiger Ratenzahlung.
Was ist sekundär an Zuverlässigkeit? Wahrscheinlich, dass sie – wie der Tod, das Einzige, auf das wir uns wirklich verlassen können, ist: unvorstellbar und deshalb leer und außerdem nicht besonders lustig, sobald man anfängt, darüber wirklich nachzudenken. Wie alle anderen Sekundärtugenden ist die Zuverlässigkeit zunächst ein rein formales Attribut von Menschen oder Handlungen oder Einrichtungen und als solches unabhängig von ihrem Inhalt. Man kann genauso gut zuverlässig seine Freizeit-Drogen einnehmen wie seine Medikamente, man kann zuverlässig jeden Tag eine bestimmte Anzahl Menschen bestehlen oder eine gute Tat begehen, man kann zuverlässig lügen oder zuverlässig die Wahrheit sagen.
Zudem macht Zuverlässigkeit besonders berechenbar: Zahlt zuverlässig eure Steuern, befolgt zuverlässig die Straßenverkehrsordnung, und der Rest wird sich schon fügen! Besonders deutlich wird das im juristischen Begriffsgebrauch: Zuverlässigkeit gilt als „unbestimmter Rechtsbegriff“, der dort einschlägig wird, wo es um die charakterliche Eignung von Personen für verantwortungsvolle Tätigkeiten geht: also beispielsweise beim Waffenbesitz, aber ebenso in allen Varianten der Fahrgastbeförderung (ebenso wenig wie unzuverlässige Flugkapitäne möchten die meisten von uns unzuverlässige Taxi- oder Busfahrer), in der Gastronomie und anderen hygienisch kritischen Bereichen, und vor allem natürlich im Kreditwesen: Bei Geld hört der Spaß bekanntlich wirklich auf. Deshalb gibt es hier sogar Kriterien, die als Indiz für eine schwerwiegende Unzuverlässigkeit gelten, wie beispielsweise die Neigung zu spekulativen Geschäften, krankhafte Störungen wie Alkoholismus oder das Vorliegen früherer Vermögensdelikte. Als Garant der juristischen, ökonomischen und charakterlichen Zuverlässigkeit hingegen gilt der „gute“, früher auch „unbescholtene“ „Ruf“, der aber schon von Friedrich Nietzsche recht zwiespältig betrachtet wurde: „Der feste Ruf war ehedem eine Sache der äußersten Nützlichkeit; und wo nur immer die Gesellschaft noch vom Herden-Instinkte beherrscht wird, ist es auch jetzt noch für jeden einzelnen am zweckmäßigsten, seinen Charakter und seine Beschäftigung als unveränderlich zu geben – selbst wenn sie es im Grunde nicht sind. 'Man kann sich auf ihn verlassen, er bleibt sich gleich' – das ist in allen gefährlichen Lagen der Gesellschaft das Lob, welches am meisten zu bedeuten hat. Die Gesellschaft fühlt mit Genugtuung, ein zuverlässiges, jederzeit bereites Werkzeug in der Tugend dieses, in dem Ehrgeize jenes, in dem Nachdenken und der Leidenschaft des dritten zu haben – sie ehrt diese Werkzeug-Natur, dies Sich-Treubleiben, diese Unwandelbarkeit in Ansichten, Bestrebungen und selbst in Untugenden, mit ihren höchsten Ehren“. Aber wer will heutzutage schon ein williges Werkzeug sein?
Was ist zu retten an der Zuverlässigkeit? Etymologisch ist das Wort auf „Zuverlass“ im Sinne von Zuflucht zu-rückzuführen, was den durchaus auch emotionalen Aspekt der Sicherheit, der Vertrauenswürdigkeit, des Schutzes betont: Wo ein Mensch, eine Erkenntnis oder eine Einrichtung zuverlässig sind, müssen wir uns nicht vor Überraschungen oder Enttäuschungen fürchten; wir können uns auf sie stützen, auf sie zählen, auf sie rechnen. Da sich jedes menschliche Leben auf diesem Planeten, sogar virtuelles Nomadentum, wohl oder übel innerhalb von sozialen und gesellschaftlichen, zudem häufig gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnissen vollzieht, ist es überlebenswichtig, diese Abhängigkeiten fair und ausgewogen zu gestalten – und dazu gehört in einem gewissen Maße auch, sie auf Dauer zu stellen und nicht jeden Tag neu auszuhandeln. Das ist jedem klar, wenn es beispielsweise um juristische Verträge im engeren Sinne geht: pacta sunt servanda ist eine der wichtigsten Grundformeln unseres Rechtssystems. Das gleiche gilt für finanzielle Verbindlichkeiten. Georg Simmel erläuterte in seiner Philosophie des Geldes: „Der Kredit ist eine durch reale Leistungen erzeugte Idee der Zuverlässigkeit“; und ohne diese Überzeugung würde wohl niemand einem Anderen jemals Geld leihen. Der biedere homo oeconomicus hat also offenbar in einigen Punkten eine höhere moralische Integrität als der postmoderne Weltbürger mit seiner Patchworkidentität!
Aber auch unser privates und soziales Leben ist notwendig in solche vertragsähnlichen Abhängigkeitsverhältnisse eingebettet. Als Familie verpflichten wir uns, für die schwächeren Mitglieder – Kinder und alte Menschen – Sorge zu tragen; als Ehepartner verpflichten wir uns, den anderen „in guten und in schlechten Zeiten“ zu unterstützen; als Freunde fühlen wir uns freiwillig für das Wohlergehen des Freundes verantwortlich, und das nicht nur aus Erwägungen des kurzfristigen Nutzens. Natürlich werden allenthalben und jederzeit Ehen geschieden, Kinder und alte Menschen vernachlässigt, Freunde verraten und verlassen, aber – bei aller moralischer Toleranz und allem Recht zum Irrtum oder zur persönlichen Entscheidungsfreiheit: Das macht die Welt nicht unbedingt besser! Wer bei genauer Untersuchung nicht wenigstens genug Keime zur Zuverlässigkeit in seinem Charakter findet, um eine kontinuierliche Versorgung und Erziehung von Kindern (von der unentbehrlichen konstanten emotionalen Grundversorgung ganz zu schweigen) sicherstellen zu können, der sollte von dem Vorhaben doch lieber Abstand nehmen, auch wenn es seine persönliche Freiheit zur Reproduktion einschränken mag. Kinder sind kein Selbstverwirklichungsprojekt auf Probe und mit dreimonatiger Kündigung bei Unzufriedenheit; sie brauchen, wie alle schwächeren Mitglieder unserer Gesellschaft, Schutz und Unterstützung, und das nicht nach Lust und Laune und wenn es die Karriere gerade zulässt, sondern vor allem eines: zuverlässig.
Zuverlässigkeit ist zudem nicht nur bei moralisch eher indifferenten Dingen wie der Personenbeförderung und der Kreditwirtschaft von hoher praktischer Bedeutung, sondern ganz besonders in Wissenschaft und Forschung. Wenn man Wissenschaft als Gemeinschaftsunternehmen der Menschheit zur Verbesserung ihrer Lebensumstände und zum Verständnis des Universums betrachtet, dann muss sichergestellt werden, dass die Fundamente dieses Gemeinschaftsunternehmens möglichst zuverlässig gegründet sind: Wenn Versuchsdaten nicht verlässlich sind, Berechnungen nicht überprüft, Theorien nicht immer und immer wieder befragt und verbessert werden, brechen Brücken zusammen, richten Medikamente mehr Schaden an als Nutzen, bleibt das Universum un- oder, schlimmer noch: falsch verstanden.
Allerdings wissen wir spätestens seit den antiken Skeptikern, dass unsere Sinne nicht immer zuverlässige Daten liefern, dass wir ebenso leicht die Opfer von Sinnestäuschungen wie von politischen oder psychologischen Manipulatoren werden, dass unsere Wahrnehmung geleitet wird von Vorurteilen und Ideologien und unsere Erkenntnis gewöhnlich nichts weniger als objektiv ist. Schon die allgemeinste Alltagserfahrung zeigt, dass, wenn drei Personen über den gleichen Sachverhalt als Augenzeugen zeitnah berichten, es völlig unmöglich ist, die „Wahrheit“ festzustellen; und die Zuverlässigkeit geschichtlicher Überlieferung schließlich scheint sich über die Jahrhunderte hinweg in eben der Art und Weise zu verflüchtigen wie jeder beliebige Satz beim bekannten Kinderspiel „Stille Post“. Wahrheit in der Wissenschaft, zuverlässige Erkenntnis – ist das nicht das gleiche Phantom wie die Idee eines festen und konstanten Charakters?
Gleichwohl hat die Menschheit die Suche nach eben dieser flüchtigen "Wahrheit" nicht aufgegeben, und das mit guten Gründen und weil sie wahrscheinlich gar nicht anders kann. Schon für Aristoteles gewährt das „Wahrheitsstreben eine Befriedigung von wunderbarer Rein-heit und Zuverlässigkeit“; und auch für Cicero steht fest: Man liebt „die Wahrheit überall, d.h. das Zuverlässige, Ein-fache und Feste, und hasst das Eitle, Falsche und Trügerische“. Rein, zuverlässig, einfach, fest: Die Wahrheit flößt uns Vertrauen ist, sie gibt uns Zuflucht, gerade und weil wir uns selbst als schwankende und veränderliche Wesen empfinden und unser Ich von der Standfestigkeit einer schlecht befestigten Wetterfahne ist. Selbst wenn man also mit den antiken Skeptikern davon überzeugt ist, dass Menschen prinzipiell und per se keine sichere Erkenntnis, von was auch immer, haben können, kann man doch daran arbeiten, immer größere Grade von Wahrscheinlichkeit zumindest dort zu erreichen, wo es konkrete Nachprüfungsmöglichkeiten gibt – also beispielsweise bei empirischen Messungen und Versuchen oder bei mathematischen Gleichungen. Schon Goethe, der den modernen Naturwissenschaften gerade ihrer Technologie- und Gerätegläubigkeit wegen misstraute, brachte das auf die Formel der „tätigen Skepsis: welche unablässig bemüht ist, sich selbst zu überwinden, um durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter Zuverlässigkeit zu gelangen“.
Am schwierigsten ist es aber mit der Rechtfertigung der sogenannten Charakterfestigkeit, des von Nietzsche so gescholtenen und tatsächlich vielfach missbrauchten „guten Rufs“, mit der persönlichen Zuverlässigkeit vor allem in moralischen Handlungen also. In der traditionellen Ethik führt nur ein zuverlässiger Charakter, der seine moralischen Pflichten klar erkennt und sich ihrer jederzeit bewusst ist und sie zum alleinigen Maßstab seines Handelns macht, zur höchsten Form der Glückseligkeit: „Denn das ist ausgemacht: wenn wir uns nach dem Wandel der Geschicke richten, so werden wir einen und denselben Menschen wiederholt glücklich und nachher wieder elend nennen, und damit aus dem Glücklichen eine Art von Chamäleon oder ein Bild auf tönernen Füßen machen. Oder ist es nicht vielmehr völlig unstatthaft, sein Urteil nach dem Wandel der Geschicke einzurichten? Liegt doch das Wohl oder Wehe eines Menschen gar nicht in diesen: sondern wenn auch das menschliche Leben ihrer zwar bedarf, wie wir ausgeführt haben, so bleibt doch das Entscheidende die Handlungsweise, für die Eudämonie die der edlen Gesinnung, und für das Gegenteil die der entgegengesetzten Gesinnung entsprechende. Für unsere Auffassung nun zeugt auch das eben erörterte Bedenken. Denn nichts in den menschlichen Dingen besitzt eine solche Zuverlässigkeit wie die Äußerungen des sittlichen Charakters; man darf sie für noch dauerhafter halten als selbst die Erkenntnisse.“ Das Argument von Aristoteles ist länglich, aber relativ klar: Unser Leben wird bestimmt von unendlich vielen äußeren Einflüssen und Geschehnissen, auf die wir keinen Einfluss haben; unser sinnliches und materielles Glück oder Unglück liegen nicht jederzeit in unserer Hand. Was wir jedoch beeinflussen können (selbst bei allen modernen Vorbehalten: in Maßen, das lehrt auch der Siegeszug der Verhaltenstherapie und des positiven Denkens), ist unser eigenes Inneres. Gelingt es uns, dort feste moralische Überzeugungen auszuprägen – die Aristoteles für sicherer und dauerhafter hält als rein theoretische Erkenntnisse! –, haben wir den Schlüssel zu unserem Glück (was für die antike Philosophie im Übrigen ein weit umfassenderer Begriff war, der eher im Sinne von „gelungenem Leben“ zu verstehen ist) in unserer eigenen Hand; wir haben etwas in uns, was uns dem Wandel der Zeiten und der äußeren Glücks- und Unglücksumstände gegenüber Halt gibt, und sei es nur den einer solide befestigten Wetterfahne auf einem fest gegründeten Turm, die trotzdem von den Stürmen ins Wanken gebracht werden kann.
Das mag allzu heroisch und naiv klingen und ist zudem leichter zu schreiben als in einer seit Aristoteles unendlich unübersichtlicher gewordenen Welt in praktisches Handeln umzusetzen. Zudem sind die neurowissenschaftlichen und skeptischen Bedenken gegenüber der reinen Möglichkeit einer solchen individuellen Kontinuität als persönliche Identität damit nicht erledigt. Auf der anderen Seite aber könnte Zuverlässigkeit, als eine Art ethisches Postulat im Sinne Kants, durchaus lernbar sein, nach dem Motto: Selbst wenn es keine unbedingte Zuverlässigkeit gibt, sei es nun im öffentlichen Personennahverkehr oder im Charakter, so gibt es trotzdem gute Gründe so zu tun, als ob (bzw. gründlich darüber nachzudenken, was folgen würde, wenn man diese Annahme nicht machen würde)! Zumal die Zuverlässigkeit in enger Verbindung zu anderen anerkannt wichtigen Tugenden steht, darunter die Fähigkeit zum Vertrauen und der Treue sich selbst und anderen gegenüber; und man sollte besser überlegen, ob man eines ohne die anderen haben kann. Ein mögliches Etappenziel könnte dabei auch im Blick auf den Charakter durchaus die von Goethe ins Spiel gebrachte „bedingte Zuverlässigkeit“ sein: ein guter Vorsatz, ein guter Wille, eine kontinuierliche Übung.
Insgesamt ist damit gerade die Zuverlässigkeit in einer Welt, in der nichts mehr unerschütterlich und gleichbleibend scheint, umso unentbehrlicher. Der bis ins späte Alter für sein unbefangenes Weltvertrauen bekannte Goethe sinnierte in einem Brief an seine Liebste, Charlotte von Stein, deshalb: „Wir wollen uns lieb und wert behalten, meine Beste. Denn des Lumpigen ist zu viel auf der Welt, und wenig zuverlässig, obgleich dem Gescheiten alles zuverlässig sein sollte, wenn er nur einmal Stein für Stein und Stroh für Stroh nimmt. Es ist aber nichts schwerer als die Sachen zu nehmen für das was sie sind.“ Auch das wäre eine mögliche Maxime für die bedingte Zuverlässigkeit: Die Sachen (und damit auch: die Menschen) für das nehmen, was sie sind – also nicht für das, was sie sein wollen und auf Facebook posten; einfach für das, was sie sind, unabhängig von persönlichem Wunschdenken, politisch korrekter Sprache (der kollektiven Form von Wunschdenken), ideologischer Propaganda und medialem Hype. Das ist für den Anfang schwer genug.
Nennen wir sie Lisa. Eigentlich heißt sie Elisabeth, aber das kam ihr immer zu pompös vor. Trotzdem hat ihr Name ihr Leben bestimmt, und zwar seitdem sie von ihrer Oma ein Heiligen-Bilderbuch zu ihrem dritten Geburtstag bekam. Dort stand die Geschichte von der Heiligen Elisabeth, die eigentlich eine reiche Landgräfin in Thüringen war, aber auf all ihren Reichtum verzichtet hatte, um die Armen zu speisen und die Kranken zu pflegen. Lisa verteilte wenig später alle ihre Puppenkleider an ihre Freundinnen; sie behielt nur eine ganze einfache Puppe, mit einem roten Samtmantel, die sie an das Bild von Elisabeth erinnerte und die nun die kranken Teddybären versorgte. Auch später in der Schule teilte Lisa gern, und nicht nur ihre Pausenbrote; aber als sie ihre teuren Designer-Turnschuhe an ein türkisches Mädchen verschenkte, wurde es ihrer Mutter wirklich zu viel. Lisa kam aus einem wohlhabenden Haushalt; der Vater war Chefarzt in einer großen Klinik, die Mutter war früher Krankenschwester gewesen. Nun engagierte sie sich zwar viel für wohltätige Zwecke, aber für ihre eigene und einzige Tochter wollte sie nur das Beste. Immer wieder sagte sie das, und Lisa solle einmal etwas machen aus ihrem Leben. Oft zitierte sie auch einen ziemlich schrägen Spruch: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr!“ Die Oma schüttelte dann missbilligend den Kopf; Lisa jedoch versteckte ihr liebes altes Heiligenbuch und las weiter Geschichten über Mutter Teresa, über Gandhi und über den Heiligen Franz von Assisi. Sie überlegte einige Zeit, ob sie nicht fromm werden sollte. Aber in der Jugend-Bibelstunde stritt sie sich immer wieder mit dem schon etwas älteren Gemeindepfarrer; nein, das mit den Vögeln und den Lilien auf dem Felde könne man doch nicht wörtlich nehmen, wo kämen wir denn da hin, sagte er, und sie dachte: Die Heilige Elisabeth hat es aber wörtlich genommen. Nach ihrer Schulzeit machte sie erst einmal ein soziales Jahr; es fiel ihr nur schwer zu entscheiden, wo sie sich bewerben sollte, denn überall war so viel Hilfe nötig. Sie ging schließlich einfach in ein Alten- und Pflegeheim in der Nachbarschaft; ihre Oma war inzwischen gestorben, und Lisa hatte gesehen, wie schwer es alte Menschen haben, wenn alles um sie herum nur um Geld geht und darum, die Arbeit möglichst schnell zu erledigen. Danach machte sie, trotz der Empörung der Mutter, eine Ausbildung als Krankenschwester; sie wollte ins Ausland, und sie wollte wirklich dort helfen können, wo es am Nötigsten war. In den langen Jahren ihrer Auslandseinsätze sah sie unglaubliches Elend und unvorstellbare Not; sie arbeitete bis zur Erschöpfung, und ihr Zusammenbruch war nur eine Frage der Zeit. Als sie sich wieder etwas erholt hatte, sagte ihr der Therapeut immer wieder, sie müsse etwas für sich tun; sie habe zu lange ihr Leben für andere aufgeopfert. Der Gedanke war ihr fremd. Für sie war es niemals ein Opfer, sondern eben ihr Leben gewesen. Auch ihre Eltern waren inzwischen gestorben und hatten ihr genug Geld hinterlassen, um komfortabel alt zu werden. Sie spendete die Hälfte und gewöhnte sich langsam daran, ein wenig spazieren zu gehen, einfach so, durch den Park (auch wenn sie aus einem alten Reflex heraus immer etwas für die Tauben und die Enten dabei hatte); oder in ein Museum zu gehen (irgendjemand musste doch auch in die Museen gehen, sonst würden sie auch noch geschlossen, und wieder stünden Menschen auf der Straße). Ja, sie aß sogar in Restaurants, nichts Schickes natürlich, sondern in einfachen, wo man an einem kleinen Tisch in einer dunkleren Ecke für sich sitzen konnte, ohne angestarrt zu werden, und wo man der gestressten Kellnerin ein gutes Trinkgeld geben konnte und ein freundliches Wort (sonst machte es doch keiner). Sie lebte zwar allein, aber sie sprach viel mit Menschen, vor allem denjenigen, die einem nicht immer ins Wort fielen und die ganze Zeit nur „Ich, Ich, Ich“ sagten. Dass sie keine Kinder hatte, machte sie traurig; aber sie betreute vernachlässigte Kinder, las ihnen vor, manchmal auch aus ihrem alten Heiligenbuch, und ging mit ihnen ins Museum. Vor allem jedoch wollte sie ihnen vermitteln: Man kann heutzutage wirklich stolz darauf sein, bescheiden zu sein. Man muss nicht alles haben wollen. Mit ein bisschen Bescheidenheit kommt man weiter, als man denkt – und noch weiter kommen wollte sie persönlich sowieso nicht. Als sie stirbt, denkt sie nicht darüber nach, ob es eine andere, bessere Welt gibt, wo sie den Lohn für ihre Bescheidenheit erhält. Der Himmel hat sie noch nie besonders interessiert, und kurz bevor sie für immer einschläft, fährt ihr ein Gedanke durch den Kopf, bei dem sie lächeln muss: Wahrscheinlich träfe man sogar an der Himmelspforte noch diejenigen, die sich immer vordrängeln und für die nur das Allerbeste gut genug ist. Das Zweitbeste war eigentlich wirklich gut genug für mich, war ihr letzter Gedanke.
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Was ist falsch an Bescheidenheit? „Nur die Lumpen sind bescheiden“, hat Goethe befunden, und Goethe war tatsächlich, bei all seinen sonstigen Tugenden und Vorzügen, nicht direkt ein Meister der Bescheidenheit (er hatte aber auch keinen Grund dazu). Der zweite Teil des Zitats wird im Übrigen meist verschwiegen, es geht aber weiter: „Brave freuen sich der Tat“. Goethes Kritik richtet sich also vor allem gegen diejenigen, die deshalb keine Verdienste haben, weil sie nichts Lobenswertes vollbringen, ja vielleicht gar nichts tun (was Goethe am meisten verhasst war). Für all diese ist es natürlich eine erstklassige Strategie, unterschiedslos von allen und jedem Bescheidenheit einzufordern und damit jeden Vergleich und jede Bewertung von vornherein zu unterbinden. Warum soll man also nicht Gutes tun und davon sprechen, und zwar möglichst laut, damit auch jeder es hört in dieser Welt des allgemeinen Geschreis? Was ist damit gewonnen, sein Licht unter einen Scheffel zu stellen? Bescheidenheit ist entweder unangebracht – falls man nämlich wirklich etwas geleistet hat; oder sie ist schein-heilig – falls man nur verbergen will, dass man nichts leisten kann oder will.
Zudem ist die Bescheidenheit einer noch mehr aus der Mode gekommenen Sekundärtugend, der Demut nämlich, gefährlich verwandt. Demut ist sozusagen die religiöse Variante der Bescheidenheit. Die meisten Religionen verlangten einstmals von ihren Anhängern bedingungslose und uneingeschränkte Demut vor Gott, vor seiner Größe, seiner Allmacht, die für den Menschen so unvorstellbar und gänzlich unbegreiflich sind, dass es eben nur eine angemessene Haltung für ihn gibt: bedingungslose Unterwerfung. Nicht umsonst haben Gebetshaltungen etwas von den Demutsgebärden der Tiere: Wer niederkniet und den Kopf senkt oder sich gar vollständig zu Boden wirft, bringt zum Ausdruck, dass er sich ergeben in das schickt, was an höherer Stelle über ihn verfügt wird – der demütige Gläubige macht sich klein vor Gott, er wagt es nicht einmal, den Blick zu ihm empor zu heben. Unnötig zu sagen, dass eine solche Haltung, sowohl physisch als auch metaphysisch, in der Moderne mit ihrer Heiligsprechung des Individuums und dem Gebot zur grenzenlosen Selbstverwirklichung nicht nur obsolet geworden ist, sondern sogar als entwürdigend empfunden wird: Lieber stellen wir uns auf ein Podest, als dass wir freiwillig die Knie vor irgendjemand beugen!
Zum dritten gilt Bescheidenheit als klassisch weibliche Tugend, verkörpert in der stillen Gestalt des „Mauerblümchens“, das bescheiden in Felsspalten existiert und sich nicht, wie die majestätische Rose oder die intensiv duftende Lilie, in den Vordergrund drängt. Das hatte gute geschlechterpolitische Gründe auf beiden Seiten – wo Männer herrschen, müssen Frauen gehorchen, und dann macht man es ihnen besser schmackhaft; und wenn man schon aus rein physischen oder legalen oder sonstigen ideologischen Gründen als Frau keine andere Wahl hatte, als sich dem Machtdiktat der Männer zu unterwerfen, machte man selbst besser eine Tugend daraus. Auch das ist in vollständig emanzipierten Zeiten natürlich nicht mehr denkbar: Die emanzipierte Frau ist eine Power-Frau, und Karriere macht sie in immer noch recht männerdominierten Zonen am besten damit, dass sie genau diese Kombination von Weiblichkeit und Machtbewusstsein betont: Größer machen, am besten mit High Heels, den Blick energisch nach oben gerichtet. Wer vergibt schon Quoten für Mauerblümchen?
Was ist sekundär an Bescheidenheit? Dass sie klein macht, und das ist nur bei Gartenzwergen eine eindeutig gute Sache. Wie so viele Sekundärtugenden scheint Bescheidenheit sogar den Primärtugenden im Weg zu stehen: Als Scheinheiligkeit im obigen Sinn ist sie die Rache der Menge am „großen Mann“. Heinrich Heine hat das unvergleichlich auf den Punkt gebracht: „Ihr könnt euch darauf verlassen, die Bescheidenheit der Leute hat immer ihre guten Gründe. Der liebe Gott hat gewöhnlich die Ausübung der Bescheidenheit und ähnlicher Tugenden den Seinen sehr erleichtert. Es ist z.B. leicht, daß man seinen Feinden verzeiht, wenn man zufällig nicht so viel Geist besitzt, um ihnen schaden zu können, so wie es auch leicht ist, keine Weiber zu verführen, wenn man mit einer allzu schäbigen Nase gesegnet ist“. Bescheidenheit entsteht also aus der Missgunst und dem Ressentiment derjenigen mit dem kleineren Verstand und der hässlicheren Nase gegenüber denen mit dem größeren Verstand und der schöneren Nase – was ja noch verzeihlich wäre. Aber sie unterdrückt damit gleichzeitig das Streben nach einem größeren Verstand oder einem attraktiveren Äußeren, nach Verdienst, nach Leistung schon in der Wurzel: Was hat man von all der Mühe und Arbeit, wenn man sich danach noch nicht einmal selbst loben darf oder ein wenig stolz auf sich sein? Bleiben wir doch lieber alle gleich und bescheiden und fallen nicht auf!
Immerhin jedoch, und das unterscheidet die Bescheidenheit von noch sekundäreren – nämlich inhaltlich füllungsfreien und moralisch indifferenten – Tugenden wie Pünktlichkeit oder Sauberkeit, wird kaum jemand so weit gehen und die Bescheidenheit in Bausch und Bogen verdammen. Bescheidenheit kann nie ganz schlecht sein, noch nicht einmal beim vom Goethe gescholtenen „Lumpen“. Es ist wohl auch für ihre Kritiker unbestreitbar, dass die Bescheidenheit einen unzerstörbaren moralischen Kern hat, selbst wenn er sich häufig unter einer Schale aus Scheinheiligkeit und Ressentiment versteckt. Nach allem, was wir über den Menschen aus gut zweitausend Jahren Wissenschaft, Philosophie und Geschichte wissen, ist er nämlich nichts weniger als ein vollkommenes Wesen. Es steht ihm insofern wohl an, seine Grenzen zu erkennen und sein Handeln daran zu orientieren, dass er selbst wie seine Mitmenschen eben – nicht perfekt ist und es auch niemals sein kann. Die Maxime „Irren ist menschlich“ ist zwar allzu häufig nur eine wohlfeile Ausflucht dafür, sich gar nicht erst anstrengen zu müssen, aber wer immer sie für sich in Anspruch nimmt, sagt gleichzeitig wenigstens mit: Ich bin fehlbar. Das ist der erste Schritt zur Bescheidenheit.
Was ist zu retten an der Bescheidenheit? Die ursprüngliche Wortbedeutung von Bescheidenheit leitete sich von dem Vermögen her unter-scheiden zu können, Bescheid zu wissen, was Gut und Böse, was Richtig und Falsch ist. Aber auch in der heutigen Bedeutung des freiwilligen Verzichtes auf Lohn und Anerkennung oder auch nur darauf, immer und überall der Erste zu sein, hat sie eine genuin mäßigende Wirkung, die aller Überheblichkeit entgegenwirkt. So definierte schon Kant in der ihm eigenen Umständlichkeit wie Exaktheit: „Mäßigung in Ansprüchen überhaupt, d.i. freiwillige Einschränkung der Selbstliebe eines Menschen durch die Selbstliebe anderer heißt Bescheidenheit. Der Mangel dieser Mäßigung (Unbescheidenheit) in Ansehung der Würdigkeit, von anderen geliebt zu werden, die Eigenliebe (philautia).“ Mäßigkeit und Bescheidenheit in ihrem engen Zusammenhang sind damit gerade in der selbstverliebten Moderne ein wichtiges Gegengewicht gegen die permanente massenmediale Aufforderung zur Selbstüberschätzung (yes, you can!), die zu einem unermüdlichen Motor der Selbstausbeutung und eines bedingungslosen Fortschrittsglaubens geworden ist. Darüber hinaus ist speziell die Bescheidenheit eine notwendige soziale Tugend gerade in pluralistischen Gesellschaften, die einen respektvollen Umgang miteinander erst ermöglicht. In der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Weltanschauungen kann es nur ein gedeihliches Miteinander geben, wenn man seine eigenen – und in gewissem Maße durchaus natürlichen – Ansprüche auf Überlegenheit und Durchsetzung der eigenen Position etwas zurück-nimmt und darauf verzichtet, immer und überall im Recht zu sein: Fundamentalismus ist genauso eine genuin unbescheidene Haltung wie es Faschismus und Imperialismus sind.
Daneben hat die Bescheidenheit, wie alle Sekundärtugenden, natürlich auch ihre Gefahren, wenn man sie nämlich nicht im richtigen Maß ausübt. Völlige Selbstaufopferung schlägt wie alle Extreme in ihr Gegenteil um: in Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit. Schon Arthur Schopenhauer hat auf eine wichtige Voraussetzung der Bescheidenheit in diesem Zusammenhang hingewiesen: „Denn überhaupt um fremden Werth willig und frei anzuerkennen und gelten zu lassen, muß man eigenen haben“. Selbstverleugnung oder mangelnde Selbstachtung gehören insofern nicht notwendig zur richtigen Bescheidenheit, sondern nur zu ihrer dunklen Ver-wandten, der Scheinheiligkeit. Aber selbst die mag viel-leicht ihren (bescheidenen) Verdienst haben. Theodor Fontane lässt eine seiner eminent lebensklugen Romanfiguren sagen: „höre, Rosalie, Bescheidenheit ist gut, und eine falsche Bescheidenheit (denn die Bescheidenheit ist eigentlich immer falsch) ist immer noch besser als gar keine“. Vielleicht, so ist zu hoffen, wirkt auch eine falsche Bescheidenheit irgendwann pädagogisch auf den zurück, der sie nur vorspiegelt, und lässt ihn allein durch Gewohnheit wirklich bescheiden werden; und selbst wenn das nicht funktioniert, ist falsche Bescheidenheit im Umgang wahrscheinlich immer noch angenehmer als es Überheblichkeit, Arroganz und Egozentrik sind. Gelingt die Balance jedoch, ist die Bescheidenheit mit einem angemessenen Bewusstsein für eigene wie fremde Verdienste verbunden und weder Selbstzweck noch Vortäuschung, könnte das gelingen, was der Barockdichter Friedrich Logau in einem Epigramm mit dem Titel „Bescheidenheit“ ganz unbescheiden versprochen hat:
Wodurch wird Würd und Glück erhalten lange Zeit?
Ich meine, durch nichts mehr als durch Bescheidenheit.
Nennen wir sie Julia. Julia begann ihr Leben schon auf der Überholspur: Sie kam drei Wochen zu früh zur Welt, mit einem halben Jahr konnte sie laufen, mit einem Jahr konnte sie sprechen, mit zwei Jahren lesen, mit drei Jahren begann sie mit dem Klavierspielen – und von dort an immer weiter so im Sauseschritt. Ihre Eltern waren beide international erfolgreich in ihren Jobs, und bald hörte Julia auf, die Umzüge zu zählen, die neuen Schulen, die neuen Sprachen, die neuen Freunde. Sie galt als hochbegabt, aber auch hyperaktiv; als „kleiner Wirbelwind“ bezeichneten die Eltern sie gern, die selbst immer irgendwo anders herumwirbelten und wenig Zeit für ihr anspruchsvolles Einzelkind hatten. Dafür bekam Julia eben ständig neue Spielsachen, die aktuellsten Geräte, die allerbeste Technik und später die allerschicksten Designerklamotten. Mit ihren schnell wechselnden Au-Pairs und Kindermädchen überwarf sie sich allerdings meist schon in den ersten Wochen; sie gingen ihr auf die Nerven, sie sagten immer, sie sollte doch mal einen Moment Pause machen (aber eigentlich brauchten sie nur selbst eine Pause!), ein Buch von Anfang bis Ende lesen, nicht drei Sachen auf einmal anfangen und, wenn es schon Fastfood sein musste, wenigstens ordentlich kauen! Julia sagte dann trotzig: Ich habe eben eine zu kurze Aufmerksamkeitsspanne! Und warum soll ich langsamer sein als mein Computer? Sie durchlief ihre diversen internationalen Schulen erwartungsgemäß auf dem Fast-track und bewarb sich danach bei diversen internationalen Konzernen aus der Hightech-Branche. Fragte sie ein Personalchef beim Bewerbungsgespräch nach ihren „schlechten Eigenschaften“, dachte Julia immer: keine; laut sagte sie aber: „Ich bin zu ungeduldig!“ (und heimlich meinte sie: Ich bin sowieso schneller als du!). Und wenn sie gefragt wurde, wo sie sich in fünf Jahren sehe, sagte sie, schelmisch lächelnd: „Auf dem Mars natürlich!“ Erwartungsgemäß machte sie schnell Karriere, vorbei an vielen gleichaltrigen Männern; privat war es eher schwierig, weil eben diese soeben überholten Männer weder ihre schlagfertige Zunge noch ihr rasantes Beziehungstempo noch ihr Talent im Multitasking schätzten. Zum Kinderkriegen hatte sie jedenfalls ganz sicher keine Zeit, schon der Gedanke an neun Monate Schwangerschaft, den dicken Bauch, die Unbeweglichkeit und Abhängigkeit von Anderen machte sie ganz zappelig. Sie ließ aber, als die neue Technik dafür auf den Markt kam, sofort ihre Eizellen einfrieren (man konnte ja nie wissen). Als sie Mitte Dreißig plötzlich krank wurde – eine langwierige Geschichte, etwas mit den Nerven und dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr, sie musste lange liegen und sich schonen –, fühlte sie sich, als würde ihr auf einmal der Strom abgestellt. Die Zeit dehnte sich ins Endlose, sie benötigte viel Hilfe, die Ärzte sagten immer wieder: Sie müssen Geduld haben, Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut! (und sie wollte immer antworten: Wenn ich das Projekt geleitet hätte, schon). Sie hätte nun über so vieles nachdenken können, was sie immer aufgeschoben hatte, all die großen Fragen; sie hätte all die dicken Bücher lesen können, die sie sich auf ihren E-Book-Reader geladen hatte, in der vagen Hoffnung irgendwann die Zeit zu finden. Aber dann überflog sie doch lieber nur den Wikipedia-Artikel zu den Büchern und surfte nach den Börsenkursen oder fragte den Arzt, ob sie nun endlich wieder aufstehen könne. Als sie in ihren alten Job zurückkehrte (früher natürlich, als der Arzt das wollte), wurde sie das Gefühl nicht los, das Verpasste nicht mehr aufholen zu können; Jüngere waren nachgerückt, ihre Projekte waren ohne sie abgeschlossen worden, sogar das Management hatte gewechselt; die neuen Vorstände wollten noch schnellere Erfolge im Interesse der Shareholder. Sie machte weiter, als wäre nichts gewesen, aber irgendwie hatte sie den Drive verloren; auch ihre eingefrorenen Eizellen kamen ihr jetzt irgendwie lächerlich vor, wie sollte ein Baby nun in ihr mittelaltes Leben passen, und was würde werden, wenn sie wieder krank würde? Wenn sie doch einmal Pause machte, verfolgte sie ein Spruch, den sie früher schon gehört, aber nicht verstanden hatte: „Good things come to those who wait“ – und sie hatte sich noch darüber lustig gemacht mit ihren Freunden (wo waren sie eigentlich alle geblieben, als sie krank war? keine Zeit gehabt, natürlich), was das wohl für gute Dinge sein sollten – außer Tee (Espresso heißt ja nicht umsonst Espresso!) oder Hefekuchen oder ähnlichen Altmodischkeiten? Also wartete sie. Aber sie konnte nicht anders als ungeduldig warten, zappeln und zappen. Am Ende war sie nicht unzufrieden mit ihrem Leben auf der Überholspur, sie hatte viel gesehen, viel getan, viel erreicht, mehr als die meisten anderen Menschen. Aber das meiste davon war zu schnell gegangen, und nichts war geblieben. Das Leben selbst ist eine viel zu kurze Aufmerksamkeitsspanne, sagte sie am Ende, und irgendwie stimmte es ja auch.
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Was ist falsch an Geduld? Dass sie Zeit kostet, und das kann sich heutzutage nun wirklich niemand leisten. Nicht mehr die gute alte Geduld, sondern ihr explizites Gegenteil, die Ungeduld ist deshalb eine der neuen Tugenden der Moderne – und das ist ein für eine ehemalige (Sekundär-)Untugend relativ einmaliger Aufstiegs-prozess. In einer Welt, in der alles immer schneller wird, sei es auf realen Autobahnen oder auf Daten-Highways, kann der Mensch nicht geduldig stehen bleiben; er muss mithalten, auf Trab bleiben, am besten auf Galopp kommen, er muss immer mehr immer schneller (und am besten alles auf einmal: Multitasking) erledigen. Der technische Fortschritt hat es möglich gemacht: Für die meisten Probleme gibt es eine schnelle Lösung (ob es auf Dauer auch eine gute ist, interessiert erst einmal nicht), ad hoc und just-in-time wird entschieden, entwickelt und produziert. Das, wofür man früher einmal Geduld brauchte, die unangenehmen Dinge des Lebens also, hat sich erledigt: Für Schmerzen gibt es hochwirksame Schmerzmittel, für mühsame Arbeiten hochentwickelte Maschinen, für Naturkatastrophen Soforthilfeprogramme und für kleinere Kümmernisse welcher Art auch immer einen Coach, Viagra, Lebenshilfe oder Unternehmensberatung (abgerechnet wird im Stundensatz). Allein fürs Sterben braucht man heute wieder eher mehr Geduld, denn der moderne Mensch darf seltsamerweise über alles frei entscheiden (vorzugsweise: Unwichtiges), nicht aber über seinen Tod.
Geduld hingegen war einmal eine der wichtigsten religiösen Tugenden, und zwar aus ziemlich einleuchtenden Gründen: In dieser irdischen Welt war offensichtlich seit jeher vieles nicht zum Besten bestellt, es gab und gibt Leid und Elend, Ungerechtigkeit und Gemeinheit, Hass und Krieg, Not und Schmerzen zuhauf. Und da der Einzelne das meiste davon nicht ändern oder wenigstens beeinflussen konnte, musste ihm das Warten auf eine bessere Welt schmackhaft gemacht werden: Seid auf dieser Erde geduldig, sie ist nur ein großer schlecht belüfteter Wartesaal, und die Belohnung erwartet euch in der anderen, der jenseitigen Welt! Tragt euer Schicksal mit Fassung, ihr könnt es sowieso nicht ändern! Und je geduldiger ihr erduldet, desto üppiger werdet ihr dereinst belohnt werden: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden!“, heißt es bereits an dritter Stelle der acht Seligpreisungen des Matthäus-Evangeliums.
Geduld ist aber nicht nur eine christliche Tugend, sondern hat ihren festen Platz in jeder der großen monotheistischen Weltreligion (wohingegen Götter im Polytheismus, siehe Zeus und seine gefürchteten Blitze, durchaus ungeduldig sein durften). Für die Juden als die verfolgte Religionsgemeinschaft schlechthin war sie eine in der Thora und im alltäglichen Leben tief verankerte Praxis. Den ersten Christen, gestartet ebenfalls als verfolgte Minderheit, wurde sie vom Heiligen Geist verliehen; ihren späteren Nachkommen half sie bei den allgegenwärtigen Prüfungen und Versuchungen, die sie von ihrer Orientierung auf das Jenseits und das eigene Seelenheil abbringen wollen. Auch der gläubige Muslim soll langmütig und standhaft sein; und Buddha, wie er so geruhsam dasitzt im Lotussitz mit dem festgefrorenen Lächeln zwischen den hängenden Ohrläppchen, ist schon rein optisch die verkörperte Geduld. Für den Hindu schließlich ist Geduld eng verbunden mit dem Gebot des Nicht-Handelns und sowieso die einzig adäquate Geisteshaltung angesichts des ewigen Rades der Wiederkehr, das er in der Folge seiner Inkarnationen durchläuft: Er braucht sogar Geduld für mehrere Leben, bis er endlich beruhigt ins Nicht-Sein eingehen darf.
Gerade ihre religiöse Unentbehrlichkeit macht die Geduld jedoch in der durchgängig säkularisierten Moderne überflüssig und unpopulär. Der moderne Mensch, selbst wenn er sich noch einen Restbestand an Glauben bewahrt hat (wofür man bekanntlich ein Talent braucht), wird nicht so weit gehen, auch den religiösen Belohnungsaufschub ins Unendliche mitzumachen und sich anstelle eines erfüllten Lebens im Hier und Jetzt einen Blankoscheck für die Ewigkeit ausstellen zu lassen. Im Gegenteil: Von Kind an ist er darauf konditioniert, Belohnungen sofort zu bekommen und sie bei ihrem Ausbleiben möglichst lautstark einzufordern. Und eine auf kontinuierlich anwachsenden privaten Konsum begründete Wohlstandsgesellschaft unter dem absoluten Wachstumsdiktat hat zudem ein starkes Interesse daran, dass das auch schön so bleibt – wo kämen wir schließlich hin, wenn jeder auf seine Spontankäufe verzichtete! Sogar von Natur aus sind wir offensichtlich eher ungeduldig als geduldig: Psychologische Experimente haben gezeigt, dass die meisten Menschen eine kleinere Belohnung jetzt und sofort einer doppelt so großen in einer nicht allzu fernen Zukunft vorziehen würden. Unsere Ungeduld ist also zumindest größer als unsere Rationalität.
Was ist sekundär an Geduld? Geduld ist nicht nur die einfache Fähigkeit zufrieden zu warten, sondern geht meist mit bestimmten geistigen Haltungen einher: einer gewissen Passivität – wer geduldig wartet, handelt nicht – und einer gewissen Unproduktivität: Denn warum sollte man auf kreative Lösungen sinnen, wenn man doch Krisen und Probleme einfach gemütlich und geduldig aussitzen kann? Nein, die produktiven und innovativen Helden unserer Zeit sind die hungrigen, ungeduldigen Jungunternehmer, und wer jemals auf die Idee gekommen wäre, Steve Jobs mehr Geduld zu empfehlen, hätte das sicher schnell bereut. Nicht nur aktiv, sondern sogar „proaktiv“ muss man heutzutage sein: strategisch planend, in die Zukunft vorausdenkend, sie vorwegnehmend mit den eigenen Ideen und Entwürfen – und nicht einfach Abwarten und Tee trinken (Energy Drinks sind die Wahl des Ungeduldigen; sie verleihen nämlich Flügel und nicht Sitzecken!).
Das gleiche gilt für die mit der Geduld verbundene Einstellung der Gelassenheit, oder, moderner gesprochen: Frustrationstoleranz. Zwar würden wohl die meisten von uns nicht bestreiten, dass beides, Geduld und Gelassenheit, irgendwie zum Ideal der „Weisheit“ gehört, wenn auch nur als notwendige Attribute, als sekundäre Nebenwirkungen sozusagen. Aber Weisheit haben wir delegiert an den Dalai Lama und andere unzeitgemäße Heroen der Langsamkeit, die aus dem allgemeinen Beschleunigungsdogma freigestellt sind und sich, stellvertretend für den gehetzten Unternehmer und seine noch mehr gehetzten Angestellten, die Zeit nehmen dürfen und sollen. Der Rest von uns soll jedoch nicht gelassen sein, sondern aufgeregt, auf dem Sprung, allzeit bereit: Nur so wird er das meiste aus seinem Leben herauspressen, nur so kann er möglichst viele Höhepunkte der Event-Kultur mitnehmen, nur so kann er vielleicht das, was ihm an tiefen Erkenntnissen und starken Gefühlen verschlossen bleibt (dauert zu lang), vielleicht durch breites Halbwissen und oberflächliche Halbgefühle kompensieren.
Ein interessantes, wenn auch etwas entlegeneres Bei-spiel für die mit der Geduld als Sekundärtugend verbundenen Probleme lässt sich zudem an einem nahen etymologischen Verwandten der Geduld betrachten, der Toleranz nämlich. Toleranz kommt von dem lateinischen Wort für „dulden“ und meint, im engeren historischen Sinn, das Geltenlassen fremder Überzeugungen und Praktiken, sei es in Religion, Politik oder Kultur. Der Begriff entstand erst im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, das unter dem Banner der allgemeinen Menschenvernunft um Verständnis und Gleichberechtigung für Andersdenkende jeglicher Art warb: Wenn alle Menschen die gleichen unveräußerlichen Rechte haben, dann gelten diese unabhängig von Hautfarbe, Religion oder Gesinnung. Praktisch tolerant waren aber schon die alten Römer: So durften beispielsweise im römischen Reich eroberte Völker ihre indigenen Religionen weiter praktizieren, jedenfalls solange sie nicht mit der politischen Anerkennung des Kaisers in Konflikt traten (was beispielsweise bei den frühen Christen der Fall war, die deshalb bekanntlich keinerlei Toleranz von den römischen Kaisern erfuhren). Sogar das christliche Mittelalter tolerierte Ungläubige (Juden und Heiden), aber keine Häretiker, also Irrlehrer und Abweichler von der streng dogmatischen Linie des reinen katholischen Glaubens. Als im Verlauf des 18. Jahrhunderts dann Religion und Staat immer weiter auseinander traten, wurde die Forderung nach religiöser Toleranz durch die nach politischer und allgemeiner Gewissens- und Redefreiheit ergänzt. Toleranz galt fortan als einer der Grundpfeiler der abendländischen Moderne.
Je überschwänglicher jedoch der Toleranz-Gedanke gefeiert wurde, desto deutlicher wurden seine Grenzen erkennbar. Selbst die Großmeister der Toleranzliteratur in der Aufklärung waren vor partieller Intoleranz nämlich nicht gefeit: So schloss John Locke in seinem Brief über die Toleranz (1667) die Atheisten und teilweise sogar die Katholiken vom Duldungsgebot aus; und in Frankreich forderte Voltaire in seiner Abhandlung über die Toleranz (1763) zwar uneingeschränkte Glaubensfreiheit, benutzte jedoch in seinen Werken fröhlich weiter antisemitische Klischees. Toleranz ist eben nur passive Duldung, ein etwas überhebliches Gewähren lassen, nicht aber aktive Wertschätzung; und schon Goethe erkannte weitsichtig in seinen Maximen und Reflexionen: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen“. Selbst wo sie historisch volltönend als Toleranz daherkommt, bleibt die Geduld also noch ein wenig im Geruch des politisch nicht ganz Korrekten.
Was ist zu retten an Geduld? Wenn man genauer hinsieht, kann man verschiedene Dimensionen an dem Be-griff unterscheiden: eine zeitliche – man muss sich gedulden, wenn man auf etwas wartet, was nicht sogleich eintritt, sondern mal wieder etwas länger dauert; eine psychische – man erreicht seine Ziele nicht gleich, man bekommt seine Wünsche nicht sofort erfüllt, man übt sich, siehe oben, in Belohnungsaufschub und Frustrationstoleranz; und eine religiös-eschatologische, die beide Facetten zusammenführt: Da diese Welt von Grund auf schlecht und falsch ist, kann Gerechtigkeit erst in der nächsten, jenseitigen vollzogen werden; aber darauf, immerhin, kann man vertrauen und deshalb geduldig abwarten. Die Geduld verschwistert sich deshalb auch gern mit der christlichen Werte-Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung – was sie immerhin schon ein wenig sympathischer für religionsferne Anhänger der Moderne machen könnte, die zwar den Glauben an so ziemlich alles verloren haben, aber nicht an die Liebe natürlich; und die Hoffnung stirbt bekanntlich zu allerletzt.
Die eschatologische, auf die Ewigkeit ausgerichtete Variante hingegen hat in säkularisierten oder gar atheistischen Zeiten am stärksten an allgemeiner Bedeutung verloren. Davon unabhängig jedoch ist die entgötterte Welt weit entfernt davon entfernt, in Ordnung oder ohne Not und Elend oder gerecht zu sein, und sie wird es auch in absehbarer Zukunft nicht werden: Die globalen Probleme nehmen sogar noch zu, sei es im Angesicht der bevorstehenden Klimakatastrophe und ihrer ökologischen und sozialen Begleiterscheinungen, der Hysterie der globalen Märkte und der damit einhergehenden krassen ökonomischen Ungleichheit oder der Herausforderung durch politisch extreme Bewegungen und den Terror. Da für all diese Probleme kurzfristige Lösungen nicht in Sicht sind, gewinnt seit einiger Zeit eine neue Tugend immer mehr Anhänger, die aber eigentlich eine Verwandte der guten alten Geduld ist: die Nachhaltigkeit nämlich. Nachhaltige Lösungen komplexer Problemkonstellationen können jedoch nicht durch eine Politik in Gang gesetzt werden, die nur noch in den immer kürzer werdenden Pausen zwischen den Wahl-kämpfen stattfindet; und insofern ist das wichtigste wahrscheinlich eine nachhaltige Reform politischer Strukturen. So sehr die Moderne die permanente „Revolution“ heroisiert hat – den längeren Atem hat am Ende wohl doch die Evolution, und die hat es bekanntlich nicht besonders eilig und rechnet eher in Jahrmillionen denn in Millisekunden. Aber selbst wenn erst unsere Nachkommen in zweiter oder dritter Generation von heute initiierten langhaltigen Projekten profitieren werden, ist das angesichts des Zustandes, in dem wir ihnen diese Welt unter krasser Verletzung aller denkbaren Generationenverträge hinterlassen, nur gerecht.
Auf individueller Ebene haben wir die Geduld ebenfalls bitterer nötig, als wir meinen. Distanziert man sich einen Moment von der Wachstumsideologie des Kapitalismus, die inzwischen mit quasi-religiösem Ernst als alternativlos verkündet wird, und dem Konsumismus als letzter verbliebener Sinnstiftung – ich kaufe, also bin ich! –, dann wäre ein wenig Konsumentzugstraining geradezu moralisch geboten: Ich kaufe heute einmal nicht, und vielleicht morgen auch nicht; und vielleicht kaufe ich überhaupt nur noch, wenn ich etwas brauche, und überprüfe meine Wünsche und Bedürfnisse darauf-hin, ob sie wirklich alle sofort erfüllt werden müssen – was nämlich erfahrungsgemäß nur sofort neue erzeugt, wie die Hydra aus der griechischen Mythologie, deren Köpfe sofort und sogar vermehrt nachwachsen, wenn man einen mühsam abgehauen hat. Erfüllt man sich hingegen einen besonderen, lang gehegten Traum, einen Wunsch, für den man arbeiten und sparen musste, eine Sehnsucht, die gewachsen ist und nicht nur über Nacht oder nach einer besonders suggestiven Werbesendung herbeiphantasiert – vielleicht wird dann auch die Befriedigung etwas nachhaltiger ausfallen (ein Kopf wächst sicherlich nach, aber vielleicht nicht gleich drei …)? Das neue Motto ist Ent- statt Beschleunigung – in vielen Bereichen gibt es inzwischen einen neuen Trend zurück zur Langsamkeit, der jedoch bisher eher ein Luxusphänomen ist: Ruhe muss man sich erst einmal leisten können, und irgendjemand muss das slow food ja einkaufen und kochen.
Schließlich hat Geduld einen wichtigen, oft unterschätzten erkenntnistheoretischen Aspekt. Heute wird allenthalben die Verkürzung der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne vor allem der jüngeren Generation beklagt: Während die Welt um uns herum immer komplizierter und verflochtener und schwerer verständlich wird, werden unsere Sätze und Worte immer kürzer. Was den Umfang eines mittleren Wikipedia-Artikels übersteigt oder nicht in eine zehnminütige PowerPoint-Präsentation passt, überfordert die meisten Schüler und sogar Studenten; und nach Auffassung der Massenmedien verträgt die Kundschaft sowieso nur noch Informationshäppchen, gut zerkleinert und vorgekäut. Die zeitgemäße Abkürzung für dieses Phänomen heißt „tl;dr“ – too long, don’t read (Akronyme sind im Übrigen ein besonders anschauliches Symptom moderner Ungeduld) und ist ein Zugeständnis an die „digitale Ungeduld“ (Sascha Lobo) des modernen Menschen. Nun ist es prinzipiell nicht schlecht, wenn man Dinge auf das wesentliche verkürzen kann und ökonomisch mit seiner kurzen Lebenszeit umgeht; und die Anpassung unserer neuronalen Reaktionszeiten an die Übertragungsgeschwindigkeit unserer Modems und die Verarbeitungskapazitäten unserer Rechner ist ein nicht zu leugnendes und ziemlich bemerkenswertes Phänomen. Aber man sollte zugestehen, dass nicht alles und jedes verkürzt, beschleunigt und reduziert werden kann, sondern dass bestimmte Dinge, Gedanken, Phänomene – und es könnte sein, dass es gerade die Wichtigen sind? – nicht gut vertragen, auf Sieben-Satz-Worte in 90-Sekunden-Meinungsblöcken eingedampft zu werden. Wie immer bei Sekundärtugenden kommt es auch hier darauf an zu unterscheiden, wann genau Geduld am Platze ist und wann Ungeduld: Rom ist tatsächlich nicht an einem Tag erbaut werden – aber der neue Berliner Flughafen wird auch nicht direkt besser dadurch, dass die Bauzeit sich ins Endlose erstreckt.
Geduld wirkt, so kann man zusammenfassen, eminent erzieherisch. Sie hilft nicht nur, ganz pragmatisch, beim Ertragen physischer Leiden (an Schmerzen, Krankheit und Tod kommt keiner vorbei, da hilft auch keine Versicherung) oder der Zügelung allzu ungeduldiger Wünsche. Am wichtigsten aber ist ihr disziplinierender Wert für das Denken angesichts einer allzu verbreiteten Neigung zum urteilenden Schnellschuss (der sein Ziel meistens allerhöchstens oberflächlich streift) und der Erzeugung von Meinungen im Sekundentakt, frei nach dem Motto: Meinungsfreiheit besteht darin, dass jeder zu jedem Thema jederzeit sagen darf, was ihm soeben durch den Kopf geschossen ist, und damit auch noch ernst genommen wird (außer wir fragen Experten, die bekanntlich Menschen mit Geduld sind, haben sie doch ihr Fachgebiet jahrzehntelang studiert und Erfahrungen damit gesammelt und immer wieder darüber nachgedacht – aber leider tendieren sie meist dazu, in langen komplizierten Sätzen mit schwierig zu verstehenden Wörtern zu sprechen und kein Ende zu finden). „Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen und schreiben zu lernen: das Ziel in allen dreien ist eine vornehme Kultur. – Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-herankommen-lassen angewöhnen; das Urteil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen“ – so hatte Friedrich Nietzsche die Anforderungen an ein gegründetes Urteil beschrieben. Das passt freilich weder in ein G-8-Gymna¬sium noch in ein modularisiertes Hochschulstudium in sechs Semestern bis zum Bachelor. Aber wie sagte schon Nietzsches Kollege Jean-Jacques Rousseau in seinem sehr utopisch angelegten Erziehungsroman Emile vor gut zweihundert Jahren: „Bei so viel bewundernswürdigen Methoden, das Studium der Wissenschaften abzukürzen, brauchten wir wirklich jemanden, der eine hätte, die es uns erschwert“!
DAS ZAUBERWORT – HÖFLICHKEIT UND MENSCHENFREUNDLICHKEIT
Nennen wir ihn Klaus. Klaus war ein braves Kind, auch wenn er sich manchmal ein bisschen dafür schämte. Das lag an seiner Oma, bei der er viel Zeit verbrachte, weil seine Eltern immer so viel arbeiten mussten. Die Oma backte ihm Pfannkuchen, las mit ihm Geschichten und brachte ihm bei, immer höflich zu sein: alle Leute auf der Straße freundlich zu grüßen, älteren Menschen im Bus einen Sitzplatz anzubieten, und vor allem, schön „bitte“ und „danke“ zu sagen; Zauberworte seien das, sagte die Oma. Natürlich fand Klaus das alles zuerst peinlich und albern, zumal er ein schüchternes Kind war und überhaupt ungern mit fremden Menschen sprach. Außerdem mochten es die älteren Menschen oft gar nicht so gern, wenn man für sie im Bus aufstand, offensichtlich fühlten sie sich dadurch irgendwie unangenehm an ihr Alter erinnert, und manche waren noch nicht einmal höflich genug zu antworten. Man selbst kam beim Einsteigen in den Schulbus mit Höflichkeit auch höchstens zu einem unattraktiven Stehplatz weit weg vom Ausgang und den Mädchen. Die kicherten meist bloß, wenn Klaus es einmal wagte, ihnen die Tür aufzuhalten; zu „Damen“, das hatte die Oma ihm auch beigebracht, müsse man besonders höflich sein. Aber offensichtlich waren seine Klassenkameradinnen keine Damen, sondern eher Gänse (das dachte Klaus aber nur ganz leise, sozusagen, und schämte sich dann für seine unhöfliche Ausdrucksweise). Aber je älter Klaus wurde, und je mehr die Menschen um ihn herum drängelten und schubsten und fluchten und schimpften, umso höflicher wurde Klaus – aus reinem Trotz. Auch im Gymnasium war er anfangs aus Widerspruchsgeist der Bravste von allem; als Streber galt er sowieso, weil er es insgesamt interessanter fand, dem Lehrer zuzuhören, selbst wenn der langweilig oder konfus war, als Dinge durch die Luft zu werfen, Bleistifte zu klauen oder unter dem Tisch auf dem Handy rumzudaddeln. Und wenn man schon ein „blöder Streber“ war, konnte man genauso gut der alten Lateinlehrerin die Tasche aus dem Lehrer- ins Klassenzimmer tragen, sie war sowieso schon gestraft genug mit ihrem Job; oder dem Mathelehrer die Tafel wischen, die er so enthusiastisch mit seinen Formeln vollschrieb, während hinter ihm die Federmäppchen durch den Raum flogen. Aber die Höflichkeit hatte auch ihre Grenzen, fand er, und wenn wildfremde Kassiererinnen bei Aldi ihm ohne hochzusehen „einen schönen Tag“ wünschten, sagte er nur „danke“ – er konnte sich wirklich nicht vorstellen, was an ihrem Tag noch schön werden sollte, und sie interessierten sich auch ganz offensichtlich nicht für ihn als Person, sondern erfüllten eine Dienstanweisung. Im Studium kümmerte sich dann keiner mehr darum, ob man ein Streber war, aber höfliche Umgangsformen waren offensichtlich auch hier nicht besonders gefragt, weder bei den Professoren noch bei seinen Kommilitonen. Klaus studierte Sozialpädagogik; er wollte sich um Menschen kümmern, auch und gerade um die rücksichtslosen Schubser und Vordrängler. Denn er war zu dem Schluss gekommen, dass Rücksichtslosigkeit das Grundübel der Gesellschaft war, in der er wohl oder übel leben musste. Niemand wollte mehr auf Andere achten, und je mehr davon gesprochen wurde, dass alle gleiche Chancen haben sollten und niemand diskriminiert werden sollte, desto mehr trampelten sie aufeinander herum und nutzten jede Schwäche aus. Er selbst blieb immer höflich; das fiel ihm inzwischen nicht mehr schwer, selbst wenn er innerlich kochte vor Wut. Es war eine Gewohnheit geworden, wie das gründliche Zähneputzen zweimal am Tag, aber eine gute, und er hatte noch nie eingesehen, was an schlechten Zähnen oder schlechtem Benehmen eigentlich cool sein sollte. Das kam natürlich gut an bei den Frauen, obwohl viele von ihnen es ebenso wenig gewöhnt waren, dass man höflich zu ihnen war, wie früher die älteren Leute: Einige fühlten sie sich bevor-mundet und wurden patzig, andere hielten es für einen ungeschickten Flirtversuch. Klaus hätte viele Freundinnen haben können, aber erst als er seine spätere Frau traf, wusste er sofort, dass sie die richtige war: Sie war nicht nur höflich, sie war so zutiefst respektvoll und menschenfreundlich und herzlich in ihrem Umgang mit allen Menschen (und sogar mit allen Tieren, nicht nur den niedlichen), dass ihm das Herz aufging und er sich selbst im Vergleich beinahe für unhöflich hielt. Sie war Ärztin, und nicht nur deshalb gab er seinen Job in der Jugendsozialarbeit bald auf: Er hatte es gründlich satt, sich mit einer starren Bürokratie, uneinsichtigen und unflätigen Eltern und schlichtweg nicht mehr kommunikationsfähigen Jugendlichen herumzuschlagen, da halfen längst keine Zauberworte mehr. Stattdessen bot er Höflichkeitskurse für die Volkshochschule an. „Knigge für das 21. Jahrhundert“ nannte er sie auf Vorschlag der VHS etwas großspurig. Eigentlich war es ihm darum gegangen, nicht einfach nur „Benimm“ zu unterrichten, aber natürlich wollten die Leute dann doch vor allem wissen, in welcher Reihenfolge man bei einem mehrgängigen Menü das Besteck benutzt und wer wem die Tür aufhält. Aber sogar das war ihm inzwischen egal; besser, dachte er, Banalitäten des äußeren Umgangs schulen und darauf hoffen, dass die Leute dann von selbst irgendwann einmal nicht nur hemdsärmelig Pommes und Burger hineinschaufeln, sondern in einem kultivierten Restaurant bei einem guten Essen auch ein gutes Gespräch führen würden, vielleicht sogar mit leiser Stimme und ohne alle drei Minuten auf ihr Handy zu schauen. Und wer einem Anderen, und sei es nur aus Gewohnheit, die Tür aufhielte und ihm vielleicht dabei ins Gesicht sah, würde irgendwann, und sei es versehentlich, den Anderen als Person wahrnehmen und nicht als Verkehrshindernis oder Konkurrenten. Und vielleicht wäre es dann sogar möglich, irgendwann nicht nur von außen zu lächeln, sondern von innen heraus, ganz ohne Zauberwort. Als Klaus starb, hatte er ein Lächeln im Gesicht, es kam von innen heraus und wurde immer stärker und alle wurden ganz still, als sie es sahen, und nahmen sich vor, es niemals zu vergessen.
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Was ist falsch an Höflichkeit? Höflichkeit ist ein schöner Knicks und eine tiefe Verbeugung, und der emanzipierte Zeitgenosse beugt die Knie nicht mehr, vor niemand (außer im Fitneß-Studio natürlich und auf Befehl des attraktiven Instructors)! Zudem ist Höflichkeit Äußerlichkeit in ihrer reinsten Form: Wer sich gut betragen kann, weiß noch lange nicht, was moralisch gutes Handeln ist; wer den schönsten Knicks macht, kann die größten Beleidigungen denken, und wer Anderen die Tür aufhält, wird sie ihnen bei der nächsten Gelegenheit – wenn keiner zuschaut! – mit Schwung ins Gesicht knallen. Höflichkeit entstammt einer Zeit, in der der Hof noch die Sitten diktieren konnte, und mit der Monarchie haben wir auch das äußere Zeremoniell abgelegt: Niemand muss mehr hofiert werden, wenn alle die gleichen Rechte haben; niemand muss mehr Rücksicht auf Schwächere nehmen, wenn alle gleich oder wenigstens ‚anders befähigt‘ sind. Und niemand, aber auch wirklich gar niemand braucht mehr altmodische Benimmbücher oder Tanzstunden-Belehrungen, um sich auf gesellschaftlichem Parkett sicher bewegen zu können, wenn doch in der Disco alle zum gleichen Rhythmus zucken und man bei MacDonalds mit den Fingern essen kann und jeder jeden sowieso duzt auf Twitter. Aus, vorbei, erledigt!
Höflichkeit ist also nicht nur aus der Mode gekommen, sie ist zutiefst unzeitgemäß; sie war der Inbegriff einer Gesellschaftsform und einer politischen Struktur, die wir überwunden haben. Generationen haben unter dem rigiden Höflichkeitsdrill der Altvorderen gelitten, haben brav das Händchen gegeben und sich verbeugt, die Eltern mit „Sie“ angeredet und den Fürsten mit „Euer Hochwohlgeboren“. Generationen haben dagegen niemals aufgemuckt, höchstens heimlich (die Gedanken sind schließlich frei, oder etwa nicht?); sie sind abgerichtet worden, und sie haben sich nicht dagegen gewehrt. Ein höfliches Volk erhebt sich nicht, schon gar nicht, wenn hohe Personen anwesend sind; ein höfliches Kind zieht die Befehle der Eltern nicht in Zweifel, und seien sie noch so ungerecht oder abwegig. Denn das ist der besondere Trick der Höflichkeit als Instrument zur willkürlichen Abrichtung Untergebener: Ihre Normen sind nicht vorgegeben, sondern können beliebig je nach Interesse neu definiert werden. Was sich gehört, bestimmt der, der die Macht hat; und wenn ein ganzes Volk dafür umerzogen werden muss, weil die neuen Benimmregeln sagen, dass man sich gefälligst mit „Genosse“ oder „Genossin“ statt des bourgeoisen „Herr“ oder „Frau“ anzureden hat, dann gilt das per Dekret und sofort.
Was ist sekundär an Höflichkeit? Höflichkeit ist deshalb sekundär für all diejenigen, die auf echte, wahre, innere Werte halten: den Kern statt der Schale, den Charakter statt der äußeren Erscheinung, den Geist statt des Buchstabens. Schlimmer noch: Sie meinen sogar, dass eine Orientierung an Äußerlichkeiten die wahren Werte herabmindert, entstellt, verbirgt und dadurch letztlich verdrängt. Jean-Jacques Rousseau hat in seinem Erziehungsroman Emile eine umfassende Kritik der Höflichkeit in der Erziehung vorgelegt: „Vor allem hütet euch, das Kind an leere Höflichkeitsformeln zu gewöhnen, deren es sich nötigenfalls als Zauberworte bedienen könnte, um seine ganze Umgebung seinem Willen zu unterwerfen und augenblicklich seine Wünsche befriedigt zu sehen. Bei der nur auf den äußeren Schliff angelegten Erziehung der Reichen begeht man stets den Fehler, ihnen ein gebieterisches Wesen einzuimpfen, welches auch unter den feinen und höflichen Formen stets hervortritt. Man schreibt ihnen die Ausdrücke vor, die sie anwenden müssen, damit niemand ihnen zu widerstehen wage“. Rousseau kannte also schon das berühmte „Zauberwort“, aber er war, als guter Aufklärer, gegen jede Form von schwarzer oder auch weißer Magie. Die wahre Höflichkeit hingegen „besteht darin, daß man einander mit Wohlwollen entgegenkommt. Sobald es uns an diesem nicht gebricht, tritt sie ohne Mühe hervor. Nur für diejenigen, welchen es eine unbekannte Tugend ist, hat man die Kunst erfinden müssen, sich wohlwollend zu stellen“. Immerhin gibt es also eine wahre und eine falsche Höflichkeit auch für den Zivilisationskritiker Rousseau: Letztere ist verschleiernde und entfremdende äußere Form, erstere verbunden mit „Wohlwollen“ für den Anderen und damit innerlich gegründet. Sie stimmt mit dem überein, was man früher einmal „Anstand“ genannt hat (bevor das Wort durch argen Missbrauch korrumpiert wurde) und heute wohl am ehesten „Respekt“ nennen würde: eine Achtung vor anderen Menschen als Person an sich, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder ihrem Nutzen für uns und andere, unabhängig auch von ihrem Geschlecht, ihrer Religion, der Farbe ihrer Schuhe, der Größe ihrer Nase oder was auch immer. Aber auch in dieser Rechtfertigungsstrategie bleibt die Höflichkeit ganz klar sekundär, nämlich eine nachgeordnete und oberflächliche Ausdrucksform der eigentlich wichtigeren inneren Haltung, eine ausnahmsweise positive Nebenwirkung von Respekt als Sekundärtugend, sozusagen.
Zudem ist Höflichkeit nebensächlich: Sie regelt nur Trivialitäten des gesellschaftlichen Verhaltens, die leicht erlernbar sind, aber wenig Einfluss auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben haben. Tatsächlich ist es ein bestenfalls sekundäres Problem, welche Gabel man für das Dessert und welche man für den Käse benutzt; und früher geläufige Höflichkeitsformen gegenüber Frauen werden heute geradezu als Verstoß gegen die Emanzipation aufgefasst. Auch die kulturelle und historische Unterschiedlichkeit von Verhaltensnormen trägt zu ihrer Abwertung bei: Von wirklichen Werten erwartet man gemeinhin eine gewisse Konstanz, eine zeitübergreifende Gültigkeit, eine verkleinerte Form von ewiger Wahrheit gewissermaßen. Was man hingegen in einfachen Volkshochschulkursen lernen oder in billigen Ratgebern nachlesen kann, kann wohl kaum der Weisheit letzter Schluss sein!
Was ist zu retten an Höflichkeit? Nun stammt die Höflichkeit zweifellos nicht nur etymologisch, sondern auch in der Sache selbst von den Höfen des Spätmittelalters ab, die sie aber nicht erfunden haben. Ihre antike Vorform war die römische Urbanität (von urbs, lat. Stadt), die ebenfalls bereits auf den zivilisatorischen Wert von äußeren Normen gegründet war: Solange wenige Menschen vereinzelt in den Wäldern oder in kleinen Gruppen auf dem Land lebten, konnte jeder grob sein, so viel er wollte; aber viele Menschen auf engem Raum benötigen Regeln, die das Zusammenleben strukturieren und eine gewisse soziale Sicherheit herstellen. Höflichkeit ist also eine unerlässliche Voraussetzung für und gleichzeitig das Ergebnis von Zivilisation. Und wichtig ist, dass sie eben beides ist: Voraussetzung und Ergebnis eines Prozesses, den sie selbst mit initiiert hat und der durch sie ständig weitergetrieben wird, und in dem Fortschritte auf einer vermeintlich trivialen, sehr äußerlichen Ebene (das Verbot von Spucken beim Essen) langfristig große Wirkungen hervorrufen (eine Verbesserung nicht nur der Speisewerkzeuge, sondern auch der Hygiene; eine stärkere Rücksichtnahme auf das Empfinden anderer Menschen etc.).
Als kulturelles Musterbeispiel einer solchen gelungenen Zivilisierung gelten bis heute gemeinhin die Chinesen. Christoph Martin Wieland hat in seinem politischen Roman Der goldne Spiegel (1774) das Idealbild eines solchen höflichen Volkes unter dem Alleinherrscher Tifan nach dem chinesischen Vorbild entworfen, in dem jeder von Kind an zur Höflichkeit erzogen wird: „Noch ein andrer Umstand, der die Schulen von Tifans Einsetzung aus-zeichnet, war, daß dieser Gesetzgeber den Unterricht und die Übung in der Höflichkeit zu einem wesentlichen Teile der öffentlichen Erziehung machte. Er sah die Höflichkeit für eine Vormauer der öffentlichen Ruhe, für den stärksten Damm gegen alle Arten von Beleidigungen und gewalttätigen Ausbrüchen der Leidenschaften, und also für das sicherste Mittel an, der Obrigkeit die unangenehme Mühe – und dem Staate den schädlichen Einfluß – häufiger Bestrafungen zu ersparen; und man muß gestehen, unter einem sehr zahlreichen Volke scheint sie, besonders für die geringern Klassen, eine der notwendigsten politischen Tugenden zu sein. In dieser Rücksicht verfaßte Tifan ein besonderes Ceremonial für alle Stände, Klassen, Geschlechter, Alter, Verhältnisse und Vorfallenheiten, an welches die Scheschianer so mechanisch und pünktlich angewöhnt wurden, daß es ihnen endlich zur andern Natur ward“. "Dass es ihnen endlich zur anderen Natur ward": Das, was für das Volk zunächst äußere Notwendigkeit und Zwang war, wird schließlich zu einer Selbstverständlichkeit in allen Lebenslagen.
Auch der zu großem Unrecht auf einen Benimmratgeber verkürzte Freiherr Adolph Freiherr von Knigge hat in seinem Bestseller Über den Umgang mit Menschen (1788) nicht etwa einfache Benimmregeln gegeben, sondern ausführlich ausgeführt, wie sich wahrhaft höfliches Verhalten in jeder einzelnen Lebenssituation äußert; ein Beispiel nur: „Gehe von niemand und laß niemand von Dir, ohne ihm etwas Lehrreiches oder etwas Verbindliches gesagt und mit auf den Weg gegeben zu haben; aber beides auf eine Art, die ihm wohltue, seine Bescheidenheit nicht empöre und nicht studiert scheine, daß er die Stunde nicht verloren zu haben glaube, die er bei Dir zugebracht hat, und daß er fühle, Du nehmest Interesse an seiner Person, es gehe Dir von Herzen, Du verkauftest nicht bloß Deine Höflichkeitsware ohne Unterschied jedem Vorübergehenden! Man verstehe mich also recht! Ich mochte gern, wenn es möglich wäre, alles leere Ge-schwätz aus dem Umgange verbannt sehn; möchte, daß man – ohne Ängstlichkeit – auf sich acht hätte, nie etwas zu sagen, wovon der, welcher es anhören muß, weder Nutzen noch wahres Vergnügen haben, woran er weder mit dem Kopfe noch mit dem Herzen Anteil nehmen könnte. Weit entfernt bin ich also, das System solcher Leute empfehlen zu wollen, die jeden ohne Unterlaß mit leeren Komplimenten, Schmeicheleien oder Lobsprüchen in die Verlegenheit setzen, ihnen auf tausend nicht eins antworten zu können“. Es geht Knigge um nichts Geringeres als gelingende Kommunikation; und wer es sich zur Höflichkeitsregel gemacht hat, auf jeden Gesprächspartner in einer Unterhaltung, und sei sie noch so beliebig und alltäglich und trivial, wirklich zu hören, der wird überrascht sein, worüber man jenseits des „Geschwätzes“ alles miteinander sprechen kann.
Zudem ist es gerade ein Vorteil der Höflichkeit als sozialer und äußerlicher Norm, dass sie kein starres Normensystem ist, sondern flexibel angepasst werden kann. Das schließt Missbrauch nicht aus, ermöglicht auf der anderen Seite aber auch die Entwicklung jeweils zeitgemäßer Ausdrucksformen wie beispielsweise der „Netiquette“ im virtuellen Datenverkehr. Und es ist gerade der rein formale Charakter der Höflichkeit, der sicherstellt, dass sie unter verschiedenen äußeren Umständen und zwischen unterschiedlichen Menschen funktionieren kann, wenn sie nur verbunden wird mit einer grundlegenden Haltung der Achtung, des gegen-seitigen Respekts, des Wohlwollens und der Menschenfreundlichkeit. Auch das haben die Chinesen am besten und am frühesten erkannt. So heißt es beispielsweise im Li Gi, dem Konfuzius zugeschriebenen Buch der Riten, Sitten und Gebräuche aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert in einer Art Hymne auf die Sekundärtugenden, die notwendig die „Güte“ begleiten müssen: „Milde ist die Wurzel der Güte, Sorgfalt ist der Ackerboden der Güte, Verträglichkeit ist die Betätigung der Güte, Bescheidenheit ist die Fähigkeit der Güte, Höflichkeit ist die Äußerung der Güte, gute Reden sind die Form der Güte, Musik und Lieder sind die Harmonie der Güte, Austeilen und Spenden ist das Wirken der Güte“. Die „Äußerung der Güte“ – ohne Höflichkeit könnten wir innerlich die besten Menschen sein, und niemand würde es merken, da wir unsere Güte nicht auf eine gute Art und Weise äußern könnten. Der Geist braucht den Buchstaben, und am besten wirken schöne goldene Äpfel, wenn wir sie nicht auf Papptellern, sondern in silbernen Schalen präsentieren.
Wenn wir jedoch von Herzen und aus Überzeugung höflich sind, wirkt das auch auf uns selbst zurück. Das ist das besondere und gleichzeitig das entscheidende Argument gegen die vermeintlich reine Äußerlichkeit der Höflichkeit: Es gibt sowieso keine reine Äußerlichkeit beim Menschen, sondern Innen und Außen stehen in einer permanenten Wechselwirkung; wer äußerlich Gutes tut, verbessert auch sein Inneres, wer innerlich Schlechtes denkt, wird früher oder später auch äußerlich schlecht handeln (und wer das nicht glaubt, möge es fortan prüfen, an sich selbst und anderen – aber aufrichtig!). Noch konkreter: Wer sich rein mechanisch angewöhnt hat, zunächst einmal gut von seinen Mitmenschen zu denken, dem wird es bald leichter fallen, ihre guten Seiten tatsächlich zu finden; und sein Verhalten wird die solcherart Behandelten dazu zwingen (oder wenigstens: einfacher dazu bringen), ihre guten Seiten auch zu zeigen. Wer von früh auf daran gewöhnt ist, Rücksicht auf andere zu nehmen, der trainiert sich selbst gleichzeitig darin, seinen natürlichen Egoismus zu zügeln, seine Interessen nicht über alles zu stellen und den anderen so zu behandeln, wie man selbst gern behandelt werden möchte: nämlich als gleichberechtigte Person mit eigenen Interessen. Denn das ist der verborgene Kern der angeblich so entleerten Höflichkeit: Sie ist die äußere Form des kantischen Kategorischen Imperativs, des allgemeinsten Sittengesetzes schlechthin – handle so, dass dein Handeln ein allgemeines Weltgesetz werden könnte, oder, in der vereinfachten volkstümlichen Form: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu! Jeder frage sich also selbst, bevor er grob, rücksichtslos und verletzend – oder vielleicht auch nur einfach acht- und gedankenlos – handelt: Möchte ich selbst grob, rücksichtslos, verletzend – oder auch nur acht- und gedankenlos – behandelt werden? Wer da noch ja sagt, kann das gern haben. Für alle anderen gilt: Einer muss anfangen mit der Verbesserung der Formen!
In der Höflichkeit sind innen und außen, Kern und Schule, Geist und Buchstabe also notwendig verbunden. Das hat der zutiefst lebenskluge und mit höfischen Sitten noch wohlvertraute Goethe in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften in zwei Maximen gefasst: „Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hätte. Die rechte Erziehung wäre, welche dieses Zeichen und den Grund zugleich überlieferte“. Und für die, denen das noch zu pedantisch und moralistisch klingt, die romantische Variante des Gedankens: „Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußeren Betragens“. Höflichkeit ist letztlich ein Ausdruck von Menschenliebe; und wer die Menschen nicht lieben mag – wofür es Gründe geben kann –, sollte sich rechtzeitig ins Gedächtnis rufen, dass er selbst ein Mensch ist.
DURCHGEMOGELT – TREUE UND WAHRHEIT
Nennen wir ihn Bruno. Bruno war ein Scheidungskind; seine Eltern hatten sich getrennt, da war er gerade drei Jahre alt. Eigentlich hatten beide ein gemeinsames Sorgerecht bekommen, aber irgendwie ergab es sich, dass Bruno dann doch mehr bei seinem Vater lebte; seine Mutter hatte bald einen anderen Mann geheiratet und war weggezogen. Sein Vater hatte keinen festen Job; mal lebten sie von Hartz-IV, mal von dem Geld, das seine Mutter dann und wann überwies, mal von ein bisschen Schwarzarbeit. Aber das machte nichts, erklärte ihm sein Vater; irgendwie würde er sich immer durchmogeln, das sei heutzutage die Regel, alle machten das so, und warum sich zu Tode schuften, wenn man mit ein bisschen Schummeln auch ganz gut leben könne? Jeder betrüge doch den Staat, wo er könne, Steuerhinterziehung sei geradezu Ehrensache für ordentliche Bürger, und weil er nicht genug verdiene um Steuern zahlen zu müssen, müsse er halt anderswo mogeln. Sein Vater brachte ihm auch die besten Tricks bei, wie man in der Schule durchkam ohne einen Finger zu rühren, und Bruno lernte schnell. Genauso schnell lernte er aber auch, seinen Vater zu beschummeln. Es war wirklich ziemlich leicht, sich zweimal das Taschengeld auszahlen zu lassen oder seine Unterschrift unter die mahnenden Briefe von der Schulleitung zu fälschen; und wenn sein Vater ihm doch dahinter kam, war er beinahe ein wenig stolz auf seinen „missratenen Sohn“. Bruno schummelte sich durch bis zu seinem mäßigen Realschulabschluss; da er seine Freunde immer danach aussuchte, bei wem er am besten abschreiben konnte, musste er sich dafür nicht besonders anstrengen. Dass er beruflich etwas „mit Marketing“ machen wollte, war ihm schon lang klar; denn was war „Marketing“ eigentlich anders, als Leuten Dinge aufzuschwatzen, die sie nicht brauchten (denn Dinge, die sie brauchten, würden sie ja auch ohne Marketing kaufen, war doch klar!)? Darin war Bruno gut. Das fand auch sein Arbeitgeber, eine große Hypothekenbank, für die er angeblich hoch renditeträchtige, in Wirklichkeit aber hoch risikoträchtige Immobilienfonds verkaufte. Von den Provisionen konnte Bruno gut leben, sehr gut sogar, jedenfalls besser als sein Vater. Als die ersten Immobilienprojekte dann Pleite gingen und die Leute anfingen, die Bank wegen unredlicher Beratung zu verklagen, war das natürlich nicht Brunos Schuld; es stand doch alles im Kleingedruckten, und wenn die Leute zu blöd waren, Verträge genau zu lesen, mit denen sie große Summen ihres ehrlich verdienten Geldes anderen Leuten anvertrauten, waren sie selbst schuld! Die Bank jedoch war der Meinung, dass es die Leute am besten beruhigte, wenn sie ihre Mitarbeiter feuerte (denn die Vorgesetzen und Vorstände konnten natürlich nicht schuld sein, das war ja klar!). Bruno war bitter enttäuscht; es gebe keinerlei Treue mehr im Geschäftsleben, schimpfte er. Dazu kam, dass auch seine Frau nun drohte, ihn zu verlassen. Bisher hatte sie seine nur halbherzig verheimlichten Seitensprünge geduldig hingenommen; Männer können halt nicht treu sein, so hatte Bruno sich immer verteidigt, das weiß doch jeder, das liegt in ihrer Natur, was können wir dafür, wenn wir die treulosen Hormone abgekriegt haben! Und seine Freundin war stinksauer, da er auch ihr eine seiner berühmten supersicheren Anlagelösungen verkauft hatte, ebenso wie seinen „besten Freunden“ im Fußballverein (wo er immer noch damit prahlte, dass er die schönsten Schwalben und sterbenden Schwäne machen konnte, aber langsam ging ihm die Puste aus). Wenigstens hatte er sich keine Kinder einreden lassen; wohin das führte, hatte er bei seinen Eltern gesehen, und all dieses Gerede von der besonders tiefen inneren Erfüllung, die erst Kinder in das Leben brächten – alles Quatsch, fand er, eine einzige Mogelpackung vom Staat, der Angst hat, die Renten nicht mehr bezahlen zu können, von den Staatsschulden ganz zu schweigen (und Bruno war Banker genug, um kalkulieren zu können, dass die Versprechungen der Regierungen nicht substantieller waren als seine faulen Immobilienfonds). Sollen doch andere Leute die Gören kriegen, wenn sie so scharf drauf sind, hatte er seiner Frau immer gesagt; wozu hat man schließlich Hunde? Bruno hatte eigentlich immer einen Hund gehabt, seitdem seine Mutter ihn verlassen hatte; auch wenn er sich nicht immer gut um sie gekümmert hatte, aber Hunde waren ja anspruchslose Wesen. Als ihn dann aber sein Hund zusammen mit seiner Frau und seiner Geliebten und seinen Freunden verließ, traf ihn das am allerhärtesten: Wozu waren all das Gewinsel, der treuherzige Blick und das Geschlabber dann gut gewesen all die Jahre? Gelogen, auch das, sogar die Hunde waren treulos. Bruno brachte sein Leben, mehr oder weniger, allein zu Ende, er schummelte sich durch, mehr oder weniger, bis zum Tod. Er sah viel Fernsehen, vor allem die Nachmittags-Shows, wo die Leute davon sprachen, wie sie in ihrem Leben verraten worden waren, wie sie betrogen wurden von ihren besten Freunden und Frauen und Hunden, ihren Arbeitgebern und Kollegen und eigentlich allen. Natürlich hätte er auch den Tod gern beschummelt, mit einem Glas Kirschwasser, wie in der Geschichte von Brandner Kasper. Aber der Tod trickste ihn aus. Er holte ihn aus heiterem Himmel, es war ein Schlaganfall kurz vor seinem 55. Geburtstag. So hatten wir aber nicht gewettet, wollte er dem Tod noch sagen, aber der Tod sagte zu ihm: Mit mir wettet man nicht. Ich bin dein einziger und treuester Freund gewesen, ich bin bei dir geblieben von deiner Geburt an – und jetzt hole ich meine Treueprämie ab!
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Was ist falsch an Treue? Treue macht Dackelaugen. Hunde sollen treu sein, Freunde vielleicht auch noch, aber schon mit den Ehegatten wird es schwierig; denn bekanntlich sollte nur mit Steinen werfen, wer nicht selbst im Glashaus sitzt und dort unzüchtige Dinge betreibt. Nein, Treue ist nur ein anderes Wort für Unterwürfigkeit, Unterlegenheit, Unterordnung; und wie gefährlich sie sein kann, sollten gerade wir Deutsche besser wissen als der Rest der Welt. Schon die alten Germanen waren nämlich für ihre Treue berühmt. So beschreibt sie Johann Gottfried Herder beispielsweise in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) nicht ohne Nationalstolz: „Ihr großer, starker und schöner Körperbau, ihre fürchterlich-blauen Augen wurden von einem Geist der Treue und Enthaltsamkeit beseelt, die sie ihren Obern gehorsam, kühn im Angriff, ausdaurend in Gefahren, mithin andern Völkern, zumal den ausgearteten Römern, zum Schutz und Trutz sehr wohlgefällig oder furchtbar machten“. Das Mittelalter machte daraus die „Nibelungentreue“, die bedingungslose Loyalität zum Freund, Verwandten oder Lehnsherren – auch wenn es sich, wie im Falle der Burgunderkönige und ihres Vasallen Hagen, nachgewiesenermaßen um einen heimtückischen Mörder handelte. Nibelungentreue zum Führer forderte schließlich das Dritte Reich von all seinen Bürgern, besonders aber von seinen Soldaten. Die völlige Pervertierung des altgermanisch-treuherzigen Treuebegriffs gipfelte im bekannten SS-Motto „Meine Ehre heißt Treue“, durch den mit einem dumpfen Keulenschlag gleich zwei Tugenden historisch ein- für allemal erledigt wurden.
Treue ist aber nicht nur historisch in Verruf geraten, sondern auch unmöglich zu praktizieren: Sie liegt einfach nicht in der Natur des Menschen. Was beweist das besser als die Zahl der Seitensprünge in der Ehe, die geradezu eine Art Naturkonstante zu sein scheint, unabhängig von allen kulturellen, religiösen oder gesellschaftlichen Unterschieden? Selbst Naturforscher sind inzwischen der Meinung, dass der Mensch nicht direkt monogam veranlagt ist. Monogamie ist selbst unter den Säugetieren, die gemeinhin als höchstentwickelte Tierart gelten, nur bei ca. drei bis fünf Prozent der Arten verbreitet, darunter Fledermäuse, eher wenig bekannte Nagetiere wie die Agutis oder Pampashasen, Seehunde, Riesenotter und nur einige Affenarten. Beim Menschen spricht man eher von „sozialer Monogamie“ als einem Ergebnis stammesgeschichtlicher und sozialer Entwicklungen, aber auch in der menschlichen Frühgeschichte waren polygame Beziehungsformen weit verbreiteter. Schon Søren Kierkegaard, bekennender philosophischer Junggeselle, frotzelte deshalb: „Man hüte sich vor der Ehe. Braut und Bräutigam geloben einander Liebe für immer und ewig. Das ist freilich gar nicht so schwer, hat aber auch nicht viel zu bedeuten. Versprächen sie sich jedoch Liebe und Treue nicht für immer und ewig, sondern etwa bis Ostern oder bis zum ersten Mai künftigen Jahres, so hätten ihre Worte noch Sinn, denn das kann man möglicherweise halten. Wie geht's denn in der Ehe? Nach kurzer Zeit merkt der eine Teil, daß es nicht so ist, wie es sein müßte; nun klagt der andre Teil und schreit es so laut, daß es alle hören können: Untreu, untreu! Nach einiger Zeit kommt der andre Teil zum selben Resultat, und es wird eine Neutralität arrangiert, bei welcher die gegenseitige Untreue zu gemeinsamer Zufriedenheit quittiert“. Geteilte Untreue ist also fast schon wieder eheliche Treue!
Ebenso unmöglich scheint es dem modernen Menschen, als Schwundform wenigstens sich selbst treu zu sein und zu bleiben: Wer bitte ist denn dieses Ich, das spätestens seit Sigmund Freud nicht mehr Herr im eigenen Haus ist (und wenn ja, wie viele Ichs und in wie vielen Häusern nicht?)? Spielen wir nicht alle multiple Rollen (selbst wenn wir noch keine multiple Persönlichkeitsstörung haben), lesen wir nicht alle ständig, dass wir uns täglich neu erfinden sollen und sogar das biologische Geschlecht eigentlich nur eine soziale Konvention ist? Zeugt es da nicht von chronischem Reduktionismus und einem allzu simplen Gemüt, wenn man zu seinen Überzeugungen steht, wo sich doch die ganze Welt um einen herum jeden Tag, jede Minute ändert?
Nein, Treue ist für Dackel und nicht für Menschen. Sie ist zudem nicht nur gefährlich und unmöglich, sondern sogar unnötig. Vielleicht war es ja einmal sinnvoll, im Krieg treu zu seinem Regiment zu stehen (aber das erledigen heutzutage Drohnen); vielleicht war es einmal sinnvoll, in gesellschaftlichen Konflikten treu zu seinen religiösen oder politischen Überzeugungen zu stehen; aber dafür haben wir wahlweise den Papst, eine Vielzahl frei flottierender Religionsgemeinschaften ohne Über-zeugungszwang und schließlich und endlich Gesetze. Ob man allerdings ein gesetzestreuer Bürger sein möchte, wird gelegentlich auch schon in Frage gestellt – in Steuerfragen traditionell, in Fragen des Verkehrsrechts gewohnheitsmäßig, und das meiste andere lässt sich durch angemessene Geldstrafen unter erwachsenen Menschen regeln. Nein und noch mal nein: Treue ist für Hunde, nicht für Menschen, und den treuen Hunden wie dem Greyfriars Bobby in Edinburgh oder dem japanischen Akita-Hund Hachiko (er hatte sein Herrchen, einen Universitätsprofessor, nach seinem Tod beinahe zehn Jahre lang regelmäßig abends am Bahnhof erwartet) werden Denkmäler gesetzt, nicht dem gesetzestreuen Steuerzahler oder dem treuesten Ehemann von allen!
Was ist sekundär an Treue? Treue ist, das zeigt das SS-Beispiel, besonders leicht für falsche Zwecke zu instru-mentalisieren (allerdings erheben bis heute besonders gern militärische Verbände und Organisationen die Treue zum zentralen Wert: "semper fide"!). Das typische Sekundärtugendproblem tritt bei ihr in besonderer Schärfe auf: Treue, als rein formale Eigenschaft von Handlungen, kann jeden beliebigen inhaltlichen Wert in den Rang der Ewigkeit und absoluten Geltung erheben, und sei es eine menschenverachtende und schwerverbrecherische Nazi-Ideologie. Wenn dann noch jeder Treuebruch gleichzeitig ein Ehrverlust ist („Meine Ehre ist meine Treue“), schließt sich der Teufelskreis: Treuloses Verhalten ist ehrloses Verhalten, und ehrloses Verhalten ist treuloses Verhalten – und die gemeinsame Verdammung beider dient der noch stärkeren Festigung einer als alternativlos dargestellten Ideologie. Das Ganze wird durch ein schmuckes Ensemble von Treuesymbolen und Ritualen zementiert und der Masse schmackhaft gemacht, und schon hat man ein Volk von treuherzigen Dackeln (wahlweise mit militärischen Orden oder Mutterkreuzen). Ganz immun geworden ist jedoch auch der moderne Mensch nicht gegenüber derartigen Mechanismen. Die allgegenwärtigen Treueaktionen, Treuepunkte und Treueprämien des Handels beweisen: Treu ist der moderne Mensch vor allem seinen Konsumgewohnheiten; und seine Zahnpasta wechselt er erfahrungsgemäß nicht so leicht wie seine politische Überzeugung oder seine Sexualpartner.
Treue in ihrer positiven Form bedarf deshalb immer eines zweiten, positive inhaltliche Qualitäten transportierenden Partners. In der Ehe (oder auch in allen anderen intimen Beziehungsverhältnissen), so würden die Kritiker sagen, ist die Treue wertlos ohne die Liebe; in der Freundschaft ohne das Vertrauen; in der politischen Überzeugung ohne Menschenwürde und Menschenrechte; in der Religion ohne den festen Glauben an die absolute Güte und Herrschaft einer höheren Macht. Auch im Recht funktioniert das Prinzip von „Treu und Glauben“ nur, wenn es tatsächlich einen common sense als geteilten und geglaubten Wertmaßstab einer Gemeinschaft gibt, auf den sich das Prinzip stützen kann. Und aller Appell an die Vertragstreue nützt nichts, wenn einer der Geschäftspartner sich durch Verträge prinzipiell nicht gebunden fühlt bzw. andere, für ihn wichtigere Werte geltend macht (wie z.B. sein Recht auf unbegrenzten Gewinn, das inzwischen von Konzernen und Banken als eine Art kapitalistisches Menschenrecht gehandelt wird, vor allem dann, wenn der Gewinn aus-bleibt und der Staat deshalb einspringen muss). Treue allein ist also einfach zu wenig; in ihrer schlechtesten Form ist sie sinnlose Selbstunterwerfung und in ihrer gemäßigten Form, bestenfalls, eine antrainierte Gewohnheit, ein Ergebnis von Phantasie- und Alternativlosigkeit, begründet durch Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen beim Verlassen des Treuepfades.
Was ist zu retten an der Treue? Bevor man die Treue nun vollmundig ganz abschreibt, sollte man einen Moment inne- und sich ihre Gegenpole vor Augen halten. Das Gegenteil von Treue ist Untreue, und in ihrem Schlepptau hat sie Verrat und Argwohn (der Gegenpol zu einem so wunderbar altmodischen Wort und Wert wie „Treuherzigkeit“). Das ist eine ziemlich unschöne Triade, vergleicht man sie mit eher harmlosen Un-Tugenden wie Faulheit oder Unordentlichkeit oder sogar Unhöflichkeit. Nein, die auf den ersten Blick allzu unauffällige Relevanz von Treue in allen Arten von sozialen Beziehungen zeigt sich darin, dass ohne sie soziales Chaos herrschen würde. Deshalb haben bekanntlich sogar Verbrecherorganisationen Ehre- und Treuekodexe; darauf hat schon der englische Empirist John Locke hingewiesen: „In der Gerechtigkeit und in der treuen Erfüllung der Verträge scheinen noch die meisten Menschen übereinzustimmen; dieser Grundsatz erstreckt sich selbst auf die Höhlen der Diebe und auf die Verbindungen zwischen den verworfensten Menschen; selbst die, welche in der Verleugnung aller Menschlichkeit am weitesten gehen, halten doch einander noch Wort und untereinander auf Gerechtigkeit“. Die Mafia demonstriert zwar wie die SS, dass Treue ein hohes Missbrauchsrisiko hat; aber das ist die notwendige Kehrseite ihres ebenso hohen positiven Nutzens für soziale Systeme aller Art.
Auch in politischer Hinsicht ist gerade die Demokratie darauf angewiesen, dass die gewählten Vertreter des Volkes treu zu ihren im Wahlkampf geäußerten Absichten und Versprechen stehen und primär die Interessen ihrer Wähler vertreten, nicht ihre eigenen. Diese Maxime tritt jedoch in der Realität sehr leicht in Konflikt mit der zweiten großen politischen Tugend, der Klugheit nämlich. „Es kann deßhalb ein kluger Herr die Treue nicht halten, noch darf er es, wenn ihm dieß Halten zum Schaden ausschlüg, und die Gründe, aus denen er sie versprach, erloschen sind. Und, wären die Menschen alle gut, so würde diese Vorschrift nicht gut seyn: weil sie aber schlimm sind, und ihre Treue dir nicht halten würden, so hast Du sie ihnen auch nicht zu halten. Und niemals werden einem Fürsten gesetzliche Gründe zu Beschönigung des Nichthaltens fehlen,“ so argumentierte Niccoló Machiavelli schon vor ziemlich genau fünfhundert Jahren. Das Argument ist klar: Politische Klugheit und Treue schließen sich häufig aus, sowohl bei den Regenten als auch bei den Regierten; und wenn der eine Vertragspartner nicht treu ist, ist der andere schon gar nicht dazu verpflichtet (was im Übrigen in den gleichen Teufelskreis mafiöser Strukturen führt wie die Nibelungentreue). Letztlich setzt eine solche politische Theorie aber ein wenig erfreuliches Menschenbild voraus bzw. erzeugt es in der Realität erst, indem am Ende wirklich jeder Mensch dem anderen ein Wolf geworden ist, unabhängig davon, wer nun zuerst die Zähne gezeigt hat. Ob das eine gesunde Grundlage für eine Demokratie ist, bleibt zu bezweifeln.
Das Gleiche gilt für die Treue im Recht und im Geschäftsleben: Die Formel von „Treu und Glauben“ (bona fides) findet sich als Maßstab und Generalklausel für alle Arten von Rechtsfragen bereits bei den alten Römern, ebenso wie das Prinzip pacta sunt servanda. Die gute altmodische Treue ist bis heute der Grundstein unseres Geschäftslebens und unseres Rechtssystems; und wenn wir anfangen, Verträge willkürlich zu brechen und Rechtsgrundlagen nach einseitigen Interessen auszulegen, dann brechen alle Dämme.
Die universale Notwendigkeit von Treue erweist sich aber sogar in Kunst und Wissenschaft. So fühlten sich die meisten Künstler bis weit ins 18. Jahrhundert der „treuen Darstellung“ der Natur verpflichtet. Das antike mimesis-Prinzip wurde zwar von den Programmatikern der modernen Kunst schon vor einiger Zeit lautstark außer Kraft gesetzt, hat sich jedoch in der öffentlichen, nicht-fachmännischen Beurteilung von Kunst relativ unangerührt erhalten. Bevor man nun allzu folgsam in das Geläster der Avantgarden über den banausischen Philister einstimmt, der immer erkennen muss, was eigentlich dargestellt sein soll, könnte man wenigstens versuchsweise einmal die Machtfrage stellen: Was haben die Vertreter eben dieser Avantgarden dadurch gewonnen, dass sie ein altehrwürdiges Kunstprinzip, das offensichtlich über ein solides anthropologisches Fundament und eine Jahrhunderte lang tragfähige Ästhetik verfügte, für obsolet erklärten? Ganz klar: Sie allein wurden dadurch die Spezialisten für eine immer komplizierter und weltferner werdende Kunst; sie allein errangen wenigstens in diesem Bereich eine absolute Deutungs- und Meinungsmacht über das Heer der ahnungslosen Laien. Das spricht weder gegen moderne Kunst noch gegen abstrakte Kunstformen insgesamt – wohl aber dagegen, Gegenständlichkeit und jegliche Form des Realismus in der Kunst prinzipiell und kategorisch und nur deshalb, weil es ein Spezialistendiskurs im eigenen Interesse für angesagt erklärt hat, zu verdammen.
In den Wissenschaften schließlich ist Treue vor allem dort gefragt, wo sie sich eine gewisse Nähe zu altmodischen Dingen wie Fakten, Naturgesetzen und objektiver Nachprüfbarkeit von Experimenten oder Theorien erhalten haben – also traditionell mehr in den Naturwissenschaften als in den sich seit einiger Zeit eher als „schöne Untreue“ verstehenden Geisteswissenschaften, was aber deren gesellschaftlicher Anerkennung (zu Recht) nicht gerade gut bekommen ist. Wissenschaft insgesamt als methodische Erkenntnis beruht nämlich auf Treue – zu den Wahrnehmungen der eigenen Sinne, zu den Mechanismen des eigenen Verstandes, zu den Gesetzen von Logik und Natur, zur Zuverlässigkeit von Geräten, aber auch und nicht zuletzt zur treuen Darlegung und Diskussion von Forschungsergebnissen. Die allerwichtigste Treue jedoch, für den echten Wissenschaftler, ist die zu seinem Gegenstand: Es geht darum, ein Objekt, einen Sachverhalt, einen Zusammenhang so gut und umfassend und objektiv wie nur möglich (und bei allem Bekenntnis zu den real existierenden Grenzen objektiver Erkenntnis: das ist in gewissem Maße durch-aus möglich, und wenn man das nicht glauben will, sollte man aufhören, sich als Wissenschaftler aus öffentlichen Mitteln bezahlen zu lassen) zu erkennen und diese Erkenntnis anderen zur Verfügung zu stellen. In Zeiten, wo die erfolgreiche Einwerbung von Drittmitteln, die Beschleunigung von Studien- und Qualifikationszeiten, der persönliche Rang auf der Evaluationsliste und die addierte Anzahl von Auslandsaufenthalten und Veröffentlichungen über Ruf und Marktwert von Wissenschaftlern entscheiden, ist es vielleicht nicht ganz unnütz, an diese erste und selbstverständlichste Treuepflicht eines Wissenschaftlers zu erinnern: die gegenüber seinem Forschungsgegenstand und dessen möglichst wahrheitsgetreuer Erkenntnis.
Diese grundlegende Treuepflicht gegenüber dem Gegenstand lässt sich in gewisser Weise sogar auf alle anderen Bereiche übertragen, in denen die Treue von Bedeutung ist – und dass das praktisch alle Bereiche menschlichen und gesellschaftlichen Lebens schlechthin sind, sollte inzwischen klar geworden sein. Auch wenn man ein liberales Konzept von Ehe oder sonstigen Beziehungsverhältnissen verfolgt, in dem es auf den harten inhaltlichen Kern ankommt – Liebe oder Vertrauen – und Äußerlichkeiten des Verhaltens – wie Treue – irrelevant oder zumindest nachgeordnet sind: Was sagt es über den „Gegenstand“ der Beziehung – die Liebe, das Vertrauen als gemeinschaftliches Projekt – aus, wenn man ihm nicht treu sein muss? „Nur die Liebe zählt“, schön und gut – aber was man tut und tun muss, um diese Liebe zu verdienen, dauerhaft zu erhalten und zu pflegen, ist nur eine langweilige Nebensache, wenn sie erst einmal da ist? Beziehungen pflegen sich so wenig selbst wie ein angeblich selbstreinigender Backofen, was immer auch die Medien und die Werbung versprechen!
Das gleiche gilt für die Treue uns selbst gegenüber. Auch wenn man zu der – durchaus nachvollziehbaren und begründbaren – Einsicht gekommen ist, dass die persönliche Identität über die Zeit hinweg eine wacklige Angelegenheit ist und man zufälligen äußerlichen Einflüssen und seinen Hormonschwankungen weit stärker unterliegt, als man es gern zugeben möchte: Was sagt es aus über unser Verhältnis zu uns selbst, wenn wir uns allzu leicht selbst untreu werden – und zwar nicht nur unseren sowieso meist schwankenden Meinungen, sondern unseren Erfahrungen, unseren Erkenntnissen und am schlimmsten: unseren Gefühlen, sobald sich eine bessere Gelegenheit ergibt, ein anderes Ich sich besser verkaufen, eine andere Rolle besser vermarkten lässt, ein anderes Selbstbild endlich all das erfüllen wird, wovon wir schon immer geträumt haben (aber unseren Träumen sind wir doch als Erstes untreu geworden)? Wäre ein wenig charakterliche Beständigkeit nicht wenigstens einen Versuch wert?
Offensichtlich ist die Treue nämlich doch ein Teil der (besseren) Natur des Menschen. Denn zur Treue gehören, und das ist der Clou des Ganzen, immer zwei, selbst wenn es nur um unser Verhältnis zu uns selbst, zum eigenen Ich geht – nicht wegen der berühmten „zwei Seelen“ in uns und auch nicht wegen unserer vermeintlich multiplen Identitäten, sondern weil Identität ein reflektiertes, bewusst gemachtes Verhältnis zu sich selbst ist, eine Interaktion von Selbstbild und realem Ich sozusagen. Und Treue funktioniert nicht nur, aber am besten dann, wenn sie wechselseitig ist. Wo immer ein wechselseitiges Verhältnis auf eine längerfristige, zuverlässige Basis gestellt werden soll, wo es belastungsfähig sein muss oder wenigstens sollte – versieht man es am besten mit dem Attribut der Treue. Das setzt natürlich voraus, dass das Verhältnis an sich ein Gutes und Wünschenswertes ist, und nicht die Kameradschaft unter Mördern, seien sie in Uniform oder nicht, oder eine Identität als Massenmörder. Treue ist zwingend an einen geteilten inhaltlichen Wert gebunden; und sie ist es am innigsten an die Wahrheit: Denn „wahrheitsgetreu“ ist kein sinnloser Pleonasmus, sondern das Zugeständnis, dass es ein Akt bewusster Entscheidung ist, ob man der Wahrheit treu bleibt oder nicht. Die Wahrheit (und, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: es muss keine ewige, absolute und immergleiche Wahrheit sein; eine persönliche und situative reicht völlig aus!) ist der letzte Inhalt der Treue. So verzeichnete noch Johann Christoph Adelungs Grammatisch-Kritisches Wörterbuch Ende des 18. Jahrhunderts als erste Definition von vielen weiteren unter dem Stichwort „Treue“: „Die Eigenschaft einer Sache, nach welcher sie der Wahrheit völlig gemäß ist“.
Insofern spricht eigentlich auch gar nichts gegen die treuen Hunde, außer der üblichen menschlichen Überheblichkeit. Hunde erwarten einfach ein treues Verhalten von dem, dem sie sich aufgrund seiner natürlichen Überlegenheit (das ist ihre Wahrheit, so wie sie erfahren haben und an ihr festhalten) untergeordnet haben; und sie gehen für ihr Herrchen zum Bahnhof, jeden Tag, um ihn zu beschützen auf dem Heimweg, auch wenn er schon vor zehn Jahren gestorben ist. Und dafür wird er sie, wahr und treu, mit Futter und vielleicht einem warmen Hundekörbchen und vielen Streicheleinheiten versorgen; und selbst wenn er es nicht tut, weil er inzwischen eben bedauerlicherweise verstorben ist, bleiben sie treu! Und es wäre vielleicht auch gar keine falsche Maxime, wenn man sich selbst so behandeln würde wie einen lieben und treuen Hund, der seine guten und schlechten Tage hat und älter wird, zahnlos und vergesslich, aber ein lieber und treuer Hund bleibt. Kinder sind, so sagen uns die Entwicklungspsychologen, arglos bis zum dritten Lebensjahr; sie vermuten keine Tücke, sie sehen keinen Anlass zur Untreue, gegenüber wem auch immer. Zwar kennen sie ihre eigenen Interessen ganz genau und wissen sie auch durchzusetzen, aber ohne deshalb argwöhnisch und verschlagen zu werden. Lügen (wenn Wahrheit der Inhalt der Treue ist, dann ist die Lüge der Inhalt der Untreue) lernen sie erst später. Von wem wohl?
NEIN DANKE! – DANKBARKEIT UND GRAZIE
Nennen wir sie Christa. Ihren Namen mag sie sowieso nicht, sie hat ihn von ihrer Oma, die ihr als Kind immer Geschenke schickte, und jedes Mal musste sie sich dafür bedanken und einen seitenlangen Brief schreiben, dabei hatte sie die Geschenke meist gar nicht gemocht. Christa ist inzwischen selbst nicht mehr die Jüngste. Oft tun ihr die Beine weh, wenn sie im überfüllten Bus mit den Schulkindern zur Arbeit fahren muss, aber sie lehnt es ab, wenn eines von ihnen – was selten genug vorkommt – anbietet, für sie aufzustehen: „Nein danke, das ist wirklich nicht nötig!“ Immerhin, sie hat noch eine Arbeit, trotz ihres Alters, in einem mittelständischen Unternehmen. Aber eigentlich macht sie nur noch Dienst nach Vorschrift, nach all den Jahren, in denen niemand gewürdigt hat, was sie für die Firma geleistet hat. Damals in der Schule hatte ihre Lehrerin gesagt, aus ihr könnte mal etwas Besseres werden, mit ihrem Talent für Mathematik; sie hatte sie unterstützt, als ihre Eltern nicht wollten, dass sie aufs Gymnasium geht, und einmal hatte sie Christa sogar zu einem Wettbewerb angemeldet. Aber Christa hatte sich eine Ausrede ausgedacht und war nicht hingegangen; was hätte sie auch zu der Lehrerin sagen sollen, wenn sie nicht gewonnen, oder, noch schlimmer: wenn sie gewonnen hätte? Sie konnte sich noch nie bedanken, schon als Kind nicht; niemals fand sie die richtigen Worte, niemand brachte einem bei, wohin mit den Händen und den Augen, und ihr Vater sagte immer, mit einem leicht drohenden Unterton: „Man bekommt nichts geschenkt im Leben!“ Früher war sie verheiratet gewesen, aber man hatte sich über all die Jahre entfremdet, und sie braucht auch niemanden mehr, weder finanziell noch emotional. Wenn sie sich einsam fühlt, geht sie ins Tierheim und führt einen der Hunde aus; die Tiere sind immer so dankbar, sagt sie, und auch die Katzen kennen sie schon und laufen auf sie zu, wenn sie kommt. Ihre Freunde wollten ihr nach der Scheidung helfen, aber sie wollte kein Mitleid, nein danke, sagte sie allen, sie komme schon allein auf die Beine! Danach hatte sie ein Kollege manchmal zu einem Kaffee eingeladen, in der Mittagspause, aber sie hat immer energisch darauf bestanden selbst zu bezahlen, damit er nicht auf falsche Gedanken kommt. Außerdem hätte sie ihn dann auch einladen müssen. Jetzt fragt er sie immer seltener. Sie war auch noch nie besonders hübsch, findet sie selbst; das einzig Schöne an ihr waren ihre langen lockigen Haare, aber die Komplimente dafür waren ihr schon immer peinlich, und inzwischen trägt sie einen praktischen Kurzhaarschnitt, glatt geföhnt. Einmal hatte sie im Urlaub jemand kennengelernt, sie hatten sich gut verstanden, aber zum Abschied hatte er ihr ein Geschenk gemacht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und schämte sich, weil sie keines für ihn hatte. Deshalb hat sie ihn dann doch nicht angerufen nach der Rückkehr, und auf seinen Anruf auf dem Anrufbeantworter hat sie nicht reagiert. An den Wochenenden besucht sie ihre alte Mutter. Sie kocht dann immer noch für sie, viel zu viel, obwohl sie doch so schlecht sieht; du sollst dir doch keine Mühe machen, sagt Christa immer, ich bin doch kein kleines Kind mehr, ich kann für mich selbst sorgen! Aber das versteht die Mutter nicht, sie hat sich ihr ganzes Leben lang Mühe gemacht, es hat ihr – nicht immer, aber oft – Freude gemacht, warum soll sie damit aufhören? Wenn sie selbst einmal alt und pflegebedürftig wird, will Christa nicht ins Heim; es wäre ihr entsetzlich, von fremden Menschen versorgt zu werden, denen man danken muss, wenn sie einem den Hintern abwischen. An Gott glaubt sie schon lang nicht mehr, obwohl sie es manchmal gern würde; aber der Gedanke, dass Jesus sich für sie, für ihre Sünden, am Kreuz geopfert hat, ist ihr wirklich unangenehm.
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Was ist falsch an Dankbarkeit? „Die Dankbarkeit ist eine Last“, heißt es in einem satirischen Roman von Denis Diderot, und damit ist eigentlich das meiste gesagt. Dankbar zu sein ist heutzutage, in Zeiten des metaphysisch entlasteten und nun selbst gottgleich gewordenen Ich, rettungslos altmodisch und verstaubt. Dankbar war man früher einmal, ganz früher, und natürlich zuerst Gott; alle großen Religionen haben umfangreiche Dankesfeste, Dankesgebete und Dankesrituale entwickelt, die es dem Gläubigen nahelegen, seine Dankbarkeit gegenüber seinem Herrn und Schöpfer darzutun, und zwar möglichst umfassend und jederzeit. „Danket dem HERRN; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich“, heißt es in Psalm 107 der Bibel vor einer umfangreichen Aufzählung der Wohltaten Gottes an den Menschen: seinem Schutz vor Ungewittern, Hunger, Not, Ungerechtigkeit und allen sonstigen denkbaren Plagen. Fünfmal am Tag wendet sich der Muslim zu Allah und dankt ihm für seine Güte, und auch im orthodoxen Judentum begleiten Dankgebete den gesamten Tagesablauf. Wie sollte man dem Schöpfer alles Lebens und allen Heils – so man denn an ihn glaubt – auch nicht dankbar sein, ihm regelmäßig Opfer bringen, Kathedralen bauen und Kantaten komponieren?
Die zweite Dankespflicht galt in so gut wie allen früheren Kulturen denen, die einem physisch das Leben geschenkt hatte: den eigenen Eltern, im weiteren Sinne: der langen Reihe der Vorfahren, die geehrt und geschätzt wurden. Zur Dankbarkeit gegenüber den Eltern verpflichtet das fünfte Gebot des christlichen Dekalogs, noch vor dem Tötungsverbot. Sie ist ebenso eine der stärksten Säulen der Philosophie des Konfuzius, die die chinesische Kultur bis heute prägt, und bildet dort die Grundlage nicht nur der Familie, sondern in immer weiteren Kreisen der Gesellschaft, des Staates, ja des ganzen Kosmos: Zu den leiblichen Eltern, die ein Kind gezeugt, geboren, genährt, gekleidet und aufgezogen haben, kommen später Lehrer hinzu, die seine geistige Entwicklung prägen und ihn mit den Ideen und Traditionen seiner Gesellschaft und seiner Kultur vertraut machen – und heute meist wenig Dank dafür ernten. Denn niemand wird in diesem Leben ganz allein das, was er ist, sei es am Leib oder im Geist; niemand säugt sich allein, niemand lernt aus dem Nichts Gehen und Sprechen, niemand zieht seine eigene Persönlichkeit am eigenen Schopf aus dem Wirrwarr der Jugend, niemand entwickelt allein eine Hochkultur oder eine Hochtechnologie. Für Immanuel Kant ist deshalb die Dankbarkeit nicht nur eine beliebige soziale, sondern sogar eine „heilige Pflicht, d.i. eine solche, deren Verletzung die moralische Triebfeder zum Wohltun in dem Grundsatze selbst vernichten kann“ – wer nicht dankbar ist, kann dieser Auffassung zufolge niemals zum moralischen Handeln insgesamt vorstoßen.
Doch selbst, wo der Glaube an welchen Gott auch immer verloren gegangen ist und die Eltern und andere Autoritäten, sei es aufgrund persönlicher Erfahrungen oder ideologischer Überzeugungen, eher Undank zu verdienen scheinen, verblieben lange Zeit Restbestände der alten, religiösen wie säkularen Dankespflichten. Wer Gott nichts mehr zu schulden meinte, dankte vielleicht dem Schicksal als anonymer Macht, die einem dann und wann gnädig war und ein unverdientes Glück schenkte; oder der Natur, die einen, aus welchen Gründen auch immer, gesund und mit Begabungen in die Welt geschickt hatte. Doch auch Schicksal und Natur haben inzwischen weitgehend abgedankt – zu unberechenbar das eine, vermeintlich überwunden durch Technik und Medizin das andere. Dankbar ist man heute eigentlich nur noch für Geschenke – aber eben auch für von oben herab an Bedürftige verteilte Almosen und andere materielle Wohltaten. Dankbar ist man vielleicht noch für einen guten Rat, einen guten Gedanken, eine wohlwollende Fürsprache – aber eben auch für einen moralisch zweifelhaften Gefallen nach dem Motto: „Eine Hand wäscht die andere“. All das illustriert nur aufs genaueste Diderots Analyse: „Die Dankbarkeit ist eine Last“. Sie macht dem Menschen nämlich deutlich, dass er, so gern er sich auch als autark, selbstbestimmt, unabhängig von allem und jedem und ganz als Schöpfer des eigenen Ich verstehen möchte, genau das niemals sein kann. Immer ist der Mensch abhängig von Anderen, vom Kleinkind bis zum Greis, immer steht er in asymmetrischen Machtverhältnissen, sei es wirtschaftlich, physisch, emotional, geistig, kommunikativ – und je größer die Differenz ist, desto tiefer das Ressentiment: „Große Verbindlichkeiten machen nicht dankbar, sondern rachsüchtig“, befand treffend schon Friedrich Nietzsche.
Was ist das Sekundäre an der Dankbarkeit? Sie pappt ein bisschen an den Händen, sozusagen; sie ist ein Schmiermittel für soziale Beziehungen, die einfach besser funktionieren, wenn schon das kleine Kind dazu abgerichtet wird, nett „bitte“ und „danke“ zu sagen und damit einen Anschein von Freundlichkeit zu wahren, der eben seiner Äußerlichkeit wegen keinerlei innere Verbindlichkeit voraussetzt. Dankbar kann man außerdem wiederum für alles Mögliche sein: Dankbar ist der Auftraggeber eines Mordanschlags dem Profikiller ebenso wie der Bauunternehmer dem Stadtrat, der ihm unter der Hand einen Auftrag für eine lukratives öffentliches Bauprojekt zugeschoben hat. Dankbarkeit stiftet ihrer Struktur als ungleiche Zweierbeziehung wegen geradezu zu unmoralischen Handeln an: Denn wer eine Dankesschuld anerkennt, hat eine rein formale Pflicht zur Rückzahlung, möglichst mit gleicher Münze, die nichts mit einer freien moralischen Entscheidung zu tun hat. Gebe, damit dir gegeben wird – das ist so gesehen eine ökonomische Maxime, keine primär ethische, und weshalb sollte man sich eigentlich für ein schnödes Tauschgeschäft auf Gegenseitigkeit bedanken?
Sowohl der Verlust des tradierten Ansehens von Autoritäten als auch die Kritik an vermeintlich nur äußerlichen und damit beliebigen Formen gesellschaftlichen Wohlverhaltens haben dazu geführt, dass viele Menschen Situationen gezielt vermeiden, in denen sie Dankbarkeit äußern müssten. Zum Glück wird das von Eltern oder Lehrern auch nicht mehr wirklich erwartet. Angesichts des zunehmenden Verschwindens von Kindern aus dem öffentlichen Leben und dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck, der auf jungen Eltern wie auf ihrem kostbaren Nachwuchs lastet, kann man den Eindruck gewinnen, dass die Eltern gar umgekehrt ihren Kindern dankbar dafür zu sein haben, dass sie, die Eltern, endlich durch deren Hilfe zur vollwertigen Entfaltung ihrer Persönlichkeit gelangen. Ähnliches gilt für Lehrer und das, was man früher einmal „Vorbilder“ nannte: Nunmehr dankt der Meister dem Schüler dafür, dass er seine schließlich von vielerlei bunten Dingen abgelenkte, rare Aufmerksamkeit auch einmal für einige Minuten einem lehrreichen Vortrag widmet. Aber sogar in alltäglichen Handlungen des Gebens und Nehmens macht sich eine gezielte – vielleicht nicht Un-, aber Nichtdankbarkeit breit. Die vermeintlich hochmoralisch begründete Beteuerung zu Weihnachten, sich dem achso schrecklichen Konsumwahn entziehen zu wollen und deshalb gegenseitig nichts mehr zu schenken, hat häufig genug mehr damit zu tun, dass man sich das, was man sich wirklich wünscht, besser selbst kaufen kann; und man dabei eben nicht in die Not gerät, entweder Dankesworte für Ungewolltes zu stammeln, oder schlimmer noch: Ungewolltes und Ungeliebtes vielleicht sogar innerlich anzunehmen, auf jeden Fall aber sich irgendwie bedanken zu müssen und möglichst ein materiell gleichwertiges Geschenk zur Hand zu haben. Gekauft wird deshalb nicht weniger.
Ebenso ritualisiert ist inzwischen die Beteuerung, der oder die Andere möge "sich doch keine Mühe machen" – handele es sich nun um einen feierlichen Anlass oder nur ein gemeinsames Abendessen, einen Besuch oder eine nicht-professionell organisierte Veranstaltung (für Geld hingegen erwartet man nicht nur Mühe, sondern eigentlich Perfektion!). Denn wenn sich einer Mühe gemacht hat, so offensichtlich die heimliche Befürchtung, müsste man ja diese Mühe irgendwie besonders anerkennen; müsste gar bei nächster Gelegenheit sich selbst auch Mühe geben; und wo soll das schließlich hinführen, außer in einen unbegrenzten Wettbewerb und noch mehr Stress? Wer jedoch genug lieblose zubereitete Partysalate gegessen, schlecht organisierte Unternehmungen ertragen und dilettantische Aufführungen angeschaut hat, der würde es doch schätzen, wenn sich ab und zu irgendjemand noch ein bisschen Mühe geben würde, einfach so und um der Sache willen. „Keine Mühe machen“ ist insofern einfach nur Code für: „Das ist mir echt zu anstrengend, und ich weiß auch wirklich nicht, ob unsere Beziehung mir das wert ist!“
Was ist an der Dankbarkeit zu retten? Aber braucht man die Dankbarkeit wirklich noch, wenn sich jeder und jede– zumindest in der westlichen Welt und einer bestimmten Gesellschaftsschicht – das meiste selbst kaufen und fast alles selbst machen kann, wenn Autoritäten missbraucht werden und Gott bekanntlich lange schon tot ist? Viel-leicht ist zunächst zu fragen, ob es eigentlich überhaupt menschlich möglich ist nicht dankbar zu sein – wo es doch von alters her Geschichten gibt, die sogar den Tieren, unseren moralisch vermeintlich nicht zurechnungs-fähigen Mitgeschöpfen, Dankbarkeit zuschreiben. Der griechische Geschichtsschreiber Aulus Gellius überliefert, angeblich sogar aus einer noch älteren ägyptischen Quelle, die Geschichte vom Sklaven Androklus, der von seinem Herrn misshandelt wurde und sich in einer Höhle versteckte. Dort spürte ihn ein Löwe auf, der an der Pranke verletzt war; zutraulich näherte er sich dem sicherlich verängstigten Sklaven und streckte ihm die Pfote entgegen. Androklus riss sich zusammen und entfernte den Dorn, woraufhin der Löwe mit ihm seine Beute teilte und so auch seinem Retter das Leben rettete. Später wurde Androklus gefangen genommen und in den Circus Maximus gebracht, wo er von Tieren zu Tode gehetzt werden sollte. Aber dort traf er seinen alten Freund, den Löwen wieder, der erneut vertraulich auf ihn zukam und ihm die Füße leckte. Das rührte sogar die blutrünstigen Römer, beide bekamen ihre Freiheit geschenkt und liefen fortan vielbewundert gemeinsam durch die Straßen Roms. Eine verdächtig ähnliche Geschichte ist später vom Kirchenvater Hieronymus überliefert, die rührende Szene wird auch gern in der bildenden Kunst dargestellt – und wirft die Frage auf, warum sogar ein von Natur aus wildes Beutetier zu einem Verhalten fähig ist (oder wenigstens sein soll), für das viele zivilisierte Menschen sich heute zu gut zu sein scheinen.
Für viele Autoritäten der Moralphilosophie war es deshalb dem Menschen eigentlich von Natur aus unmöglich, undankbar zu sein. Cicero befand: „Wir sind von Natur so beschaffen, dass die Grundlagen der Thätigkeit, der Liebe, der Freigebigkeit und Dankbarkeit in uns liegen“ – man beachte die Zusammenstellung: Die Dankbarkeit wird hier den in der Moderne weitaus höher sozial geschätzten (Primär-)Tugenden von Liebe und Großzügigkeit an die Seite gestellt! Auch für den Empiristen David Hume ist die Dankbarkeit einfach „eine Art natürlicher Instinkt“, der sich automatisch einstellt, wenn wir Wohltaten empfangen. Besonders wichtig ist sie für Jean-Jacques Rousseau in der Erziehung. Sie stabilisiert nicht nur die enge und heikle Bindung zwischen Erzieher und Zögling, sondern lädt sie positiv emotional auf: Wer dankbar ist, der empfindet Rührung, freut sich – und lernt damit natürlich auch leichter und besser. Dass eben diese Verbindung der Dankbarkeit mit sehr positiven Emotionen einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur psychischen Gesundheit im weitesten Sinne leistet, hat die psychologische Forschung in vielen Experimenten bewiesen: Dankbare genießen nicht nur die vielfältigen Segnungen positiven Denkens, sondern sind prinzi¬piell altruistischer, weniger depressiv, zufriedener mit ihren sozialen Beziehungen. Dankbarkeit ist, wie so viele Sekundärtugenden, selbstverstärkend.
Nun hat bekanntlich heutzutage jeder das gute Recht, unglücklich zu sein (es wäre aber schön, dann auch weniger laut zu jammern). Gleichwohl kann man die Reichweite dankbaren Verhaltens auch über reine Nützlichkeitserwägungen hinaus erstrecken, wie es Kant tut, wenn er von der „heiligen Pflicht“ spricht, ohne die Moralität schlechthin unmöglich wird. Vor ihm befand bereits Spinoza apodiktisch: „Nur die freien Menschen sind gegeneinander recht dankbar“. Nur solche nämlich könnten überhaupt befreundet im wahrhaft moralischen Sinn des Wortes sein und damit auch freiwillig danach streben, einander so viel wie möglich wohlzutun. Nicht zur moralischen Freiheit vorgestoßene Menschen hingegen seien lieber undankbar bzw. eigentlich noch nicht einmal zur Undankbarkeit fähig: „Die Dankbarkeit, welche die von blinder Begierde geleiteten Menschen einander erweisen, ist zumeist eher ein Handel oder Köder als Dankbarkeit. Undankbarkeit sodann ist kein Affekt. Doch ist Undankbarkeit schändlich, weil sie meistens einen von Hass, Zorn, Hochmut, Geiz usw. in hohem Grad erregten Menschen anzeigt. Denn wer aus Dummheit nicht weiß, Gaben zu vergelten, ist nicht undankbar“. Man kann also durchaus unterscheiden – und das erst erhebt die Dankbarkeit über die reine Sekundärtugend – zwischen einer freien und bewusst realisierten Dankbarkeit in einem gleichwertigen Austauschverhältnis und einer unfreien und bewusst missbrauchten Dankbarkeit als ökonomischem Kalkül in einem asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnis. Letztere ist jedoch kein Grund, erstere und mithin die Dankbarkeit als Ganzes zu verwerfen!
Darüber hinaus gehört die Dankbarkeit ganz besonders eng zur guten Form. Das zeigt sich schon daran, dass die Grazie ihren Namen seit der Antike vom lateinischen Wort für Dankbarkeit (gratia) bzw. den dafür zuständigen Göttinnen, den Grazien, hat – die eben nicht nur einfach hübsch sind oder gar primitiv verführerisch, sondern anmutig: Sie zeigen bewegte Schönheit in fließenden Formen wie im Tanz; sie stehen für eine Schönheit des Leibes, die eng mit innerer Heiterkeit und Ausgeglichenheit verbunden ist und damit eine schöne Seele voraussetzt, nicht nur einen attraktiven Körper. Doch die Anmut scheint mit der Dankbarkeit verloren gegangen zu sein. Der inzwischen eingetretene Verlust am anmutigen Formenreichtum des guten, gesellschaftlichen Umgangs ist aber nicht nur einfach ein Kollateralschaden vermeintlicher Emanzipation. Gerade Friedrich Nietzsche, der die Tücken der Dankbarkeit wie so vieler anderer gesellschaftlicher Konventionen besonders gut erkannt hat, sah auf der anderen Seite auch ihren formal-erzieherischen Wert: „Huldigen lernen. – Auch das Huldigen müssen die Menschen lernen wie das Verachten. Jeder, der auf neuen Bahnen geht und viele auf neue Bahnen geführt hat, entdeckt mit Staunen, wie ungeschickt und arm diese vielen im Ausdruck ihrer Dankbarkeit sind, ja wie selten sich überhaupt auch nur die Dankbarkeit äußern kann. Es ist, als ob ihr immer, wenn sie einmal reden will, etwas in die Kehle komme, so daß sie sich nur räuspert und im Räuspern wieder verstummt“. Natürlich ist es leichter, „nein danke“ zu sagen und sich im Überlegenheitsgefühl der eigenen Unabhängigkeit von fremden Wohltaten zu sonnen. Aber wäre es nicht einmal eine Freude, und zwar sowohl für den Dankenden als auch den Bedankten, dann und wann ein wirklich gemeintes und vielleicht sogar graziös ausgedrücktes „Dankeschön“ zu bekommen?
Nennen wir sie Dora. Sie war mit dem buchstäblichen silbernen Löffel im Mund geboren worden. Ihre Eltern waren reich und verkehrten in den höchsten Kreisen, die Tochter war ein kleiner Engel: Wie sie singen konnte, wie sie lachte – allein wenn sie nur die Straße entlang ging, im beschwingt daher hüpfenden Gang des geborenen Glückskindes, schaute sich jeder nach ihr um. Die Eltern lasen ihr jeden Wunsch von den Augen ab: Sie bekam das teuerste Spielzeug, die schönsten Kleider, Berge von Designerschuhen; später kamen dann die Reisen, die Privatschule in der Schweiz, die Autos. Dora wurde, ohne dass sie viel dazu tun musste, ein It-Girl, das jeden Tag mühelos eine neue abgedrehte Mode erfand. Sie hatte Scharen von hysterischen Fans und Followers, und die Medien liebten sie: ihren immer noch beschwingten Gang, nun aber mit leicht lasziv schwingenden Hüften; das Engelsgesicht und dazu die verrückten Klamotten, mal vom Müll, mal vom Topdesigner; die coolen Sprüche, die sie in ihrer Kleinmädchenstimme mit den rauen Untertönen am laufenden Band produzierte. Am meisten aber liebten sie ihre Abstürze, von denen nie ganz klar war, ob sie sie nun selbst kunstvoll inszeniert hatte, oder ob unter der Engelsgestalt wirklich ein multipel drogensüchtiger, männer- und frauenverschlingender, jeden Exzess bis zur allerbittersten Neige auskostender Vamp schlummerte, der sich über all die braven Bürger, Steuerzahler und Kleinfamilien lustig machte, weil sie nur ein billiges Scheinleben mit einer langweiligen Spießermoral lebten. Was kostet die Welt?, fragte Dora gern, um dann mit ihrer PlatinCard zu wedeln und hinzuzufügen: Schon gekauft! Als sie jedoch eines Morgens nach einer langen Partynacht in einer Hotelsuite irgendwo auf der Welt aufwacht – draußen steht seltsamerweise ein großer künstlicher Eisberg vor einem Meer aus Palmen – und in den Spiegel blickte, sieht sie die erste Falte in ihrem Gesicht: auf der Stirn, die sie so gern kokett kräuselt, wenn sie ihre Sprüche säuselt. Ihr Leben dehnt sich in diesem Moment ins Endlose vor ihr aus, sie kann wie immer alles haben und die Welt kaufen, aber sie will auf einmal gar nichts.
Nennen wir ihn Daniel. Von Geburt an schenkte ihm das Schicksal nichts: Seine Kindheit war eine Kette von Katastrophen aus Armut, Vernachlässigung, Gewalt und unendlicher Einsamkeit. Aber Daniel ließ sich nicht unterkriegen. Im Religionsunterricht hatten sie einmal die Geschichte von Daniel in der Löwengrube gelesen, und er hatte beschlossen, dass auch er sich nicht einschüchtern lassen würde; ein Engel würde zu seiner Rettung kommen, vielleicht nicht gleich, aber irgendwann ganz sicher! Zudem hatte er ein einziges, kostbares Talent, dass er eher zufällig entdeckte hatte – vielleicht war es sogar damals in der Grundschule gewesen, als er ein Bild von Daniel in der Löwengrube zeichnete, in dem die Löwen auf einmal richtige Mähnen hatten und grimmig schauten und ein eigenes Leben entwickelten, das nicht mehr aufhörte. Daniel konnte zeichnen, und er zeichnete um sein Leben. Heimlich ging er in die großen Kunstmuseen (die waren wenigstens geheizt im Winter) und zeichnete dort, auf billigen Blöcken, aber mit Künstlerstiften, die er im Kaufhaus geklaut hatte: Landschaften mit Palmen und Eisbergen, die er nie sehen würde, Stillleben mit kostbar funkelnden, rätselhaften Gerätschaften, die er nie benutzen würde, und Porträts von reich gekleideten, berühmten Männern und Frauen, deren Namen er nicht kannte und die lange schon tot waren. Er zeichnete aber auch die Hochhaussiedlung, die schäbigen Balkone mit den vertrockneten Geranien vom letzten Sommer, auf denen Männer in schmuddeligen Unterhemden eine Zigarette nach der anderen rauchten; er zeichnete die verwahrlosten Treppenhäuser mit den Ratten und ihrem Uringeruch (man meinte ihn tatsächlich riechen zu können auf den Zeichnungen); und seine Mutter, wie sie ihren Rausch ausschlief, eine Zigarette noch im Mundwinkel und den Kopf seltsam nach hinten verdreht. Und auf einmal war der Engel gekommen, und von einem Tag auf den anderen wurde alles anders. Sein besoffener Onkel hatte ihn aus Jux bei „Wetten dass“ angemeldet: Daniel könne mit verbundenen Augen in fünf Minuten fünf beliebige Personen aus dem Publikum porträtieren, die er jeweils nur drei Sekunden anschauen durfte. Seine Porträts waren perfekt getroffen, und sie waren witzig: Er porträtierte nämlich jeden Einzelnen nach dem Muster eines berühmten Meisterwerks, und junge Kerle fanden sich als imposante Davids, kichernde Mädel als aufgefrischte Mona Lisas und Familien im Stall bei der Geburt des Christuskindes wieder (so hatte er auch Dora kennengelernt, die er als schlafende Venus auf Tizians berühmtes rotes Sofa legte, sogar ihr damaliges Lieblingshündchen mit Perlencollier war dabei). Daniel hatte niemals eine Akademie besucht, er hatte noch nicht einmal einen Schulabschluss, aber gerade das liebten die Medien an ihm: Er hatte es geschafft, ganz allein und nur mit seinen geklauten Stiften (er spendete dem Kaufhaus später eines seiner Meisterwerke, den CEO als Dagobert Duck im Stil von Andy Warhol), ein underdog, der zu einem der Leitwölfe der Kunstwelt geworden war und Gift und Galle spuckte, wenn man ihn auf seine kleinbürgerliche Herkunft ansprach. Daniel musste immer weiterzeichnen, die Bilder wurden ihm aus den Händen gerissen, sein Agent wurde noch reicher als er und seine Galerie hatte Standorte in allen großen Kunstmetropolen der Welt. Eines Abends zerbrach ihm jedoch einer seiner Lieblingsstifte, als er gerade ein Selbstporträt zeichnen wollte (er selbst als Dürer, Raffael und Picasso in einer Person in einem imaginären Museum), und seine rechte Hand zitterte ein wenig. Als er noch einmal in den Spiegel schaut, sieht er nicht mehr sich, sondern alle seine Bilder, die er jemals gezeichnet hat, eines über das andere geschoben, eine Fratze. Er ist in einem Hotelzimmer irgendwo auf der Welt, und draußen stehen seltsamerweise Palmen vor einem Eisberg.
Es könnte sein, dass sich Dora und Daniel am nächsten Tag unter den Palmen treffen, und sie erkennen sich wieder. Es stellt sich heraus, dass beide am gleichen Tag geboren sind, und dass komischerweise heute dieser Tag ist, vor dem sie beide geflohen sind. Und sie haben den gleichen Wunsch zu ihrem Geburtstag: Sie wollen ein Jahr Pause von ihrem Leben; kein Luxus mehr, keine Kameras und keine Schlagzeilen, keine Followers und Fans, keine neuen Klamotten und keine Kunstwerke; ein bisschen gesünder leben vielleicht, irgendwo, wo einen keiner kennt und wo die Leute ganz normal ihr Leben leben, weitab von Palmen und künstlichen Eisbergen und den Metropolen und Nachtklubs. Ein paar gute Freunde, das wäre schön, und man könnte zusammen kochen, etwas Einfaches, aber Gutes, aus regionalem Anbau natürlich, und einen guten Wein trinken, nicht zu viel, nicht zu teuer. Man könnte einmal ein Buch lesen, einfach so, von vorn bis hinten, oder die Hauskatze zeichnen, wie sie sich vor dem Kamin ausstreckt und immer länger dabei wird. Man könnte – und plötzlich sehen sie einander an und brechen in Gelächter aus: War das nicht immer das Schlimmste für sie gewesen, ein ganz normales Leben, unter Spießern, umzingelt von Gartenzwergen und vom Gartenzaun? Aber dann werden sie wieder ernst, und Einer sagt: Das ist nicht einfach, weißt du. Das Einfachste ist das Schwerste. Und der Andere sagt: Man muss ja nicht stehen bleiben. Man kann in alle Richtungen weitergehen, so weit, wie man nur kommt. Aber dann muss man zur Mitte zurückkommen können.
***
Was ist falsch an Mäßigkeit? Dass man sie so leicht mit Mittelmäßigkeit verwechseln kann, und ein schlimmeres Schimpfwort gibt es kaum: Mittelmäßig will nun wirklich keiner sein; lieber ist man noch Allerletzter als Zweitbester oder gar irgendwo abgeschlagen im Mittelfeld. Mittelmäßigkeit ist das Gegenteil von Exzellenz; und dem Exzellenz-Prinzip, das aus der Welt des Sports und der Sphäre der Wissenschaften und Künstle ausgebrochen ist und inzwischen so gut wie alle Lebensbereiche erobert hat, so dass auch noch der letzte Dorfbäcker exzellente Brötchen backen muss und jeder Kleinunternehmer ein Leuchtturm mit markanten Alleinstellungsmerkmalen ist, kann sich keiner mehr entziehen: to be excellent or not to be, das ist nun die Alternative. Das kontrastiert zwar merkwürdig mit einer gewissen Leistungsunlust zumindest der übersättigten Wohlstandsnationen des Westens und einer Mentalität des Sich-Durchmogelns mit dem geringstmöglichen Arbeitseinsatz, die schon Schulkindern nahegelegt wird („der Ernst des Lebens kommt noch früh genug!“). Aber letztlich kann sowieso nur einer der Erste sein, und für den Rest gilt: Dann schaffst du es eben beim nächsten Mal! Jeder kann es schaffen, wenn er nur energisch genug will, wir leben in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, und je unmöglicher dein persönliches Exzellenzziel ist, desto besser!
Zu dieser Verachtung der Mittelmäßigkeit gesellt sich das ebenfalls ins Extreme gesteigerte Individualitätspathos der Moderne: Jeder einzelne Mensch ist nicht nur irgendwie besonders, sondern einzigartig und unverwechselbar; das ist die Geschäftsgrundlage der abendländischen Moderne, mit dieser Prämisse steht und fällt ihr Glückversprechen für alle (die logische Konsequenz, dass Besonderheit, sobald man sie auf alle ausgedehnt hat, aufhört besonders zu sein, erfordert offensichtlich zu viel dialektische Verrenkung). Und es ist ja auch etwas Wahres daran: Schon genetisch sind wir unverwechselbar, keine individuelle DNA gleicht der anderen (darüber, dass die menschliche DNA zu gut 99 % mit der des Bonobo-Schimpansen übereinstimmt und die Schnittmenge noch mit Mäusen und Ratten über 90 % liegt, denkt man besser nicht nach). Aber es geht schließlich nicht nur um schnöde Biologie beim Kult der Persönlichkeit; es geht vor allem darum, was ein jeder aus seinem Leben, seinen ganz besonderen Anlagen und seinen Chancen macht, es geht um die ganz persönliche Signatur, die er seinem Leben aufprägt und die ihn erst unverwechselbar macht! Selbst wenn man also ein mittelgroßer, mittelschwerer, der Mittelschicht angehöriger Mitteleuropäer mit alles in allem mittelmäßigen Talenten wäre, wie sie zu Scharen die Straßen einer mittleren Großstadt bevölkern, hat man trotzdem unerbittlich etwas ganz Besonderes zu sein: to be special or not to be!
Denn mittelmäßig zu sein wäre langweilig; mittelmäßig sind der Durchschnitt und das Normale, der Spießer und der Philister, Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller. Normal sein ist eigentlich fast schlimmer noch als mittelmäßig sein; interessant, aufregend, sexy ist das Unnormale, das Abweichende, das Auffallende – und wer das nicht glaubt, hat keine Phantasie, ist von seinen tyrannischen Eltern in seiner freien Persönlichkeitsentfaltung unterdrückt worden oder ist ein feiger Anpasser an gesellschaftliche Normen, die nur dazu dienen, alles gleich zu machen, damit es besser in die Schubladen grauer Bürokraten passt. Außerdem gibt es „normal“ eigentlich gar nicht. Wie soll es denn Normalität in einer Welt geben, in der nicht ein Sandkorn dem anderen gleicht, geschweige denn das Musterexemplar der Natur, der Mensch, der Krönung der Schöpfung, seinem Mitmenschen?
Nein, mittelmäßig wollen wir nicht sein, und normal können wir nicht sein. Wir wollen aber auch nicht „mäßig“ im eigentlichen Wortsinn sein, der gegenüber dem (Miss-)Verständnis von Mäßigkeit als Mittelmäßigkeit fast völlig verloren gegangen ist: also mäßig im Sinne von Selbstdisziplin, freiwilliger Einschränkung, Verzicht, Entsagung wohl gar. Angesagt sind der Ruhm, der Exzess, die grenzenlose Freiheit, die unbeschränkte Selbstentfaltung. Für eine Viertelstunde Ruhm tun die Menschen die unglaublichsten Dinge; und wer es nicht bis zur Talent-Show oder in einen Nachmittags-Talk beim Privatfernsehen bringt, nicht genug Facebook-Follower hat und ganz allein vor sich hin twittert, der kann wenigstens den Mount Everest erstürmen, zum Iron Man werden oder das Leben mithilfe synthetischer Drogen zu einer nicht enden wollenden Party machen. Und wenn es zur legendären ewigen Größe gehört, dass man jung stirbt, dann ist das eben so – wer will schon im Altenheim vor sich hin modern, dement und inkontinent, ein vergessenes Relikt, das sich selbst überlebt hat? Live fast, die young! (bezahlt wird später)
Da trifft es sich gut, dass auch das kapitalistische Wirtschaftssystem mit seiner quasi-religiösen Wachstumsverherrlichung dringend darauf angewiesen ist, dass möglichst viele Produkte von möglichst vielen Menschen möglichst schnell konsumiert werden. Allgemeine Mäßigkeit wäre Gift fürs Wachstum, mit Entsagung verkauft man keine Modeartikel, und die Besinnung auf innere Werte und harmonischen Ausgleich steht dem Streben nach Vergrößerung des äußerlichen Prestiges doch ziemlich diametral entgegen. Nein, es ist besser, wenn wir uns alle etwas gönnen; und dann noch etwas mehr, weil wir es ja verdient haben; und noch eine Portion, weil es die notleidende Wirtschaft braucht; und noch einen Nachschlag, weil die Nachbarin auch schon wieder das Neueste gekauft hat; und schließlich noch einmal einen großen Happen einfach so, zwischendurch, weil wir uns so daran gewöhnt haben – das Konto ist sowieso schon überzogen und alle reden zwar vom Sparen, aber doch bitte nicht jetzt und heute und hier!
Was ist sekundär an Mäßigkeit? Wird Mäßigkeit als Mittelmäßigkeit verstanden, ist sie trivial: Einen arithmetischen Mittelwert ausrechnen kann jeder, der einen Taschenrechner hat, und was ist schon damit gewonnen, wenn wir alle schön durchschnittlich sind? Zudem muss offensichtlich immer präzisiert werden: der Mittelwert von was genau, in welcher Beziehung, zwischen welchen Extremen? Zwischen zu kalt und zu heiß ist die laue Mitteltemperatur, zwischen reich und arm die Mittelschicht, zwischen schön und hässlich das Alltagsgesicht – und so weiter. Mäßigkeit im Allgemeinen ist damit gleichzeitig unspezifisch und abstrakt: Was soll man sich eigentlich vorstellen unter einer derart leeren Tugend? Und selbst wenn man geneigt ist anzuerkennen, dass in manchen Dingen der Mittelwert seine Vorteile hat (man möchte schließlich weder bei 100° Celsius in der Badewanne gekocht werden noch bei 0° Celsius Eiszapfen an die Zehen bekommen, sondern sich in lauwarmen Wasser entspannen); selbst wenn man vielleicht sogar zugeben würde, dass weder Superreichtum noch ultimative Armut erstrebenswerte Zustände sind und ein abgestuftes Maß an Glücksgütern sozial verträglicher und individuell zufriedenstellender ist: Ist das nicht ein viel zu weites Feld? Und wer bestimmt eigentlich, wo die richtige Mitte in all den Fällen ist, die man nicht mit dem Thermometer messen oder als Durchschnittseinkommen ausrechnen kann?
Zudem ist die Mäßigkeit ein natürlicher Feind der Größe, nennen wir sie nun Exzellenz oder Genie, Übermensch oder Superstar. Größe jedoch wird bewundert, und zu Recht. Extremitäten sind nicht nur spannender und interessanter als Normalitäten; sie sind (wahrlich nicht immer, aber wenigstens manchmal) schöpferisch. Neues entsteht häufig in großen Würfen Einzelner, die ja auch nett zuhause hätten bleiben können und ein lauwarmes Bad nehmen statt das Penicillin zu entdecken oder den Elektromotor zu erfinden oder die Relativitätstheorie zu entwickeln! Ohne den Mut zur Größe, zur Extremität, zum Außerordentlichen würden wir alle noch wie in der Steinzeit um das Feuer sitzen (wenn wir es denn schon entdeckt hätten) und denen, die immer wieder zu den Sternen aufschauen, mit dicken Steinen die Schädel einschlagen! Mit Mäßigkeit kommt man weder auf den Mond noch auf den Mars, und Mittelmäßigkeit hat auch noch keine Exzellenzinitiative gewonnen.
Was ist zu retten an der Mäßigkeit? Zunächst und ein- für allemal: Mäßigkeit ist nicht identisch mit Mittelmäßigkeit! Friedrich Nietzsche sah den Unterschied sehr genau, warnte aber: „Von zwei ganz hohen Dingen; Maß und Mitte redet man am besten nie. Einige wenigen kennen ihre Kräfte und Anzeichen, aus den Mysterienpfaden innerer Erlebnisse und Umkehrungen: sie verehren in ihnen etwas Göttliches und scheuen das laute Wort. Alle übrigen hören kaum zu, wenn davon gesprochen wird, und wähnen, es handele sich um Langeweile und Mittelmäßigkeit“. Reden wir aber trotzdem etwas ausführlicher von „Maß und Mitte“, die Nietzsche hier nicht nur von der langweiligen Mittelmäßigkeit abgrenzt, sondern sogar in den Rang von tiefen religiösen Mysterien erhebt, die mehr erlebt als erkannt werden; und versuchen wir es trotz seiner Warnung erst einmal mit klaren Worten und analytischer Trennschärfe: Was ist eigentlich der Unterschied?
Mittelmäßigkeit ist am einfachsten als ein quantitativ zu bestimmender Durchschnittswert vorstellbar – und damit von Natur aus begrenzt auf Eigenschaften und Sachverhalte, die abzählbar sind. Einen statistischen Mittelwert kann man vom Einkommen aller Hamburger Bürger, von der Körpergröße aller 1997 geborenen männlichen Kinder in Deutschland, von den Militärausgaben der USA zwischen 1990 und 2010 bilden. Aber wie bildet man einen Mittelwert beispielsweise in der Kunst? Denn die Mittelmäßigkeit ist ein verbreiteter Kampfbegriff der Kritikerzunft, ja sogar einer ihrer tödlichsten: Mit nichts kann man einen Künstler schneller erledigen als mit einem Achselzucken und der lässigen Bemerkung, das sei ja bestenfalls mittelmäßig. Was damit aber genau gemeint ist, ist schon schwerer zu sagen: im Vergleich zu was eigentlich? Einer absoluten Werteskala aller Kunst zwischen Michelangelo, Goethe und Mozart auf der einen Seite und Groschenheftchen, Gemälden mit röhrenden Hirschen und Helene Fischer auf der anderen? Der Vergleich hinkt auf unendlich vielen Beinen, selbst wenn man meint, dass über Geschmacksurteile durchaus zu streiten ist. Ein Kunstwerk kann deshalb vielleicht einen mittleren Preis oder einen mittleren Umfang haben; es aber im Bausch und Bogen als ästhetisch mittelmäßig zu verurteilen, verlangt zumindest die Offenlegung der verwerteten Werteskala.
Demgegenüber ist die Mäßigkeit im ursprünglichen Sinne ein nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu verstehender Begriff; und sie ist eng mit dem vieldeutigen Begriff der „Mitte“ (also nicht nur seiner arithmetischen Bedeutung als Mittelwert) verbunden. Mäßigkeit entsteht in einem Prozess des Urteilens in einer konkreten Situation, bei dem die mittlere Position in diesem ganz speziellen Fall ermittelt wird, indem man die polaren Extreme (die für jeden andere sind!) in den Blick nimmt und gegeneinander abwägt. Und sie mündet in ein entsprechendes Handeln, dass durch besondere Ausgewogenheit gekennzeichnet oder, mit einem altmodischen Worte gesprochen: besonnen ist. Wer nach den Gesetzen der Mäßigkeit handelt, muss also zuvor einen Schritt von seinen unmittelbaren, nicht reflektierten Interessen zurücktreten, die meist intuitiv auf ein Maximum zusteuern (ich will alles, und zwar sofort, schreit das Freudsche „Es“, und das ist sein Job!); er muss die längerfristigen Folgen seines Handelns aus einer gewissen Distanz bedenken, sowohl für sich selbst als auch für andere (hier kommt das Freudsche „Über-Ich“ ins Spiel, das uns zuflüstert: Reiß dich gefälligst zusammen!); und er muss dann eine Entscheidung treffen, die einen möglichst harmonischen Interessenausgleich herstellt (und damit ist dann auch das liebe „Ich“ in der Mitte zwischen beiden hoffentlich zufrieden).
Die Mäßigkeit in diesem traditionellen Sinne ist eine der ältesten Tugenden in der Geschichte der Ethik schlechthin. Und sie ist wahrscheinlich auch diejenige Tugend, die den stärksten Umwertungsprozess im Durchgang durch die Geschichte erfahren hat: Keine andere antike Tugend ist von so weit oben so tief gefallen. Kein geringerer als Platon hatte die sophrosyne (die deutschen Übersetzungen schwanken zwischen „Besonnenheit“, „Mäßigkeit“, „Beherrschung“) als eine der vier Kardinaltugenden neben Weisheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit inthronisiert – und ihre drei Kardinalskollegen werden bezeichnenderweise bis heute als klassische Primärtugenden respektiert. Noch dem mittelalterlichen Christentum galt die temperantia sogar als Mutter aller Tugenden.
Mäßigkeit ist zudem kulturenübergreifend anerkannt; sie ist auch ein Grundpfeiler beispielsweise der traditionellen chinesischen Philosophie des Konfuzius. Eines der ihm zugeschriebenen vier klassischen Bücher, das sog. Buch der Riten, trägt den Titel „Maß und Mitte“. Dort wird ausgeführt: „Der Zustand, da Hoffnung und Zorn, Trauer und Freude sich noch nicht regen, heißt die Mitte. Der Zustand, da sie sich äußern, aber in allem den rechten Rhythmus treffen, heißt Harmonie. Die Mitte ist die große Wurzel aller Wesen auf Erden, die Harmonie ist der zum Ziel führende Weg auf Erden“. „Mitte“ wird hier quasi-kosmologisch aufgeladen: Sie ist der natürliche Urzustand aller lebenden Wesen, die in sich selbst ruhen. Werden sie jedoch aktiv, sollten sie das im harmonischen, „rechten Rhythmus“ tun – nur so wird wieder ein Gleichgewichtszustand hergestellt. Dieses Ideal jedoch ist keinesfalls leicht zu erreichen und genau abzugrenzen von der Mittelmäßigkeit: „Der Edle hält sich an Maß und Mitte, der Gemeine widerstrebt Maß und Mitte. Maß und Mitte des Edlen besteht darin, daß er ein Edler ist und allezeit in der Mitte weilt. Die Mittelmäßigkeit des Gemeinen besteht darin, daß er ein Gemeiner ist und vor nichts zurückscheut. Der Meister sprach: Maß und Mitte sind das Höchste, aber selten sind die Menschen, die lange dabei verweilen können“.
Auch die antike Tugendlehre hatte eine ganz spezifische Verbindung von Maß und Mitte hergestellt, die Aristoteles im Begriff der mesotes zusammenfasst: „Mitte ist sie als zwischen zwei Irrwegen liegend, von denen der eine ein Überschreiten, der andere ein Zurückbleiben hinter dem Maß bedeutet; sie ist es auch dadurch, daß das Verfehlen das eine Mal ein Nichterreichen, das andere Mal ein Hinausgehen über das Pflichtgemäße in Affekten wie in Handlungen bedeutet, die Sittlichkeit aber die rechte Mitte findet und innehält. Ihrem Wesen und Begriffe nach, der das bleibende gestaltende Prinzip bezeichnet, ist also Sittlichkeit das Innehalten der Mitte.“. Die „rechte Mitte“ muss dabei von jedem selbst bestimmt werden – und zwar ohne Rücksicht darauf, dass man geneigt ist, manche Dinge für unbedingt gut und absolut erstrebenswert zu halten: Deshalb gibt es für Aristoteles nicht nur zu wenig pflichtbewusstes Handeln, sondern auch zu viel Pflichtbewusstsein! Wer aber für sich seine persönliche Mitte zwischen zu viel und zu wenig Pflichtbewusstsein gefunden hat und all seine Handlungen danach ausrichtet, hat in diesem „bleibenden gestaltenden Prinzip“ eine feste Basis und einen Maßstab für all sein moralisches Handeln.
Eine weitere antike Formel dafür ist die aurea mediocritas, die „goldene Mitte“. Sie geht auf den römischen Dichter Horaz zurück, der sie in seinen Oden am Beispiel einer Schifffahrt erläutert (einer traditionellen Metapher für das menschliche Leben an sich):
Besser fährst, Licinius, du, wenn nicht stets aufs
hohe Meer du steuerst noch allzu nah zum
tückereichen Ufer dich drängst in banger
Vorsicht vor Stürmen.
Wer die goldne Mitte sich wählt, hält sicher
fern sich von dem Schmutz der verfallnen Hütten,
bleibt auch klüglich ferne dem Prunk des Hofs, der
Neid nur erwecket.
Ein mittlerer nautischer bzw. Lebenskurs also ist nicht nur am sichersten, sondern gewährt die meiste Zufriedenheit; er ist der Schlüssel zur Weisheit. Das schließt im Übrigen durchaus nicht aus, sich gelegentlich aufs „hohe Meer“ zu wagen oder ein wenig am Ufer entlang zu dümpeln: Horaz warnt nur davor, das „stets“ zu tun. Das Leben selbst wird schon dafür sorgen, dass die „goldene Mitte“ nicht allzu langweilig wird, indem es uns wieder aufs hohe Meer hinaustreibt oder an Land zwingt. Aber wir müssen von dahin wieder zurück finden können zur „goldnen Mitte“.
Weitere konkrete Beispiele können vielleicht am besten illustrieren, was es mit der Aristotelischen mesotes und der aurea mediocritas des Horaz auf sich hat. Beginnen wir mit dem von Horaz bereits thematisierten Verhältnis von extremer Armut und extremen Reichtum. Es fällt nicht schwer, das Extrem der negativen Seite zu illustrieren: Arme leben in materieller Not und Entbehrung, werden leichter krank, können am gesellschaftlichen Leben nicht in vollem Umfang teilnehmen, werden auf Dauer verbittert und lebensmüde. Zunehmend deutlich werden mit dem immer stärkeren Auseinanderfallen westlicher Gesellschaften in Superreiche, eine schmaler werdende Mittelschicht und Hartz-IV-Empfänger als Synonyme der Armut aber auch die Gefahren des Reichtums: Sie reichen von unerwünschten Charaktereigenschaften wie Leichtsinn, Überheblichkeit, Übersättigung und Langeweile bis hin zu konkreten Gefahren – Entführung, Erpressung – und der ständigen Sorge um den Erhalt, wenn möglich sogar das Anwachsen des Vermögens, seine geschickte Investition, seine professionelle Verwaltung. Noch stärker kann man hier eine Dialektik des Umschlags der Extreme am Werke sehen: Von den „armen Reichen“ wird nicht nur ironisch gesprochen; dass ein unerwarteter hoher Lottogewinn nicht der reine Segen ist, weiß der allgemeine Menschenverstand seit langem. Hingegen erklärt nicht nur die Bibel völlige (materielle) Armut zum eigentlichen (geistigen) Reichtum, sondern auch asketische Bewegungen tun das seit Jahrhunderten. Die Mitte hingegen wäre als „Wohlstand“ zu beschreiben: eine Lebenssituation mit weitgehender Unabhängigkeit und Freiheit von materiellen Nöten, in dem gleichwohl vernünftig und nachhaltig gewirtschaftet werden muss und ein, wenn auch begrenzter, Gestaltungsspielraum für die eigene Lebensplanung besteht.
Reichtum bzw. Armut kann man aber immerhin noch über Zahlenwerte ermitteln, es geht also um teilweise quantitative Formen der Mitte. Schwieriger wird es bei eher ideellen und abstrakten Werten und Konzepten: Gibt es beispielsweise auch ein Gebot zur Mäßigung bei intellektuellen Leistungen? Sicherlich ist Dummheit ab einem gewissen Maß ein Problem: Der Dumme ist nicht nur in seinen Erkenntnis-, Handlungs- und gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten eingeschränkt, sondern wird leicht manipuliert, verspottet und unterliegt unter Umständen schmerzhaften Irrtümern. Intelligenz hingegen wird ebenfalls nicht nur als Segen empfunden: Im sozialen Umfeld gilt der allzu Kluge als überheblich und naseweis; er selbst verfällt der klassischen Intellektuellenkrankheit, der Melancholie, dem Leiden an der klar erkannten üblen Verfasstheit der Welt und den eigenen äußerst eingeschränkten Handlungsoptionen zu deren Verbesserung. Die darin versteckte Dialektik hat ihren traditionellen Ausdruck im „weisen Narren“ gefunden, der natürlich auch als Umkehrfigur, als „närrischer Weiser“, existiert: Während ersterer keinerlei intellektuelle Glanzleistungen benötigt, sondern gerade aufgrund seiner Naivität und seiner unverstellten Intuition die Welt, so wie sie ist, erkennt, wird letzterer gerade durch die Weltfremdheit seiner Abstraktionen und die unabschließbare Selbstreflexivität allen Denkens an wahrer Erkenntnis gehindert. Ein Vermittlungsprogramm zwischen Dummheit und Klugheit als Extremen wäre die Figur des Sokrates, der eben deshalb der weiseste aller Menschen ist (aber nicht der klügste!), weil er weiß, dass er nichts weiß, und der seine Weisheit im praktischen Leben ausagiert, nicht in philosophischen Systemen.
Wie jedoch ist es zur Herabwürdigung dieses altehrwürdigen, erfahrungsgesättigten und Kulturen übergreifenden Ideals gekommen? Warum ist Mäßigkeit für uns Moderne nur blasse Mittelmäßigkeit und nicht mehr golden glänzende Mitte und Harmonie? Warum können und wollen wir uns nicht mehr mäßigen? Dafür bieten sich zwei Erklärungen an. Zum einen ist die Mäßigkeit das prominenteste Opfer eines sehr grundlegenden Wertewandels im Übergang zur Moderne: Stellt sie doch ganz allgemein und prinzipiell das Mantra des immer schneller, immer höher, immer weiter und immer mehr in Frage. Alle wichtigen Werte der Moderne sind fortschrittsorientiert, auf Wachstum angelegt, auf Überbietung gerichtet; das ist ihr Selbstverständnis, und das unterscheidet sie von den die Tradition höher als die Innovation schätzenden Epochen zuvor. Mäßigung wirkt demgegenüber statisch, fortschrittsfeindlich, konservativ.
Zum zweiten erscheint Mäßigkeit als eine intellektualistische Tugend mit einem anrüchig elitärem Beiklang: Sie gehört nämlich zur Weisheit. Weisheit jedoch ist eine Idealtugend der Wenigen, die nicht einfach angeboren oder angelernt ist, sondern lebenslang geübt werden muss und nur selten im Vollsinn erreicht wird. Sie ist notwendig verbunden mit Selbstdisziplin, mit Distanz zu sich selbst und seinen eigenen Interessen, dann und wann mit Verzicht. Wir hingegen werden von Kind auf eher im Gegenteil geschult: unsere Ansprüche ständig zu erhöhen, nur das Teuerste und Beste zu wollen, das Leben jederzeit in vollen Zügen zu genießen und möglichst wenig über die Konsequenzen nachzudenken! Die immer raffinierter und persönlicher kalkulierte Verführungsmacht von Medien und Werbung tut ein Übriges, uns immer unersättlicher – und gleichzeitig immer unbefriedigter zu machen.
Zur Rettung der Mäßigkeit scheinen also große Geschütze notwendig. Holen wir tief Luft und behaupten, mit vielleicht etwas übermäßigem Pathos: Mäßigkeit ist ein vielversprechender Ansatz zur Lösung so gut wie aller großen Weltprobleme. Als da wären:
Die Welt ist überbevölkert, Hunger und Elend sind keinesfalls besiegt. Es gibt aber auch reiche, übersättigte Nationen, die ihr Geld für sinnentleerten Konsum, eine hochexplosive militärische Hochrüstung und die Rettung von Großbanken verwenden. Es gibt nicht zu wenig Geld auf der Welt, es ist nur zu ungerecht verteilt; und so lange jeder für sich auf sein persönliches Recht zur endlosen Gewinnmaximierung und auf unbegrenztes Wachstum (das in einer nicht unendlichen Welt immer auf Kosten eines anderen gehen muss, will man nicht das Gelddrucken zum Normalfall machen) pocht, wird sich das auch nicht ändern.
Der Weltfrieden ist gerade in letzter Zeit wieder zu einer sehr instabilen Angelegenheit geworden. Auf der einen Seite destabilisiert fundamentalistischer Terror ganze Regionen; auf der anderen Seite kehren die alten Großmächte fröhlich zu ihrem alten Imperialismus und den Eskalations-Mechanismen des kalten Kriegs zurück. Fundamentalismus und Imperialismus sind, so unter-schiedlich sie auch sonst sein mögen, extreme Ideologien. Eine habituelle Haltung der Mäßigkeit als Gegengewicht dazu ist in den meisten Religionen als Pflicht verankert und wäre auch politisch dringend geboten. Gerade Demokratien als institutionalisierte Formen des Interessenausgleichs und des Kompromisses sollten darauf bedacht sein, dass politische Mäßigungsmechanismen auch wirklich greifen können und nicht jederzeit beliebig durch Machtpolitik und verabsolutierte nationale Eigeninteressen übersteuert werden können.
In vielen der wohlhabenden Nationen sind die Menschen trotz allen Wohlstandes und aller persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten nicht zufrieden mit ihrem Leben: Die einen arbeiten viel zu viel und reiben sich dabei auf; die anderen finden keine Arbeit und fühlen sich überflüssig und wertlos. Intakte Beziehungen und Familien bieten nur noch einer Minderheit dauerhaften emotionalen Halt; überzogene Ansprüche an den Lebenspartner, die eigenen Eltern oder Kinder oder die Vereinbarkeit von Karriere und Familie machen eine ausgeglichene Lebensführung unmöglich. „Work-Life-Balance“ ist deshalb zu einem der wenigen modernen Begriffe geworden, die wenigstens eine Ahnung der alten Mäßigkeit vermitteln: Es ist heute ein schwieriger Balance-Akt, die einander widerstrebenden Ansprüche von „Arbeit“ und „Leben“ noch irgendwie zu vereinen, da helfen auch staatliche Subventionen und organisatorische Zwischenlösungen nur begrenzt weiter. Wahrscheinlich wäre es an der Zeit einzusehen, dass die perfekte Karriere (unter den extremen Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaft, sprich: unbegrenzte persönliche Verfügbarkeit, Selbstausbeutung bis zur Selbstzerstörung, maximale Flexibilität räumlicher und zeitlicher Natur, Herausbildung eher menschenunfreundlicher Führungsqualitäten) nicht mit der perfekten Familie (und das heißt nicht: Vollzeitbetreuung von Eltern und Kindern mit Beschränkung auf zwei Stunden quality-time am Wochenende) zu vereinen ist. Wenigstens einer muss sich mäßigen, aber am besten alle.
Das hört sich natürlich alles viel zu einfach an. Die großen Weltprobleme werden bekanntlich nicht durch eine Verschiebung der philosophischen Perspektive gelöst, sondern haben ihren sehr realen Kern. Aber egal, ob nun das Sein das Bewusstsein bestimmt oder umgekehrt (wahrscheinlich jedoch: beides sich gegenseitig), wichtig ist: Beides muss sich ändern. Mäßigkeit ist eine Frage des Bewusstseins, aber sie hat auch sehr reale Aspekte. Die Moderne lebt, das könnte man mit einigem Mut als Wurzel des Übels bezeichnen, exzessiv über ihre Kosten (was im Blick auf unsere Nachkommen gerade ansatzweise erkannt wird). Sie tut so, als wäre alles jedem jederzeit möglich, als müsste man niemals ein Opfer bringen, als seien unsere Kräfte ebenso endlos wie unsere Ressourcen (beide sind es, schmerzlich, nicht), als sei die Haltung: „Ich will alles. Und zwar sofort!“ nicht nur ein Verstoß gegen den Energieerhaltungssatz, sondern sogar eine besondere erstrebenswerte moralische Leistung!
Zwei relativ junge Volksweisheiten bringen das auf den Punkt. Die eine weiß: „There is no such thing as a free lunch“; in der etwas einfacheren, aber nicht ganz so anschaulichen deutschen Form: „Es gibt nichts umsonst”. Wenn wir etwas wollen, bekommen wir es nicht einfach geschenkt; wir müssen nicht nur etwas dafür tun, sondern auch etwas anderes aufgeben, notfalls sogar ein Opfer bringen. Das aber ist ein Mäßigungsgrundsatz: Abzuwägen, welche Ziele einem wichtig sind und welche nicht, und um welchen Preis sie einem wichtig sind und um welchen nicht – und am Ende zu erkennen, dass man eigentlich nichts um jeden Preis erstreben sollte. Mäßigkeit ist insofern auch eine Frage der Zweck-Mittel-Relation; und jeder, der die Formel „um jeden Preis“ zur Begründung seiner Ziele verwendet, sollte mit einer gesunden Portion Misstrauen betrachtet werden.
Die zweite Weisheit ist ebenfalls englischer Herkunft und ebenfalls aus dem Bereich des Essens; sie sagt: „Man kann den Kuchen nicht haben und essen“. Das aber wollen wir, unmäßig wie wir sind, eigentlich immer: eine perfekte Karriere und perfekte Kinder (aber unsere Zeit und unsere Ressourcen sind begrenzt); Wachstum und Gerechtigkeit (aber der Kapitalismus ist nicht auf sozialen Ausgleich angelegt, sondern auf persönliche Gewinnmaximierung); Weltfrieden und kulturelle Diversität (jeder darf etwas anderes denken und glauben, außer es verstößt gegen die neu-heiligen Kühe der Moderne: Demokratie und universale Menschenrechte sofort und um jeden Preis – dann wird er missioniert, ob er will oder nicht, und mit allen Mitteln). „Man kann den Kuchen nicht haben und essen“ – man muss abwägen, was einem mehr wert ist, und das wahrscheinlich angesichts jedes einzelnen Kuchen aufs Neue: Besitz und Genuss schließen sich kategorisch aus, und es hilft auch nichts, wenn man auf sein Recht zur maximalen Befriedigung aller persönlichen Bedürfnisse sofort und gleichzeitig besteht, weil es schließlich ein verfassungsmäßig verbrieftes Grundrecht auf Glück gibt. Entweder haben oder essen (oder, vielleicht, zur Hälfte essen und dem Nachbarn etwas abgeben? Oder, vielleicht, auf Kuchen verzichten und stattdessen Brot für die Welt kaufen, Kuchen ist sowieso ungesund? Oder, vielleicht, heute auf den Kuchen verzichten und dafür am Sonntag einen ganz besonders leckeren kaufen, und für das gesparte Geld et-was anderes, was man gern haben möchte und nicht essen kann, ein Buch vielleicht?)!
Eine solche reflektiert durchgeführte und jeweils situativ angepasste Mäßigung schließt gelegentliche Exzesse durchaus nicht aus; das Argument, dass große Dinge wahrscheinlich wirklich nur mit großem Energieeinsatz erreicht werden können und nicht durch vor sich hin Köcheln auf permanenter Sparflamme, ist letztlich nicht von der Hand zu weisen. Sie haben aber ihren Preis. Daraus kann man entweder den Schluss ziehen, dass die Menschheit Helden immer gebraucht hat und immer brauchen wird: Einzelne, die sich und ihr Leben aufopfern, die Großes erreichen und dafür leiden, verkannt werden, jung sterben. Nach diesem Muster müssen heute beispielsweise die Helden der Pop-Literatur ihr exzessives Leben zwischen sex, drugs and rock’n roll kompensatorisch für die hungrige Masse vorführen, die ihre Träume und Sehnsüchte nach unreguliertem Leben und Genießen auf einige wenige, von den Medien ins Übermenschliche vergrößerte Gestalten projizieren. Für empfindsamere Seelen mag das etwas von öffentlichem Kannibalismus und Menschenopfer haben, aber offensichtlich funktioniert es, wenigstens äußerlich gesehen, einigermaßen nach dem Modell der Triebabfuhr (wie Profifußball).
Man kann aber alternativ auch darüber nachdenken, ob es nicht gelingen kann, gelegentliche Exzesse in verschiedene Richtungen mit einer Rückkehr zur Mitte zu verbinden. Vielleicht macht das gerade das Beispiel an-erkannt großer Künstler deutlich, die durchaus nicht immer nach dem sex and drugs and rock’n roll-Muster verfahren sind (auch wenn das ihre PR-Agenten schon immer gern behauptet haben), sondern sehr diszipliniert und effizient ihr künstlerisches Schaffen reguliert haben (und dabei durchaus alt werden konnten; als Beispiel mag Goethe genügen, der, als er 82jährig verstarb, auf ein unvorstellbar reichhaltiges und vielfältiges Lebenswerk als Autor, Künstler und Naturwissenschaftler zurückschauen konnte und dabei sowohl den Exzess als auch die Entsagung kennengelernt hatte). Vielleicht wird dann deutlich, dass die Mitte letztendlich davon profitiert, wenn sie zwischen verschiedenen, sogar möglichst weit voneinander entfernten Positionen vermittelt. Um im Bild von Horazens Schiffsreise zu bleiben: Erst wer sich ebenso in die Stürme und aufs hohe Meer gewagt wie die sichere Küstennähe gesucht hat, kann die ruhige Fahrt im mittleren Fahrtwasser in all ihren Aspekten schätzen. Die persönliche Mitte gerät dem am überzeugendsten, der wenigstens ein paar Extreme aus eigener Erfahrung kennt; die innere Mitte, die die Religionen suchen, muss nicht blass und lebensfeindlich sein, sondern ist am besten reich gefüllt durch sich gegenseitig balancierende Erfahrungen des Außer-sich-seins. Die Waage des Mäßigenden funktioniert am einfachsten, wenn beide Schalen nur leicht gefüllt sind; das Wiegen selbst aber wird ungleich spannender, wenn die Schalen mit vielen unterschiedlichen Dingen, aber gleichmäßig und ausbalanciert gefüllt werden müssen.
Das ist, wie gesagt, eine langwierige Sache, die viel Übung erfordert, eine gewisse Selbstdisziplin, eine Fähigkeit zur Distanz sich selbst und anderen gegenüber und durchaus dann und wann Entsagung. Die Grundlagen dafür werden wahrscheinlich am besten in der Er-ziehung gelegt; und sie könnten in einer Zeit, die „Disziplin“ eher als pädagogisches Schimpfwort auffasst, nicht schwächer sein (noch einmal ist als Gegenargument anzuführen: Missbrauch entwertet kein Konzept ein- für allemal, auch nicht die Disziplin; alles, und gerade die besten Absichten und Prinzipien, können und sind missbraucht worden, ohne dass wir sie deshalb abschaffen). Ein mögliches Ergebnis einer neuen Erziehung zur Mäßigkeit könnte dabei durchaus nicht nur mehr Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Weisheit sein, sondern auch mehr Schönheit und mehr Zufriedenheit. Denn interessanterweise sind Menschen am produk-tivsten und kreativsten auf einem sogenannten „mittleren Erregungsniveau“ – also nicht in der Ekstase oder im Stress, aber auch nicht in der völligen Entspannung. Am schönsten finden sie meist nicht Supermodels, sondern ein gut proportioniertes Durchschnittsgesicht. Selbst der so oft geschmähte „bürgerliche Mittelstand“ gilt zu Recht in den Kulturwissenschaften als der eigentliche Motor aller (westlichen) Zivilisation, die eben nicht aus den Extremen der Adelsgesellschaft und des Plebs emporwachsen konnte, sondern aus einer sozialen Schicht, die ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft produktiv gestaltete. Und sogar, wenn man abschließend den Blick ins All schweifen lässt, kann man mit etwas Phantasie das Lob der Mitte singen. Das tat nicht nur Konfuzius, sondern auch Johann Gottfried Herder, wenn er in seiner Kulturgeschichte der Menschheit über die Erde sinnierte (und dabei sogar die Mittelmäßigkeit zu ihrem Recht kommen ließ):„Dürfen und sollen wir indes aus unserm Standpunkt zur Sonne, dem Quell alles Lichts und Lebens in unserer Schöpfung, vor- und rückwärts schließen, so ist unsrer Erde das zweideutige goldne Los der Mittelmäßigkeit zuteil worden, die wir wenigstens zu unserm Trost als eine glückliche Mitte träumen mögen“. To be mode¬rate or not to be – es könnte auch eine Frage unseres Überlebens im Kosmos sein.